Die Furcht vor einem Atomkrieg erreicht derzeit Höchststände, wie seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr gesehen wurden. Hamsterkäufe von Notfallvorräten werden unternommen, und die Fensterscheiben wackeln, weil Alarmrotten der Bundeswehr über Wohnvierteln die Schallmauer durchbrechen. Würden sie funktionieren, hätten wir vermutlich auch einen Test der Notfallsirenen gehört. Der illegale Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat, je nach Sichtweise, entweder Illusionen über die Welt zerstört oder eine Zeitenwende der internationalen Beziehungen eingeleitet. Eine ganze Reihe von früheren Wasserträgern Putins sieht inzwischen ziemlich blöd aus - was diese leider nicht davon abhält, weiter Unsinn zu reden -, während sich auf der anderen Seite ein Narrenreigen formiert, der am liebsten sofort auf dem grünen Tisch die Leopard Kampfpanzer auf die ukrainische Steppe befehligen würde.
Der Narrenreigen
Der Journalist Frank Lübberding greift zur Erklärung des Phänomens zum maximal möglichen Vergleich mit der Kubakrise¹. Soweit sind wir glücklicherweise noch nicht, auch wenn das Kennedy-Zitat "keine Regierung und kein Gesellschaftssystem sind so schlecht, dass man den unter ihnen lebenden Menschen jede Tugend absprechen muss“ reichlich zeitgemäß ist. Anders allerdings als in der aufgeheizten Stimmung des Kalten Kriegs, die der Kubakrise vorausging, müssen sich die westlichen Regierungen allerdings an dieser rhetorischen Eskalation, anders als Lübberding insinuiert, keiner Schuld bewusst sein. Nicht sie sind es, die Putin als "Irren" abstempeln oder dazu aufrufen. Stattdessen haben Joe Biden, Emmanuel Macron, Annalena Baerbock² und Olaf Scholz (Pars pro Toto) von Anfang an in ihren Äußerungen sehr, sehr bedacht eine deutliche Grenze zwischen Putin, dem Diktator, und dem russischen Volk, ja, sogar dem russischen Staat ziehen.
Unzweifelhaft aber gibt es genug Leute, die gerade in einer blau-gelben Besoffenheit versinken, in der jegliche Maßstäbe abhanden kommen und die eine durchaus gefährliche Stimmung erzeugen können. Die Politik hält sich glücklicherweise weitgehend zurück; Ausnahmen wären hier so etwas wie die Forderungen zur nuklearen Abschreckung von Ruprecht Polenz, der aber nicht eben zur ersten Reihe aktiver Politiker*innen zählt. In anderen Ländern sind die Leute leider weniger zurückhaltend, ob Analysten oder Republicans wie Lindsay Graham, die schon mal eine Flugverbotszone (!) oder die Ermordung Putins durch die CIA (!!) fordern.
Anders dagegen sieht es leider im rechtsbürgerlichen Medienspektrum aus. Gerade Lübberdings eigener Arbeitgeber, der Springer-Konzern, steht da ganz vorne dabei.
So etwa Matthias Döpfner. Der Konzernchef persönlich fordert in einem BILD-Leitartikel den Einmarsch der NATO in Kiew. Soldaten des Bündnisses sollen die Stadt gegen anrückende russische Truppen verteidigen. Das ist eine Narretei, die ihresgleichen sucht, bei der sogar die NZZ Schnappatmung bekommt. Der Hausberichterstatter von der Front, BILD-Reporter Julian Röpcke, entschuldigt schon mal vorab Kriegsverbrechen: "jeder sollte sich fragen, was er in so einer Situation machen würde". Dieses Imaginieren in die Rolle (natürlich männlicher) Widerstandskämpfer gegen die Horden aus dem Osten ist dabei kein Prärogativ der Springer-Leute, sondern geistert durch die kompletten sozialen Netzwerke. Der falsch verstandene Überschwung reicht auch gerne soweit wie im Falle von Stern-Redakteuren, die zu Straftaten aufrufen, natürlich alles im Geiste der guten Sache. Als wäre digitale Sabotage russischer Server dasselbe wie die Blockade eines Castortransports in Deutschland.
