Weitere Stilblüten aus der „Freischütz“-Aufführung bei den Baden-Württembergischen Behördendienern der Justitia
Anfang des Jahres wurde ein Durchsuchungsbeschluss bei demfreien Sender Radio Dreyeckland und zwei seiner Mitarbeiter wegen der Verlinkung des Archivs von linksunten.indymedia in einem Artikel auf der Webseite des Senders ausgeführt (s. publikum.netvom 31.01.2023).
Während das Verfahren gegen den medienrechtlich Verantwortlichen des Senders eingestellt wurde (s.: scharf-linksv. 13.05.2023), muss der Autor des Artikels, Fabian Kienert, nun tatsächlich vor dem Kadi antreten (s. z.B. golem.de,heise.deund netzpolitik.org– jeweils v. 13.06.20231). Wo kämen wir da auch hin, wenn sich der viel beschworene „mündige Bürger“ und auch die mündigen Bürger*innen ein eigenes Bild von linksunten machen würden…
Ursprünglich hatte das Landgericht Karlsruhe die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt (kontrapolisv. 19.05.2023). Weder könne davon ausgegangen werden, dass die – durch die Archiv-Verlinkung – angeblich unterstütze Vereinigung weiterhinexistiere, was aber Voraussetzung für die Möglichkeit einer Unterstützung sei, noch lasse sich Kienerts Artikel eine die „Vereinigung“ unterstützende Tendenz entnehmen. Allein Kritik an dem Verbot reiche dafür nicht aus. Das Landgericht hatte zu diesen Punkten sorgfältig argumentiert; trotzdem legte die Staatsanwaltschaft Karlsruhe Beschwerde ein (siehe Artikel bei den taz-Blogs vom 08.06.2023), der das Oberlandesgericht nun gab.
Zwar wurde schon nach dem Beschluss des LG vor allzu viel Euphorie gewarnt2; aber dass das Oberlandesgericht gleich in beiden Punkten (weder Fortexistenz der Vereinigung noch unterstützende Tendenz des Artikels) dem Landgericht nicht folgt, kommt schon überraschend. Auch hat es ein ziemlich ungutes Geschmäckle, dass dass das OLG auf die sehr ausführlichen Begründungen für den vorhergangenen Nicht-Eröffnungs-Beschluss des Landgerichts kaum eingeht (siehe dazu: Barrikade. Infoportal aus der Deutschschweiz vom 29.06.2023).
Vorwürfe auf sehr dünnem Eis
Fabian Kienert wird vorgeworfen eine unanfechtbar verbotene Vereinigung unterstützt zu haben (§ 85 Abs. 2 StGB); dies soll er dadurch gemacht haben, dass er Propagandamittel (wörtlich spricht das OLG sogar von bloßem „Gedankengut“!)dieser Vereinigung „verbreitet“ (§ 86 StGB) habe (OLG Stuttgart). Diese Verbreitung soll – wie schon gesagt – durch Verlinkung des linksunten-Archivs geschehen sein.
Dagegen ist Folgendes einzuwenden:
1.Wenn §§ 85 und 86 StGB (oder irgendwelche anderen Straf- oder Verbotsnormen) so zu interpretieren sein sollten, dass sie auch Meinungsäußerungen erfassen, die weder ehr-verletzend noch jugendgefährdend sind, dann handelt es sich insoweit um verfassungswidrige Gesetze. Denn sie sind dann weder von der Schranke des Ehrenschutzes noch von der Schranke des Jugendschutzes gedeckt, noch handelt es sich bei einem solchen Gesetz insoweit um ein „allgemeines“ Gesetze i.S.v. Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz3, sondern vielmehr um ein – in diesem Sinne – ‚besonderes‘ Gesetz, das sich gerade gegen „Meinungsäußerung[en ...] als solche“ und deren „geistig[e] Wirkung“ richtet (selbstverständlich nicht gegen jede Meinungsäußerung, sondern nur gegen die staatlicherseits unerwünschten… Aber das bedeutet ja Meinungsäußerungsfreiheit gerade: Dass der Staat den BürgerInnen nicht vorschreiben darf, welche Meinungen sie haben und äußern dürfen – außer die BürgerInnen verletzten mit ihren Äußerungen die Ehre von anderen BürgerInnen oder handeln dem Jugendschutz zu wider). Siehe genauer zu dieser Argumentation: Detlef Georgia Schulze im Mai diesen Jahres bei publikum.net („Anhang 1: Zum Begriff der ‚allgemeinen Gesetze‘ in Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz“) und bereits 2018 bei scharf-links:
Meinungsäußerungsfreiheit oder gerichtliches Meinungsmanagement?, in: scharf-linksv. 04.10.2018; http://www.scharf-links.de/48.0.html?tx_ttnews[tt_news]=66971&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=86b85b2548.
