Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) Schule der Zukunft: Weg vom Prinzip der Auslese! Bildungsexperten empfehlen radikalen Kurswechsel in der Bildung

Eine von der Bertelsmann-Stiftung initiierte Expert*innengruppe hat in einem Empfehlungspapier grundlegende Veränderungen für das deutsche Schulsystem gefordert. Im Mittelpunkt steht ein Paradigmenwechsel weg vom Prinzip der Selektion hin zu einer individualisierten, kooperativen und kompetenzorientierten Lernkultur. Die Schule solle stärker auf individuelle Lernprozesse, Selbstregulation, Medienkompetenz und demokratische Bildung ausgerichtet sein. Lehrkräfte sollen künftig nicht mehr primär Wissen vermitteln, sondern Lernwege begleiten und kontinuierlich diagnostizieren. Prüfungen sollen „nicht mehr primär selektieren, sondern das Lernen begleiten“. Ziel sei es, Lernfortschritte zu dokumentieren, statt Defizite zu betonen. Dabei werde empfohlen, alternative Prüfungsformen wie kooperative Leistungen oder individuell bezogene Bewertungskriterien zuzulassen. Zudem wird eine stärkere Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen gefordert – etwa mit Sozialarbeit oder Lerntherapie –, um eine multiperspektivische Unterstützung der Schülerinnen zu gewährleisten. Auch die frühe Förderung im Vorschulbereich solle stärker verzahnt werden. Die Autorinnen betonen abschließend die Dringlichkeit mutiger Reformen, um Kinder und Jugendliche auf eine ungewisse Zukunft vorzubereiten. (News4Teachers)

Das ist auch eine Expert*innenempfehlung, die wie ein Evergreen alle Tage wieder kommt. Wir wissen längst, dass wir das tun müssten, aber die ganze Struktur des Bildungssystems arbeitet massiv dagegen. Man müsste das System grundlegend reformieren, was an sich schon schwierig genug ist (im laufenden Betrieb, dazu der massive Fortbildungsbedarf, etc.), aber das betrifft ja auch die Infrastruktur. In solchen Studien taucht dann immer der Begriff "alternativer Raumnutzung" oder etwas Vergleichbares auf, aber diese Räume existieren ja gar nicht. Die Gebäudesubstanz von Schulen bestimmt die Struktur von Unterricht, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wenn ich nur diese Räume habe, in die jeweils eine Klasse passt, und sonst nichts, dann kann ich keine alternativen Nutzungen durchführen. Dann gibt es keine Arbeitsorte außerhalb. Und so weiter. Das heißt alles nichts, dass diese Vorschläge nicht grundsätzlich korrekt wären, aber wenn man mir sagen würde "so, Herr Sasse, jetzt machen Sie das mal", würden mir einerseits die Kompetenzen dafür fehlen, weil ich gar nicht weiß, wie ich das in der Praxis machen würde, und andererseits die räumlichen Gegebenheiten.

2) Wie umgehen mit der Gefahr von rechts?

In dem Artikel thematisiert der SPIEGEL-Chefredakteur die Herausforderungen, vor die die AfD den politischen Journalismus stellt. Es wird betont, dass innerhalb der Redaktion kein einheitlicher Umgang mit der Partei besteht, jedoch Einigkeit darüber herrsche, dass eine Machtübernahme durch die AfD „alles schlechter“ machen würde. Die Partei werde als Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesehen. Beschrieben werden mehrere Dilemmata: Einerseits müsse Kritik an der Regierung weiterhin möglich sein, ohne der AfD indirekt Vorschub zu leisten. Andererseits dürfe journalistische Berichterstattung Probleme wie Migration nicht ignorieren, obwohl diese von der AfD gezielt emotionalisiert würden. Ein weiteres Dilemma ergebe sich aus dem möglichen Verbot der AfD, das rechtlich möglich, aber politisch riskant sei. Die Redaktion bemühe sich, trotz Anfeindungen, weiter faktenbasiert zu berichten. Dabei solle die AfD kritisch beobachtet, aber nicht systematisch bekämpft werden – dies sei Aufgabe der politischen Akteure. Der Journalismus verstehe sich als „Aufklärung, nicht Kampf“. Ziel sei es, die Ursachen für den Wahlerfolg der AfD zu ergründen, ohne deren Positionen zu verharmlosen. (Dirk Kubjuweit, Spiegel)