Die Heroisierung des Abwehrkampfs der Ukraine nimmt dabei groteske Formen an. Er wird als klares Statement gegen den Genderstern gesehen (natürlich), als Gegenbild zu einer eingebildeten "Dekadenz" des Westens (dem Lieblingsnarrativ der Rechten mindestens seit Oswald Spengler), als Wiederaneignung einer Männlichkeitsvorstellung, die in westlichen Gesellschaften zurecht im Orkus der Geschichte verschwand. Kommentierende überschlagen sich mit Betonungen darüber, wie "hart" man nun sein müsse, erfreuen sich am Verschwinden von "Illusionen", beschreiben in großem Duktus die "Realitäten" der Welt. Gleichzeitig wird der ukrainische Präsident Selensky als Verteidiger wahlweise der Demokratie, der Freiheit, der westlichen Kultur oder allem zusammen gefeiert, wird noch der letzte mit drei Tagen "Ausbildung" ohne Ausrüstung in den Kampf geworfene neu Wehrpflichtige als Held stilisiert, anstatt dass man auch in diesem Menschen die Opfer eines furchtbaren Verbrechens sieht, die sie sind. Dazu kommt der allgegenwärtige Rassismus und Sexismus gegen Flüchtende.
Aber diese Idiotien, gegen die etwa Carolin Emcke und Hedwig Richter wortgewaltig anschreiben, sind vermutlich mit einer sehr geringen Halbwertszeit ausgestattet und dürften, sobald die erste Welle der Besoffenheit abgeklungen ist, bald vorüber sind. In einem Monat wird sich an diesen Narrenreigen aller Wahrscheinlichkeit nach niemand mehr erinnern. Wesentlich bedenklicher bleiben die Wasserträger Putins, denn sie waren für Jahre, wenn nicht Jahrzehnte willige Helfer des russischen Diktators und sind es in allzuvielen Fällen auch weiterhin. Und da sind wir noch nicht einmal bei dem aktiven Einfluss, den russische Propagandstellen auf den Westen ausübten und ausüben.
Das Büro für kulturelle Angelegenheiten³
Denn der ist massiv und wurde in den letzten Jahren permanent unterschätzt. Die russischen Geheimdienste arbeiteten Hand in Hand mit Hackerzentren, Söldnertruppen und Propagandast*innen. Schon 2014, ein Jahr, bevor Pegida das Wort richtig salonfähig machte, beschimpften Mietmäuler des Kreml die Medien als "Lügenpresse", weil diese es wagten, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim als solche zu kritisieren. Etwas über ein Jahr später waren sie mittendrin, als im Zuge der Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof der große Backlash gegen die "Willkommenskultur" als Hasswelle gegen Geflüchtete über Deutschland hereinbrach. Der "Fall Lisa" sorgte in den sozialen Medien für Furore. Das 11jährige Mädchen, vergewaltigt von barbarischen Muslimen, passte voll in den Zeitgeist. Der Haken war, dass die Geschichte eine Erfindung russischer Propagandisten war, um die deutsche Gesellschaft zu spalten - nicht, dass diese noch großen Anschubs bedurft hätte.
Im selben Jahr verbreiteten die Dienste massive Desinformationen und Hetze in Großbritannien und leisteten ihren Beitrag zum Ausgang des Brexit-Votums. Nur kurz darauf gelang ihnen der größte Coup, als sie den "Freund des Hauses" Donald Trump ins Weiße Haus hieven halfen. 2017 war die Einflussnahme des russischen Geheimdiensts in den Wahlen in Frankreich und Deutschland bereits Wahlkampfthema. Es profitierten Marine Le Pen und die AfD. Beide verloren glücklicherweise.
