„Grand Tour“, so nannte man in der aristokratischen Kultur die Bildungsreise eines jungen Adeligen, die zu absolvieren war bevor man in die Welt des erwachsenen Lebens eintrat. Diese Reise beinhaltete zahlreiche Aspekte. Angefangen mit der Erweiterung des Horizonts, dem Kontakt mit anderen Ländern und Sitten, anderen Sprachen und Kulturen, über das Erlebnis und die Erfahrung von Schönheit in Natur und Kultur, bis hin zu Unterhaltungen und Vergnügungen verschiedenster Art.
Der tiefere Sinn und Zweck war der einer Persönlichkeitsbildung, einem Sich-der-Welt-Aussetzen in seinen unendlichen Facetten, einer Entwicklung und Formung des Charakters durch Konfrontation mit dem Neuen und Unbekannten. Schon Shakespeares frühe Stücke, die in Frankreich, Spanien und Italien spielen, sind von Elementen einer solchen Reise durchdrungen. Später war es vor allem Lord Byron, der die „Grand Tour“, mit neuem idealistischen Geist infundiert, erneut zum großen Selbsterfahrungserlebnis machte.
Für andere prominente „Touristen“ wie Michel de Montaigne und Wolfgang von Goethe war die Reise mit dem Ausbrechen aus einer Lebenskrise, einer Reevaluierung des eigenen Daseins verbunden. Auch in diesen Fällen ging es darum, durch neue Erfahrungen jenseits des eigenen Lebenskosmos eine neue Perspektive auf die eigene Existenz zu erlangen.
Ende des 19. Jahrhunderts begab sich auch ein junger Mann auf die Reise. Eine Reise, von der er im Grunde nie zurückkehren würde, die vielmehr zu seinem Lebensinhalt und seiner persönlichen Pilgerfahrt wurde. Dieser junge Mann hieß Rainer Maria Rilke.
Aristokratie
Dass Rilke sich in seinen "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" als junger Aristokrat portraitiert, ist in diesem Kontext denn auch kaum überraschend. Das bürgerliche 19. Jahrhundert war immer noch stark von aristokratischen Idealen und Ritualen durchdrungen, und gerade Rilkes Eltern hingen in ihren, letztendlich gescheiterten, Lebensentwürfen solchen idealisierten aristokratischen Vorstellungen an, mit der Offizierslaufbahn und der Dame von Welt wie sie Leo Tolstoi in „Krieg und Frieden“ in überlebensgroßen Farben geschildert hatte. Die Eltern projizierten diese Vorstellungen auch auf ihren einzigen Sohn, der auf eine Militärschule geschickt wurde doch unter dem Drill und Druck zerbrach und wie eine Gazelle das Weite suchte.
Gleichwohl durchdrangen diese aristokratischen Paradigmen letztendlich Rilkes eigene Lebensentwürfe vollkommen. Nicht nur scheiterten alle Versuche sich in bürgerliche Lebensmodelle einzufügen, wie die Worpsweder Künstler-Boheme-Ehe mit Clara Westhoff. Rilke entwickelte eine regelrechte Phobie gegenüber allem, was den Anschein von bürgerlicher Gemütlichkeit und prosaischem Pragmatismus hatte.
Das apollinische Motto „Du mußt dein Leben ändern“ hat bei Rilke denn auch nichts mit kantianisch bürgerlichem Idealismus oder christlicher Umkehr zu tun. Vielmehr geht es um einen ästhetisch-metaphysischen Akt der Selbstformung. Statt als Krieger zum Kampf gedrillt zu werden, wollte Rilke sich selbst als Künstler zu einem Heros der Kunst hämmern: „Ich bin ein Eisen und werde bald glühen“, gleich dem Torso Apolls.
Nicht zuletzt ist auch die Dichtung selbst die aristokratische Kunst eben in diesem Prinzip der selbstauferlegten Formung und beständigen Verdichtung und Konzentration. Vom Stundenbuch über die Neuen Gedichte bis hin zu den späten Elegien und Sonetten lässt sich denn auch rein ästhetisch jene Entwicklung hin zu immer schärferer und distinkter Kontur ablesen. Die Gedichte werden nicht runder und perfekter sondern immer rauer und individueller.
Leo Tolstoi und Auguste Rodin
Auf merkwürdige Weise war Rilkes große Reise eingebettet in die geopolitischen Spannungsfelder seiner Epoche, die dann im Ersten Weltkrieg kulminieren würden. Personifiziert durch zwei überlebensgroße Figuren, die auf völlig unterschiedliche Weise die Hämmer bildeten, die Rilkes junge Jahre geprägt hatten.