Ich finde es schön, dass der Spiegel-Chefredakteur sich hier so klar und nachvollziehbar positioniert und die interne Logik und Dilemmata aufzeigt, denen die Redaktion unterliegt. Ich kann das auch total nachvollziehen. Insgesamt aber sagt Kubjuweit ja vor allem, dass die Situation eine unmögliche ist. Auf der einen Seite ist eine liberale Presse eine, die zwangsläufig von der AfD bedroht sein muss. Auf der anderen Seite kann eine Presse aber generell nicht Themen selektiv ausblenden, um ein politisches Ziel zu verfolgen. Natürlich passiert das immer; die Themenvielfalt hat überall Grenzen, ob beim Spiegel, der Welt, der taz, NIUS oder der jungenWelt. Medien haben eine bestimmte Ausrichtung und dürfen und sollen das auch haben, und eine Festlegung wie sie Kubjuweit hier vornimmt, ist im Interesse der Transparenz in meinen Augen durchaus sinnvoll.

3) Dringend gesucht: Die „freiheitliche Kampfeinheit“

In dem Kommentar fordert Till-Reimer Stoldt, die FDP solle sich als konsequente Verteidigerin liberaler Werte profilieren – gerade dort, wo andere Parteien zurückscheuten. Er nennt als Beispiele den Widerstand gegen den geplanten Bau einer DITIB-Großmoschee in Wuppertal und die Diskussion um islamistischen Einfluss in Schulen. Die FDP werde dort aktiv, wo andere aus politischer Korrektheit schweigen würden. Es brauche eine „freiheitliche Kampfeinheit“, die islamistischen und patriarchalen Tendenzen offensiv entgegentrete. Besonders NRW und der FDP-Politiker Marcel Hafke würden diesen Kurs bereits umsetzen. Hafke warne vor integrationsfeindlichen Strukturen und sehe in Übergriffen in Freibädern ein Zeichen „migrierter Frauenverachtung“. Themen wie Meinungsfreiheit, religiöser Einfluss und Zuwanderungsfolgen seien laut Stoldt klassische Anliegen der liberalen Mitte – würden aber zu oft ignoriert. Die FDP müsse sich von ihrer Vergangenheit in der Ampel distanzieren, mutiger auftreten und sogenannte „rechte“ Themen zurück ins bürgerliche Lager holen. Der Beitrag schließt mit der Forderung, Selbstkritik zu üben und glaubwürdig für Grundrechte einzustehen – ohne in populistische Vereinfachungen zu verfallen. (Till-Reimer Stoldt, Welt)

Abgesehen davon, dass Stoldt offensichtlich ein FDP-Fanboy ist, finde ich den Artikel aus zwei Gründen interessant. Der erste ist, dass er die klassische Kritik an einer Partei abfährt: Partei X hat deswegen elektorale Probleme, weil sie nicht genug so ist, wie ich sie gerne hätte. Ich kenne das noch zur Genüge von "die SPD ist nicht links genug", aber auch die CDU hat ja ihre Erfahrungen mit "wenn sie nur X machen würden, dann" gemacht. Üblicherweise sind diese Analysen wenig zielführend, weil sie eine Verallgemeinerung der eigenen Position beinhalten, die natürlich immer die wichtigste Position ist, aber gleichzeitig nicht unbedingt breite Zustimmung haben muss. Zum anderen ist die Wortwahl hier wieder interessant; eine "freiheitliche Kampfeinheit", weil man sich in einem geradezu apokalyptischen Abwehrkampf gegen etatistische Kräfte wähnt...solche Art radikalisierender Rhetorik ist üblicherweise nicht eben dazu angetan, mehr Leute als den echt harten Kern zu mobilisieren.

4) Was hat Dobrindts Grenzregime bislang gebracht?