Doch der Einfluss russischer Geheimdienste wurde, vielleicht auch gerade wegen der Trendwende 2017, weiter unterschätzt. Bei den amerikanischen Wahlen 2020 und den deutschen 2021 war das Thema Covid allgegenwärtig; die Hoffnung auf eine Erneuerung des identitätspolitischen Kulturkampfs von 2016 erfüllte sich nicht. Doch auch so hatte die russische Einflussnahme neue Tiefen erreicht: während der Pandemie streuten die russischen Stellen, von plumper Propaganda über den Wunderimpfstoff Sputnik V abgesehen, Desinformation in gewaltigem Maßstab. Niemand dürfte als einzelner Akteur so viel Einfluss auf die Entstehung des Querdenker-Milieus gehabt haben wie Russland, das von Lügen über die Gefährlichkeit von Masken zu Warnungen vor den Impfungen von Biontech, AstraZeneca und Johnson alles im Programm hatte. Das Netz der Lügen, das sich während der Covid-Krise über die westlichen Länder spannte, ist gigantisch.
Es brauchte wohl den Angriff auf die Ukraine, um dieses Problem endlich ins Zentraum zu rücken. Aber leider ist der russische Geheimdienst gar nicht notwendig, um im Westen Putins Positionen zu vertreten. Der Mann kann sich auf eine ganze Reihe von Wasserträgern stützen, die sein Geschäft auch ohne hilfreiches kompromat4 erledigen.
Die linkshändigen Wasserträger
Seit 1917 eine verlässliche Quelle solcher Schützenhilfe ist die radikale Linke, die in Russland stets die missverstandene Alternative zu erkennen glaubte, und wenn auch noch so viele Eier für das sozialistische Omlett zerschlagen werden mussten. Nicht dass Putins Regime irgendetwas mit linken Idealen zu tun hätte; hier regiert einerseits eine Nostalgie nach den politischen Frontlinien des Kalten Krieges und, vor allem, ein solides "der Feind meines Feindes ist mein Freund"-Denken. Und das war noch immer der zuverlässigste Schalter für das Verhindern jeglichen kritischen Denkens.
Der Feind steht für die Linke seit langer Zeit jenseits des Atlantiks. Als ein Mutterland des Kapitalismus und des Liberalismus einerseits und als Gegner der Sowjetunion andererseits waren die USA stets eine willkommene Projektionsfläche mit großem Andockpotenzial an den ohnehin stets vorhandenen, mindestens latenten, oft genug virulenten Anti-Amerikanismus der Deutschen. Diese Tradition, die sich wenig um irgendwelche Theorie scherte, half der LINKEn lange Zeit zu ihrer Ausnahmestellung in Ostdeutschland. 25 Jahre lang pflegte sie Ressentiments, die dabei im Kern nie so progressiv waren, wie sich manche wohl eingebildet hatten. Der Kater nach dem massenhaften Überlaufen der stets Unzufriedenen ins Lager der AfD lässt sich jedenfalls kaum anders als durch das Platzen dieser Illusion erklären.
Man sollte nicht glauben, dieses Phänomen sei nur auf die LINKE beschränkt. Die trieb ihr Kalter-Krieg-Reenactment zwar in ihrer Pflege des ostdeutschen Ressentiments und westdeutscher K-Gruppen-Nostalgie auf die Spitze, aber auch in der SPD findet sich genug von diesem Blödsinn, vor allem in einem geradezu grotesken Missverständnis der Ostpolitik. Case in point: Der ehemalige SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck schrieb jüngst ein Buch "Wir brauchen eine neue Ostpolitik" mit dem Untertitel "Russland als Partner". Mit vulgärpazifistischen Parolen schoss den Vogel erwartungsgemäß der nie um einen rhetorischen Fehlgriff verlegene Ralf Stegner ab:
Militärische Auseinandersetzungen haben nur zivile Opfer und nur einen Gewinner - die Rüstungsindustrie (bei Rheinmetall ist der Börsenkurs um 40% gestiegen in wenigen Tagen!).
— Ralf Stegner (@Ralf_Stegner) March 3, 2022
Nicht nur, dass Kriege durchaus auch militärische Opfer haben, gräbt Stegner auch noch das ausgelutschte Narrativ aus, dass (natürlich) der Kapitalismus irgendwie Schuld ist. Vermutlich hat Lockheed Martin irgendwie Putin zu diesem Angriff bewegt, man weiß es nicht. Eine unrühmliche Rolle spielt auch mein persönliches idiosynkratisches Konstrukt, Die PARTEI. Ich lehne diesen Haufen mit jeder Faser ab, und dass unter den 637 Abgeordneten im Europäischen Parlament, die den Angriff auf die Ukraine verurteilten, nicht Martin Sonneborn zu finden war, ist nur die letzte unter den permanenten intellektuellen Bankrotterklärungen dieses Haufens.