2.Fabian Kienert konnte schon deshalb im Sommer 2022 den alten BetreiberInnenkreis von linksunten nicht mehr unterstützen, weil dieser – nach allem, was wir wissen – nicht mehr existierte. Der Schluss des Oberlandesgerichts Stuttgart von der erneuten Nutzung der alten URL (durch welche Leute auch immer) auf die Fortexistenz des alten BetreiberInnenkreises (Organisationsidentität4) ist ein Fehlschluss – oder zumindest ein Kurzschluss.
3.Kienert hat mit seiner bloßen Linksetzung Propagandamittel weder verbreitet noch auch nur zugänglich gemacht.
Um einen funktionierenden Link setzen zu können, muss das, was verlinkt wird, bereits zugänglich sein. Vom Zugänglichmachen von etwas ohnehin Allgemein-Zugänglichem zu sprechen, ist widersinnig.
Aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich, dass TäterInnen des Zugänglichmachens von Propagandamitteln nur solche Personen sein können, die diese Propagandamittel selbst „bereithalten“ (https://dserver.bundestag.de/btd/13/073/1307385.pdf, S. 36 [re. Sp. oben]).
Aus dem Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch ergibt sich, dass TäterInnen des Zugänglichmachens von Propagandamitteln nur solche Personen sein können, die diese Propagandamittel ins internet ‚eingespeichert‘ haben (Steinsiek, in: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 202313, § 84, Randnummer 35: „Einspeicherung“).
Dass Kienert das linksunten-Archiv ins internet ‚eingespeichert‘ habe und es dort für Interessierte bereithalte bzw. bereitgehalten habe, behaupten auch Staatsanwaltschaft Karlsruhe und Oberlandesgericht Stuttgart nicht. Kienert hat nur wahrheitsgemäß berichtet, dass und unter welche Adresse irgendwelche Leute das Archiv wieder zugänglich gemacht haben – nämlich unter der
Adresse:https://linksunten.indymedia.org/.
Bitte gerne mal überprüfen, ob Kienerts Behauptung wahr ist. :-)
4.§ 86 StGB Abs. 4 Strafgesetzbuchbestimmt:
„Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, wenn die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“
Kienert hat über „Vorgänge des Zeitgeschehens“ berichtet:
Er hat – in Form der Bebilderung seines Artikels – berichtet, dass sich an einer Hauswand in Freiburg die Parole „Wir sind alle linksunten.indymedia“ befindet.
Er hat – in Form der Bild-Beschriftung – darüber berichtet, dass diese Parole auch Gegenstand und Streitpunkt bei einer Podiumsdiskussion war.
Er berichtete darüber, dass „die Autonome Antifa Freiburg darüber [informierte], dass das [zu dem linksunten-Vebot] zugehörige strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen ‚Bildung einer krimineller Vereinigung‘ am 12. Juli nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wurde“.
Er berichtete außerdem: „Im November 2020 hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon die Durchsuchung der KTS im August 2017 […] für rechtswidrig erklärt.“
Und er berichtet auch: „Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite.“
All dies ist (abgesehen von der Datierung der Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes [er stammt tatsächlich schon vom 12.10.2020]) wahr und wird auch von Staatsanwaltschaft und Oberlandesgericht nicht bestritten.
Außerdem spricht Kienert an zwei Stellen von „konstruiertem Verein“:
Zum einen – an der Stelle der Auslassungszeichen – in dem schon zitierten Satz zu dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes: „Im November 2020 hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg schon die Durchsuchung der KTS im August 2017 im Zuge des konstruierten Vereins Indymedia Linksunten für rechtswidrig erklärt.“
Zum anderen in dem ersten Satz des Artikels (nach Überschriften, Bild und Bild-Beschriftung): „Bald fünf Jahre ist der konstruierte Verein Indymedia Linksunten nun verboten.“
In der Rede von „konstruiertem Verein“ mag mit dem Oberlandesgericht eine Meinungsäußerung und Kritik an dem Verbot gesehen werden – aber:
Kritik an (Vereins-)Verboten ist zulässig (BVerfG: „Die mit einem Eintreten für eine Aufhebung des Verbots verbundenen Solidarisierungseffekte sind, auch dann, wenn damit zugleich eine Sympathie für die verbotene Vereinigung ausgedrückt wird, im Interesse der freien Meinungsäußerung hinzunehmen (vgl. BVerfG, NVwZ 2002, 709 <710>).“5)
Außerdem: Es gab weder einen „Verein Indymedia Linksunten“ (wovon Kienert spricht) noch einen „Verein ‚linksunten.indymedia‘“ (wovon in der innenministeriellen Verbotsverfügung die Rede war).