Die Bilanz von Innenminister Dobrindts verschärften Grenzkontrollen fällt bislang ernüchternd aus. Zwar sei die Zahl der illegalen Einreisen seit dem Höhepunkt Mitte 2023 zurückgegangen, doch dieser Trend habe bereits vor Antritt der neuen Regierung unter Kanzler Merz eingesetzt. Entscheidend war eine Maßnahme der Vorgängerin Nancy Faeser, die im Oktober 2023 Grenzkontrollen an den Übergängen zu Polen, Tschechien und der Schweiz anordnete. Dobrindt hatte angekündigt, die Zahl der Zurückweisungen deutlich zu erhöhen und auch Asylsuchende an der Grenze abzuweisen, wenn sie aus sicheren Drittstaaten kommen. Dies führte zu diplomatischen Spannungen, besonders mit Polen, das mit Gegenkontrollen reagierte. Auch Österreich, Tschechien und die Schweiz äußerten Protest. Tatsächlich wurden zwar mehr Menschen ohne gültige Papiere oder mit Einreisesperren abgewiesen, doch Geflüchtete machten nur einen sehr kleinen Teil aus. Die Zahl der Asylanträge bleibt mit rund 10.000 pro Monat hoch. Gründe dafür sind unter anderem legale Einreisen mit Aufenthaltstiteln anderer EU-Staaten. Auch vermuten Bundespolizisten, dass Schleuser ihre Aktivitäten lediglich vorübergehend eingestellt hätten. Die angekündigte Abschreckungswirkung erscheint daher begrenzt, während der politische und logistische Aufwand groß ist. (, ZEIT)

Diese Maßnahmen konnten immer nur symbolpolitische Wirkung haben. Mir ist unklar, warum das in den Redaktionen egal welchen Blattes nie anerkannt wird. Aber das ist ja auch völlig nebensächlich. Wir leben in einer Demokratie, und eine sehr deutliche Mehrheit der Bürger*innen hat den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass die Politik hier härter auftrete. Also muss die Politik härter auftreten. Auch das fing schon unter Scholz mit den markigen Sprüchen zur Abschiebung an, und es zog sich durch den Wahlkampf bis in die ersten Tage des Kabinetts Merz. Alle drei Akteure - Kanzler Scholz, Wahlkämpfer Merz, Kanzler Merz - mussten feststellen, dass markige Sprüche ihre Grenzen in der rechtlichen und faktischen Realität finden. Bisher weigern sie sich auch alle, tatsächlich nachhaltige (aber vielleicht auch weniger auffällige) Maßnahmen zu ergreifen. Die verstärkten Grenzkontrollen und ähnliche Symbolpolitiken sind nur sinnvoll zu bewerten, wenn man sie vor dem Hintergrund dieser Tatsachen begreift. Schaffen sie ein höheres Gefühl von Sicherheit und Kontrolle bei den Bürger*innen? Dann haben sie ihren Zweck erreicht. Tun sie das nicht? Dann nicht. Die genauen Zahlen sind eh vollkommen unfassbar. Ich kann als Bürger doch gar nicht abschätzen, ob das jetzt viel oder wenig, erfolgreich oder nicht erfolgreich ist, und die Medien machen wie üblich keinen guten Job darin, das irgendwie einzuordnen.

5) Alice und der Ekel

Im ARD-Sommerinterview trat Alice Weidel unter lautem Protest von Demonstrierenden auf, was das Gespräch akustisch erheblich störte. Für Weidel bot dies jedoch auch Gelegenheit, sich als Opfer politisch motivierter Störungen darzustellen und zu behaupten, die Proteste könnten „mit Steuergeldern angeschoben“ worden sein. Inhaltlich blieb sie weitgehend bei einer einzigen Botschaft: Migration sei für alle Probleme verantwortlich. Selbst strukturelle Herausforderungen wie der demografische Wandel wurden mit dem Ruf nach Migrationsstopp beantwortet. Diese monothematische Strategie entspreche einem typischen rechtspopulistischen Muster: Gesellschaftliche Spannungen werden durch Fixierung auf Migration verschärft, um von sozialpolitischen Leerstellen abzulenken. Laut dem Autor besteht Weidels eigentliche Fähigkeit darin, ein Gefühl von Abscheu zu verkörpern – ein Gefühl, das rechtsextreme Bewegungen laut Kulturwissenschaftler*innen wie Theweleit und Kristeva zentral zusammenhalte. Im Interview wirkte Weidel zunehmend genervt und reagierte gereizt auf die Situation. Auf die Frage nach drei positiven Aspekten Deutschlands fiel ihr kaum etwas ein – ein Umstand, der als Ausdruck eines tief sitzenden Ekels gegenüber dem eigenen Land gedeutet wurde. Dieser Ekel, so die Analyse, könne zwar mobilisieren, doch auch zur Schwäche werden, wenn er die Politikerin selbst beherrscht. (Nils Markward, ZEIT)