Doch dieser Anti-Amerikanismus und die Aufgeschlossenheit gegenüber Russland findet sich nicht nur in der politisch organisierten LINKEn, sondern auch in den freundlich verbundenen Medienformaten. Ob Monitor oder Thilo Jung - der hatte im Rahmen des "kritischen" Denkens auch den einen oder anderen Nebelkerzenwerfer bei sich sitzen -, ob "Neues aus der Anstalt" oder die NachDenkSeiten, "kritisch" war man zwar gerne gegenüber den USA (und, es sei fairerweise gesagt, oft genug ja auch zurecht), aber nicht, wenn es um Russland ging. Da war man stets verständnisvoll.
Auch im Ausland finden sich diese Mechaniken. Ob Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich, der gnädigerweise mittlerweile nicht mehr Labour anführt, oder Jill Stein in den USA, die zum Glück weiterhin politisch keine Rolle spielt, die radikale Linke findet sich treu an Putins Seite. Dasselbe gilt, genauso wie in Deutschland, für allzu viele sich kritisch gebende "Journalisten" und Comedians. Da wäre natürlich Glenn fucking Greenwald, der gegenüber Putin mittlerweile offiziell weniger kritisch ist als die Taliban, oder der stets abstoßende Bill Maher.
Aber das ist alles ist nichts Neues; wie gesagt, solche Neigungen verspürt die radikale Linke seit 1917. Viel schwieriger zu erklären ist die Affäre der politischen Rechten mit Russland.
Die rechtshändigen Wasserträger
Während des gesamten Kalten Kriegs war für die politische Rechte, von ihren demokratischen Vertretern in CDU und FDP bis zu den extremistischsten Ausläufern der NPD, eine Sache klar: der Feind stand östlich des Eisernen Vorhangs, und man musste ihm mit unerbittlicher Härte begegnen. Der Vorwurf, zu nachgiebig gegenüber Russland zu sein, war dieseits wie jenseits des Atlantiks seit 1919 ein Dauerbrenner. Was hat sich geändert, dass plötzlich beide radikale Enden des Spektrums ihre Freundschaft zum Kreml entdecken?
Ein Teil der Antwort ist auch hier Anti-Amerikanismus. Dieser ist genauso auf der Rechten vertreten wie auf der Linken; er hat auf der (deutschen) Rechten sogar eine längere Traditionslinie als in der Linken. Der Kalte Krieg überdeckte diese Antipathie nur mit einem Zweckbündnis gegen den "gottlosen Kommunismus", aber er machte die Rechten nicht zu liberaleren Freiheitsfreunden als vor 1945. Die Abneigung gegen die Sowjetunion speiste sich aus derselben Quelle wie die Sympathie der Linken: sie war anti-klerikal, sie war anti-kapitalistisch, sie war anti-liberal, sie war anti-westlich. Für das ganze Spektrum gab es in diesem Fundus genügend zu finden.
Die zugrundeliegende Logik des Wandels im Russlandbild seit 1991, vor allem aber seit den späten 2000er Jahren, ist dieselbe wie auch bei der Linken: der Feind meines Feindes ist mein Freund. In dem Maße, in dem die politische Rechte ihre kulturelle Vorherrschaft schwinden sah, betrachtete sie Russland mit immer verklärterem Blick. Hier war ein Land, in dem Homosexualität offen verurteilt, ja kriminalisiert wurde, ein Land, das sich dem klassischen Ideal von hart arbeitenden, männlichen Männern und sanft-weiblichen, Kinder erziehenden und Haushalt schmeißenden Frauen verschrieb (das natürlich in der Realität genauso wenig existierte wie in der mythischen Vergangenheit, auf den sich die Konservativen so gerne beziehen). Hier war ein Land, das sich ostentativ christlich gab, in dem der Staatschef keinen Hehl daraus machte, fremde Einflüsse abzulehnen.