Es gab in der Tat einen BetreiberInnenkreis der Webseite linksunten.indymedia.org, aber dieser hieß – abgesehen von der Frage, ob er vereinsförmig organisiert war – „IMC Linksunten“6.
5.§ 86 StGB Abs. 3 Satz Strafgesetzbuchlautet: „Propagandamittel im Sinne des Abs. 1 ist nur ein solcher Inhalt (§ 11 Abs. 3), der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist.“
Kienert hat aber nur die Startseite des Archivs (sozusagen das ‚Vorwort‘ des/der Neu-Herausgeber/in/nen) verlinkt. Dass auf der Startseite „gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet[e]“ Inhalte seien, behauptet weder die Staatsanwaltschaft Karlsruhe noch das Oberlandesgericht Stuttgart. Wohl deshalb wollen sie – mit Trick 17 – § 85(statt 86) Strafgesetzbuch anwenden, womit sie sich aber in Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen setzen (Bundestags-Drucksache V/2860, S. 9: „Einigkeit bestand unter den Ausschußmitgliedern darüber, daß auf die §§ 84, 85 StGB i. d. AF [= Ausschußfassung (im Unterschied zum vorhergehenden Regierungsentwurf)] und § 20 Vereinsgesetz nicht zurückgegriffen werden darf, wenn dies auf eine Umgehung der in § 86 StGB i. d. AF beschlossenen Einschränkungen hinauslaufen würde.“).
Es wird spannend…: Hin- und hergerissen sein zwischen Angst und Widerstand ist auch eine Form von „Stresstest“
Wird aktuell die Grenze zwischen [angeblich] (staatlich) akzeptiertem politischen Spektrum und Kriminalisierungspotential einem brisanten Stresstest unterzogen?
Falls ja, wird die entscheidende Frage werden, ob diejenigen, die in der Gefahr stehen, als grenzwertig eingestuft zu werden, darauf anders als mit Angst reagieren werden.
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Achim Schill lebt in Berlin schrieb unter anderem in express 3-4/2023 und constraste 5/2023 über den Fall „Radio Dreyeckland“.
1 Siehe außerdem dazu:
taz-Blogs vom 13. und 18.06.2023 sowie vom 08.07.2023 https://blogs.taz.de/theorie-praxis/kein-waidmannsheil-bei-der-journalisten-jagd/
und
untergrundblättle vom 29.06.2023.
2 Siehe dazu
von mir in EmRaWi v. 20.05.2023 (Abschnitte „Problematische Punkte in der Landgerichts-Entscheidung“ und „Resümee“) sowie in kontrapolis v. 19.05.2023 (Ein erfreuliches Ergebnis mit ein paar Wermutstropfen)
und
von Detlef Georgia Schulze in de.indymedia v. 19.05.2023 (Eine Warnung vor voreiliger Entwarnung und eine (weitere) erfreuliche Neuigkeit) und am 19.05.2023 in der Freitag-Community (Abschnitt „Die Staatsanwaltschaft kann Beschwerde einlegen“).
3 Art. 5 Abs. 1 und 2 Grundgesetz lauten: „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_5.html)
4 Siehe BGH-Beschlüsse vom 04.02.1998 zu den Aktenzeichen 3 StR 269/97 (Textziffer 6: „Identität eines verbotenen Vereins mit einem bestehenden“) sowie 3 StR 390/97 („Erforderlich ist […], daß die organisatorische Verbundenheit des verbotenen Vereins fortbesteht […], daß der organisatorische Apparat und seine Träger im wesentlichen dieselben geblieben sind […].“)
5 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/09/rk20060926_1bvr060504.html, Textziffer 56.
6 Siehe: https://web.archive.org/web/20200320103618/http://links-wieder-oben-auf.net/wp-content/uploads/2020/01/Bf_11_Antrag_ans_BMI__FIN.pdf. S. 38 f.
Siehe auch
https://linksunten.indymedia.org/archiv/accounts/index.html
und den dort genannten account „IMC linksunten“ mit einer Liste der Artikel, die mittels dieses accounts gepostet wurden.