Ich halte dieses Sommerinterview für komplett überbewertet. Da ich gerade etwas Vorlauf mit dem Vermischten habe, wage ich die Prognose, dass es zur Veröffentlichung bereits dem nächsten Aufreger Platz gemacht haben wird. Das Ganze ist auch kein "Dokument eines journalistischen Versagens", wie die Welt natürlich bereits tönt, weil sie ein Anti-ÖRR-Thema wittert. Natürlich kann man ein Live-Interview dieses Größe nicht on the fly verlegen. Fabian Hillebrandt hat im Spiegel auch Recht, wenn er sagt, dass die Frage, ob das der AfD nützt, relativ bedeutungslos ist. Letztendlich bestätigen hier ohnehin alle nur ihre vorherige Position. Die Rechten sehen die Brandmauer als gescheitert und die ÖRR als böse, die Progressiven sehen das Einladen von Weidel als den größten Fehler, die Linken feiern das Zentrum für Politische Schönheit als antifaschistische Avantgarde und so weiter und so fort. Das ist ein selbstreferenzielles Karussell, das nur noch anödet. Insofern ziehe ich den meisten Nutzen noch aus Markwards Analyse hier, weil sie die Umstände weitgehend ignoriert und etwas Substanzielles zu finden hofft. Allerdings bezweifle ich, dass Weidel überhaupt diese Bekanntheit und Ausstrahlungskraft besitzt.

Resterampe

a) So schnell kann's gehen. (Welt)

b) Der Dampf in den Köpfen (Welt).

c) Die Methoden des Metzgers (Spiegel).

d) Ich finde den Umgang der CDU mit den überzogenen Attacken bezüglich der BVerfG-Besetzung gar nicht schlecht. In den USA wäre das unvorstellbar. Ein Beispiel. (Twitter) Und dass dieses Zurückrudern nötig ist zeigen auch solche Leute.

e) Lutz Raphael zum Stand des Geschichtsunterrichts. (NOZ)

f) Ihr wisst meinen Kommentar dazu. (Reuters) Ach, was solls: Komplett unvorstellbar, dass die Democrats so was je gemacht hätten.

g) Ich sag es immer wieder: es geht nicht ums Prinzip, sondern darum, dass es die eigenen Seite macht. (Twitter)

h) Jette Nietzard: Das Netz kocht. Die Partei zürnt. Die Grüne-Jugend-Chefin ist zufrieden (Spiegel). Die radikalen Ränder profitieren immer von Krach.

i) VdK-Präsidentin fordert Ende der Verbeamtung von Lehrkräften – VBE kontert scharf. (News4Teachers) Neiddebatte.

j) Oha, das ist mal ein arbeitsrechtliches Urteil. (LTO)

k) Wie glücklich waren Frauen in den 1950ern? (Matriarchal Blessings)

l) Zum Thema Grok und Antisemitismus (Spiegel).

m) Die Hauptstadt-SPD will zurück in die DDR (Welt). Auf Wiedervorlage, wenn sich die mal wieder über Nazi-Vergleiche empören. Ist das nicht Beschimpfung der SPD-Wählenden?

n) Söder kritisiert Merz und Spahn bei der Richterinnenwahl. (NTV)

o) In BaWü nehmen rechtsextremistische Fälle an Schulen massiv zu. (ZVW)


Fertiggestellt am 26.07.2025

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