Entlang dieser Linien können wir auch die Unterstützung bestimmter Kreise nachvollziehen. Das gesamte evangelikale Spektrum etwa, das im Kalten Krieg zu den fanatischsten Gegnern der Sowjetunion gehört hatte, unterstützt jetzt genauso fanatisch Putin. Es gibt zwar nur sehr wenig Evangelikale in Deutschland, aber die sind voll dabei. Auch radikale Katholiken stehen nicht hinten an; der Vatikan etwa war voll des Lobes für den "praktizierenden Christen" Putin, und die katholische Tagespost befand schon 2014, dass Putin als Verfechter der traditionellen Familie ein wertvoller Verbündeter gegen westliche Werte sei.
Neben der LINKEn findet sich keine so putintreue Partei in Deutschland wie die AfD; seit den jüngsten Vorkommnissen haben die Rechtsextremen die LINKE sogar deutlich überholt. Während die LINKE sich (natürlich) in der Frage spaltet, wie damit umzugehen sei, ist für die AfD klar, dass Putin hier gegen westliche Aggression vorgeht. Der Grund dafür liegt recht prosaisch in der Wählendenschaft:
Man muss ja mittlerweile echt sagen, dass die AfD-Anhängerschaft ein völlig eigenes Biotop darstellt, losgelöst vom gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Hier die Zahlen zum Parteivergleich aus dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend (28.2.-2.3.). #PutinsWar pic.twitter.com/9sw5xwBlb8
— Fabio Scharfenberg 💉💉💉 (@Enigma424) March 3, 2022
Die AfD rekrutiert ihre Wählenden aus einem völlig anderen Pool als die anderen fünf Parteien. Diese Leute bilden ein eigenes, ausgeklinktes Milieu, das für die Wahrnehmung der Welt der anderen 90% überhaupt nicht mehr zugänglich ist.
Auch in der demokratischen Politik findet sich dieses merkwürdige Putinverständnis, wenngleich glücklicherweise in wesentlich abgeschwächterer Form als bei diesen Extremisten. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer, sowohl während der Corona-Pandemie als auch in der gesamten Ukrainekrise stets ein zuverlässiger Bothsider nach Russland, fordert "Maß und Mitte" bei den Sanktionen. Er bildet gerade ein neues Hufeisen mit Sahra Wagneknecht. Aber die fühlt sich auch wortgleich mit Max Otte wohl. Auch Laschet fiel im Wahlkampf mit russlandpolitischen Positionen auf, gegenüber denen die Grünen (!) wie Falken aus dem Kalten Krieg aussahen. Hubert Aiwanger und Wolfgang Kubicki waren 2014 auch sehr verständnisbereit.
Die merkwürdigen Allianzen dieser Haltung umfassen auch Alice Schwarzer, die in den vergangenen Jahren bei allen Streitfragen zuverlässig nach Rechts rückte, ob es um Geflüchtete, Transmenschen oder die Ukraine geht. Und dann haben wir natürlich die Querdenker. Wie bereits seit 2020 offensichtlich haben diese nicht nur eine gewaltigen Schnittmenge mit dem Rechtsextremismus, sondern auch mit Putin. Das kann nicht verwundern. Wer der Überzeugung ist, dass die ARD einer Weltverschwörung zur Verbreitung tödlicher Impfstoffe angehört, wird auch der Berichterstattung über die Ukraine nicht glauben, und wer seine Nachrichten in der Pandemie aus Kreml-Propaganda bezog, wird damit nicht im Krieg aufhören. Vielleicht sorgt diese Situation aber wenigstens dafür, dass dieses Milieu endlich als das gesehen wird, was es ist.
Der Blick über die Grenze
Natürlich sind das alles keine rein deutschen Phänomen. In Italien etwa kuschelte Berlusconi stets mit Putin, und Salvini ist noch wesentlich offener in seiner Liebe für Putin. Auch der ungarische Autokrat Victor Orban ist ein Bewunderer des russischen Diktators und versucht, sein Land nach dessen Vorbild auszurichten. Marine Le Pen versucht gerade, die Verbreitung eines bereits gedruckten pro-russischen Pamphlets zu verhindern, das angesichts der Ukrainekrise nicht mehr komplett dem Zeitgeist entspricht, um es milde auszudrücken. Boris Johnson ist ebenfalls nicht gerade scheu gewesen, wenn es um die Beschwichtigung Putins ging, und man spricht nicht umsonst von Londongrad, wenn es um die englische Finanzindustrie geht, die reichlich tonedeaf auch mit dem Volumen des russischen Geldes angibt, das in der Stadt umgesetzt wird.