Zweimal besuchte er in Russland den greisen Leo Tolstoi, der als mythische Gestalt auf ganz Europa ausstrahlte, und dessen später moralischer Radikalismus in seiner tiefen Widersprüchlichkeit nicht ohne Folgen für die russische Revolution und den aufkommenden Sowjetkommunismus blieb. Den Gegenentwurf bildete in Frankreich die Begegnung mit dem Bildhauer Auguste Rodin, dem Rilke kurzzeitig als Sekretär diente, und dessen virtuoses Handwerk und idiosynkratrische Ästhetik große Faszination auf ihn ausübte.
Beide waren tyrannische Gestalten, wenn auch auf völlig gegensätzliche Weise. Während Tolstoi als strenger Prediger über Jasnaja Poljana herrschte, hauste Rodin in seinem Anwesen bei Meudon wie ein byzantinischer König mit seinem Harem. Doch am Ende waren weder Tolstois christlicher Moralismus noch Rodins dekadenter Hedonismus eigentlich Rilkes Sache. Was ihn mächtig an diesen Gestalten anzog, war vielmehr der hypnotische Magnetismus, der von ihnen ausging. Der starre Blick des Panthers, zentriert durch einen großen Willen. Dass Rilke später auch von Benito Mussolini fasziniert war, ist vor allem in diesem Kontext zu sehen.
Lou Andreas-Salomé und Clara Westhoff
Neben dem heißen Amboss der Maskulinität suchte Rilke immer wieder Abkühlung in der weiblichen Geborgenheit. Und Lou Andreas-Salomé und Clara Westhoff waren für Rilkes Entwicklung von mindestens genauso großer Bedeutung. Beide, von ähnlichem streng Artemis-haften Charakter, justierten und erdeten Rilkes, beständig von innerer Haltlosigkeit bedrohten, Charakter.
Vor allem die ungemein kluge Lou Andreas-Salomé, die auch für Friedrich Nietzsche die einzige Person war, mit der er auf intellektueller Augenhöhe kommunizierte, hatte großen Anteil an Rilkes geistiger Reifung und Fokussierung. Auch in den späteren Jahren waren es vor allem die weiblichen Figuren, reiche Mäzeninnen wie Marie von Thurn und Taxis, die Rilke wie einen apollinischen Prinzen in ihren Schlössern beherbergten, die Rilke einen mütterlichen Kokon boten, in dem er zu jener schillernden Künstlerkreatur heranreifen konnte.
Krieg und Sterben
Der Erste Weltkrieg bildete für Rilke historisch mythisch den Endpunkt seiner Reise. War auch für den anderen Jubilar dieses Jahres Thomas Mann, ein halbes Jahr vor Rilke geboren, der Erste Weltkrieg ein einschneidendes Ereignis, das eine tiefe Wunde geschlagen hatte und seine Produktion in ein „vorher“ und „nachher“ teilte, scheint Rilke durch den Krieg erst vollkommen zu sich selbst gekommen sein.
In den Kataklysmen dieses Krieges erfüllte sich das Schicksal der Zeitläufe, in dem nicht nur das bürgerliche 19. Jahrhundert unterging sondern auch jene überständigen aristokratischen Elemente endgültig purgiert wurden. All die Kaiser, Zaren und Könige dankten ab oder wurden von den Furien der Revolution ausgetilgt.
Von den konkreten Ereignissen eher taumelnd verwirrt, kam es nach dem Krieg zu Rilkes künstlerisch-kosmischen Konjunktion in jenem Jahr 1922, als er wie im Rausch seine „Duineser Elegien“ und „Die Sonette an Orpheus“ vollendete, die als Trauergedichte den Abgesang dieser Epoche bildeten.
Schon früh hatte sich bei Rilke diese Obsession mit dem Sterben gezeigt. Bereits im „Malte Laurids Brigge“ ist beständig vom Sterben die Rede, von den Hospitälern bis hin zur Kammer des sterbenden Königs. Sein zu seiner Zeit populärstes Werk „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ handelt vom heroischen Opfertod, und selbst die Liebesgedichte sind von nekrophilen Elementen durchdrungen: „Wie das Sterben will ich dich durchdringen / und dich weitergeben wie das Grab“.
Gerade in den „Sonetten an Orpheus“ schließt sich ein Kreis hin zu den antiken Mythen zur Entstehung der Kunst aus der Schreckenserfahrung des Todes, und im Rückgriff auf die Dichtung Dantes, Petrarcas und Shakespeares. Und jene Engel, die durch die „Duineser Elegien“ geistern, sind ähnlich wie bei Nietzsche vom christlichen ins antik mythische umgepolte Gestalten, die zu Boten des Sterbens und der schrecklichen Transformation in ein neues Dasein mutiert sind.