Am auffälligsten aber ist die Putinfreundschaft der Rechten in den USA. Dieser Umschwung kam quasi über Nacht. Noch 2012 versuchte Mitt Romney, gegen Obama Punkte im Wahlkampf zu machen, indem er diesem vorwarf, zu nachgiebig gegenüber Russland zu sein. Doch 2016 kam der Putin-Aktivposten Donald Trump an die Macht. Die republikanische Partei legte einen Richtungswandel wenn nicht von 180°, dann so doch zumindest eines deutlich stumpfen Winkels hin. Wer so möchte, kann zumindest für Trumps Freundschaft zum Kreml-Herrscher genügend Verschwörungstheorien finden, von Verbindungen zur Russen-Mafia über Pissvideos hin zu Immobiliendeals in Moskau, einer verheimlichten Insolvenz Trumps und dem Aufkauf seiner Schulden. So wie ich den orangenen Paten kenne, ist davon auch ein guter Teil wahr.
Aber es ist nicht notwendig, sich Gedanken über Putins Trump-kompromat zu machen. Putin mag das Ekel aus der 5th Avenue in der Tasche haben, aber sicherlich nicht alle evangelikalen oder republikanischen Leitfiguren. Die brauchen unabhängig von Trump Gründe für ihre Putinbegeisterung. Und Gründe gibt es genug.
Tucker Carlson, der Julius Streicher von FOX News, fragte 2019, wie man nicht Russlands Seite einnehmen könne. Schließlich kämpfe Putin den guten Kampf gegen Wokeness. Eine weitere Begründung? Putin habe ihn nie einen Rassisten genannt. Der Feind meines Feindes, er ist mein Freund. Im Delirium des Kulturkampfs pusht Carlson auch noch den größten Blödsinn, etwa die Verschwörungstheorie, dass die Biden-Regierung den Konflikt anheize, um erneuerbare Energien zu fördern. Kein Wunder, dass FOX News regelmäßig in den russischen Staatsmedien zitiert wird.
Viele republikanische Politiker*innen blasen in dasselbe Horn. Da wäre Senatskandidatin Lauren Witzke aus Delaware, die erklärt, dass sie "mehr mit Putins christlichen Werten verbinde als mit Joe Biden". Da wäre Monica Crowly, die in der republikanischen Prawda erklärt, dass Russland "gecancelt"5 werde. Douglas MacGregor, der stellvertretende Verteidigungsminister unter Trump, erklärte, dass die russischen Truppen "zu sanft" seien und er "nichts Heroisches in Selensky erkennen" könne. Die Arizona-Senatorin Wendy Rogers verkündete auf einer Veranstaltung von Neo-Nazis, dass Selensky "eine Marionette von George Soros und den Globalisten" sei, also: dem internationalen Judentum. Die Liste geht schier endlos weiter.
Der evangelikale Prediger Pat Robertson erklärt indessen, Gott habe Putin befohlen, die Ukraine anzugreifen. Wo früher Gottes Wille noch GIs in den Irak sandte, schickt er jetzt Speznaz nach Kiew. The lord works in mysterious ways. Da wird auch die Grenze zum Landesverrat fließend. So liegt ein Zerstörer seit Wochen untätig im Hafen, weil die Navy dem Kapitän nicht traut (!) und ein von Präsident Bush ernannter Richter6 die Abberufung des Kapitäns verhindert. All das passiert natürlich im Sinne des größeren Ganzen:
The Biden Democrats say we have to choose. Either we are for them or we are against them. Okay, then, we are AGAINST. Moreover, I’ll go further and say they pose a far greater threat to our freedom and safety than #Putin. He’s the lesser evil. They are the greater one #Ukraine
— Dinesh D'Souza (@DineshDSouza) February 24, 2022
Ich will nicht mit zu breitem Pinsel malen. Wie Kaleigh Rogers für 538 hilfreich herausgearbeitet ist, "the GOP Is Still Largely Skeptical Of Putin — For Now". Aber Rogers erklärt im Artikel selbst, dass die unermüdliche Propaganda durch FOX News und das Vorbild der GOP-Politiker*innen vermutlich bald einen Wandel mit sich bringen wird. Das war schließlich auch die letzten Male so.
Ausblick
Ich weiß nicht, inwiefern der Ukrainekrieg diese Haltungen durcheinanderwirbeln wird. Für den Moment haben Selensky und die Seinen den Kampf um die stets flüchtige Meinungshoheit gewonnen, und in Frankreich geben die Wählenden den Ukrainekrieg als zweitwichtigstes Thema an. Ob das so bleibt, und ob Konsequenzen daraus folgen, bleibt abzuwarten. Ich sehe keine Bewegung bei AfD und Republicans; deren Wählende sind zu sehr abgeschottet und isoliert, als dass sie sich von "öffentlicher Meinung" noch beeindrucken ließen. Wie die Menschen in Russland selbst sind sie in einem Propagandanetzwerk gefangen, in das von außen nichts hineindringt.
Etwas gefährlicher ist die Lage für die LINKE, die den Einzug in den Bundestag nur dank der Direktmandate im Osten schaffte. Bleibt sie in der Frage zu Russland weiter zerrissen, gibt sie gar die traditionelle Feindschaft zur NATO auf (wie ein Antrag von Susanne Hennig-Wellsof fordert), so mag durchaus ihr parlamentarisches Aus im Bundestag drohen. Jetzt rächt sich, dass dieses Verhältnis drei Dekaden lang nicht geklärt wurde, dass man sich hinter Nostalgie und Parolen versteckte und den nötigen Konflikt mit der Realität scheute. Mit der AfD ist eine wesentlich zur Schaffung einer eigenen Realität entschlossenere - und fähigere - Partei aufgetreten. Nicht auszudenken, wäre diese Partei gerade an der Bundesregierung beteiligt.
Indessen müssen wir demokratisch gesinnten Menschen aufpassen, nicht der Propaganda der Feinde der Freiheit zu verfallen, aber im Gegenzug auch nicht in einen kollektiven Rausch verfallen. Die Situation der Ukraine ist katastrophal, und sie hat weiterhin - oder sogar noch mehr - das Potenzial, zu eskalieren und uns alle zu bedrohen. Wir müssen entsprechend umsichtig sein. Unser Glück ist, dass der Westen von Joe Biden, Olaf Scholz und Emanuel Macron regiert wird - und nicht von Donald Trump, Armin Laschet oder Marine Le Pen.
¹ Lübberding idealisiert die Ära des Kalten Krieges in seinem Artikel auch viel zu sehr, aber solche Übertreibungen sind das stilistische Vorrecht des Jounalismus.
² An der Stelle noch ein Shout-Out für Annalena Baerbock. Sie besteht gerade als Außenministerin eine ungeheure Feuerprobe mit Bravour und beweist sich als herausragende Besetzung für das Amt. Für mich echt die größte Überraschung des Kabinetts.
³ Wer seine Kalter-Krieg-Referenzen nicht beisammen hat: der KGB bezeichnete sich in Botschaften als "Büro für kulturelle Angelegenheiten".
4 Russischer Begriff für belastendes Material, mit dem der KGB Leute erpresste.
5 Was im Übrigen auch wieder schön zeigt, wie sinnentleert dieser Begriff ist. Es ist eine reine Kampfvokabel ohne jeden Inhalt.
6 Bush Senior, wohlgemerkt. Der Mann ist seit 1991 im Amt; diese lebenslangen politischen Ernennungen sind einfach nur lächerlich. Und dieser Präsident wird mittlerweile von der GOP als Verräter gesehen! Man bekommt Albträume wenn man sich vorstellt, was die nächsten Jahrzehnte (!) mit den von Trump ernannten Richter*innen abgehen wird.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: