Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal komplett zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.

Fundstücke

1) "Reiche Menschen unterschätzen, wie gut es ihnen geht" (Interview mit Marius Busemeyer)

Eine repräsentative Studie zeigt, dass viele Menschen, einschließlich reicher, sich fälschlicherweise der Mittelschicht zugehörig fühlen, was zu einer verzerrten Wahrnehmung der sozialen Schichtung führt. Sowohl Reiche als auch Geringverdiener unterschätzen die tatsächliche Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen. Gutverdienende vergleichen sich oft mit Wohlhabenderen und fühlen sich weniger wohlhabend, während Geringverdiener sich mit ähnlich Gestellten vergleichen und ihre eigene finanzielle Situation überschätzen. Diese Fehleinschätzungen haben Auswirkungen auf politische Einstellungen, da Menschen gegen ihre eigenen Interessen wählen können. Die Studie betont die Notwendigkeit offener Diskussionen über Ungleichheit und finanzielle Themen, um das Bewusstsein zu schärfen und realistische Wahrnehmungen zu fördern. Die Politik wird aufgefordert, Maßnahmen zur sozialen Gerechtigkeit zu ergreifen und den sozialen Aufstieg zu fördern. (David Gutensohn, ZEIT)

Ich habe diese Beobachtung selbst schon oft gemacht, sowohl im Bekannten- und Verwandtenkreis also auch an mir selbst: Man vergleicht sich grundsätzlich nach oben und möchte die eigene Identität auf eine solche Art konstruieren, wie sie als sozial wünschenswert wahrgenommen wird. Entsprechend wird sich niemand in einer Gesellschaft, deren Ideal immer noch die „nivellierte Mittelschicht“ ist, als Teil der Unterschicht betrachten wollen (das war, als das Arbeitermilieu noch existierte, durchaus anders). Genauso ist es in dieser Gesellschaft nicht mehr akzeptabel, reich zu sein. wir haben in den Kommentaren die geradezu aggressive Abwehr dieses Begriffes schon oft gesehen, wo sechsstellige Jahresgehälter quasi nur knapp über Hartz-IV zu liegen scheinen.

Ich kenne das auch aus dem Unterricht, wo mir immer wieder auffällt, dass die Schüler*innen keinerlei Bezug zu den Größen von Gehältern haben. Sie haben keine Vorstellung, was wenig, viel oder durchschnittlich ist und schätzen sowohl die Verteilung in der Gesellschaft als auch ihre eigenen Möglichkeiten häufig grotesk falsch ein. Während die eigene Einschätzung mit der Erfahrung erster Erwerbsarbeit üblicherweise zielgenauer wird, bleibt die grotesk falsche Einschätzung der gesellschaftlichen Verteilung erhalten.

Siehe zu dem Thema auch die unsägliche Elterngelddebatte.

2) Linksdraußen

Es deutet sich an, dass die Partei "Die Linke" in eine mögliche Spaltung gerät. Amira Mohamed Ali hat angekündigt, nicht erneut für den Vorsitz der Bundestagsfraktion zu kandidieren, da sie mit der Ausgrenzung von Sahra Wagenknecht nicht einverstanden ist. Die Geschichte der Partei hatte verschiedene Phasen: Als PDS wurde die ehemalige SED in die Demokratie eingeführt, später trat die Linke dem neoliberalen Mainstream entgegen und hielt Angela Merkel an der Macht. Die Linke war jedoch in der Außenpolitik umstritten, insbesondere aufgrund ihres pro-russischen Standpunkts. Die russische Invasion in die Ukraine im Jahr 2022 hat die Partei moralisch geschwächt und orientierungslos gemacht. Die Abspaltung von Wagenknecht, die am pro-russischen Kurs festhält, spiegelt diese Uneinigkeit wider. Die Auswahl von Carola Rackete als Spitzenkandidatin für die Europawahl wird ebenfalls kritisiert, da sie als privilegiert wahrgenommen wird und nicht die ostdeutsche Landbevölkerung anspricht. Es bleibt abzuwarten, wie die Partei mit diesen Herausforderungen umgehen wird. (Bernd Ulrich, ZEIT)

In seinem Artikel Geheimoperation Parteineugründung geht Harald Dauber in der Telepolis sogar noch weiter als Ulrich. Er erklärt, dass die Parteineugründung rechtzeitig zur Europawahl und nach der Sommerpause bereits beschlossene Sache und ein offenes Geheimnis in der Partei sei. Ich bleibe bei diesen Geschichten unglaublich skeptisch. Wagenknecht ist für mich das ultimative Beispiel eines politischen Hundes, der bellt, aber nicht beißt. Ich halte sie für fundamental ungeeignet, Führungspositionen zu übernehmen und gehe davon aus, dass sie komplett uninteressiert an organisatorischer Arbeit ist. Das Debakel um #Aufstehen hat das eigentlich zu Genüge demonstriert. Davon abgesehen wäre mir diese Parteineugründung durchaus recht. Einerseits würde sie den Untergang der Linken besiegeln, die ihre Daseinsberechtigung völlig verspielt hat, andererseits würde sie mit Sicherheit der AfD schaden, besonders in den neuen Bundesländern. Ich habe jedenfalls lieber zwei populistische Parteien mit 10% als eine mit 20%, noch dazu, wenn diese sich untereinander nicht einig sind und um dasselbe Wählendensegment konkurrieren.

3) »Ich halte den Sparkurs grundsätzlich für falsch« (Interview mit Katharina Beck)

Die Grünen-Finanzpolitikerin Katharina Beck äußert in einem Interview mit dem "Spiegel" Bedenken über den Sparkurs der deutschen Regierung. Sie betont, dass in Zeiten politischer Herausforderungen und globaler Konkurrenz die Ausgaben nicht weiter gekürzt werden sollten. Beck kritisiert die geplanten Mittelkürzungen für politische Bildung, ländlichen Raum und Freiwilligendienste sowie die fehlende Prioritätensetzung. Sie sieht den Sparkurs als ökonomisch falsch und fordert Investitionen in Demokratie, Wirtschaft, Klimaschutz und Zukunftstechnologien. Beck unterstützt einen Industriestrompreis, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Sie spricht sich auch für gezielte steuerliche Anreize im Rahmen des EU-Beihilferechts aus. Die Schuldenbremse sollte laut ihr für langfristig sinnvolle Investitionen überdacht werden. Sie fordert einen umfassenderen Ansatz für Wirtschaftsförderung und Klimaschutz. (Jonas Schaible, Spiegel)

Ich finde das Interview mit Beck sehr lesenswert, weil es so vernünftig und moderat gehalten ist. Innerhalb der Ampelkoalition markiert Beck sicherlich eine Linksaußenposition, aber es ist keine, die komplett unrealistisch oder radikal wäre. Sie ist aktuell nicht mehrheitsfähig, ist aber als Regierungspolitik grundsätzlich vorstellbar. In der Sache halte ich die vorgeschlagene Trennung von Ausgaben für sinnvoll. Die Schuldenbremse hat durchaus eine Daseinsberechtigung, wo es um Konsumausgaben geht. Ich habe noch nie für die Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen aus höheren Staatsschulden plädiert und werde dies auch in Zukunft nicht tun. Da es sich hier um dauerhafte Leistungen handelt, macht nur eine stabile, gesicherte Finanzierung Sinn. Die Sache liegt aber bei Investitionen komplett anders. Hier ist die Schuldenbremse eine katastrophale Fehlentscheidung, die uns bereits seit vielen Jahren teuer zu stehen kommt und in Zukunft noch viel teurer zu stehen kommen wird. Mit der Konstruktion des sogenannten Sondervermögens ist ja hier aber bereits ein Pfad gelegt, der dieses Problem umgehen könnte.

4) Der Zerfall

Die Studie von "More in Common" offenbart das gestiegene Ungerechtigkeitsempfinden in Deutschland. Die Gesellschaft spaltet sich in verschiedene Gruppen, von den "Involvierten" bis zu den "Enttäuschten". Etwa 80 % empfinden die Zustände im Land als ungerecht, und dieses Gefühl hat seit 2019 zugenommen. Misstrauen breitet sich aus – nicht nur horizontal zwischen Menschen, sondern auch vertikal gegenüber Politikern. Sorgen über Vereinzelung und egoistisches Verhalten werden verstärkt durch eine Wahrnehmungslücke zwischen Selbst- und Fremdbild. Die Studie mahnt, dass politische Alternativen und echte Weichenstellungen nötig sind, um das Vertrauen in die Demokratie wiederherzustellen. Während private Beziehungen noch Vertrauen genießen, sinkt das Vertrauen in politische Institutionen und Vertreter, was auf eine weitreichende Demokratiekrise hinweist. (Lenz Jacobsen/Mia Janzen, ZEIT)

Die Spaltung der Gesellschaft einerseits und das Misstrauen in sämtliche Institutionen andererseits sind absolut besorgniserregend. Ich halte allerdings die hier vorgeschlagenen Lösungen, die in der oft wiederholten Phrase von politischen Alternativen und klare Meinungsstreit bestehen, für wenig zielführend. Es scheint mir aus der Empirie her einfach nicht ableitbar. Die Forderung nach mehr Streit und klarere Abgrenzung begleitet uns durch einen Großteil der Merkel-Ära. Seit Beginn der Ampel-Koalition haben wir unzweifelhaft wesentlich mehr Streit und eine deutlich klarere Zuspitzung von Positionen. Die Entwicklung hat sich aber im Gleichschritt dramatisch verschlimmert.

Man kann es noch eine Spur deutlicher machen und einfach in die USA hinüber sehen: dort gibt es extrem klare Alternativen und Weichenstellungen, ohne dass dies dem Vertrauen oder der Einigkeit der Gesellschaft in irgendeiner Art und Weise zuträglich wäre. Ich habe natürlich auch keine Lösung für dieses Problem, und ich glaube auch nicht, dass es eine monokausale Erklärung dafür gibt.

5) Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs

In einem Repetitorium zum Strafprozessrecht wurde die fehlerhafte Verwendung des Rechtsstaatsbegriffs diskutiert. Eine Kommilitonin begründete weitreichende Ermittlungsbefugnisse der Behörden damit, dass Strafgesetze im Rechtsstaat durchgesetzt werden müssten. Dieser Beitrag zeigt, dass der Begriff des Rechtsstaats genau das Gegenteil bedeutet – nämlich eine Begrenzung staatlicher Befugnisse. Politiker wie der Justizminister setzen den Begriff falsch ein, um repressives Vorgehen zu rechtfertigen. Ein Rechtsstaat begrenzt staatliche Macht durch Gesetze und schützt vor Willkür. Diese Verwechslung gefährdet den eigentlichen Sinn des Rechtsstaats und kann zu Missverständnissen führen. Der Artikel betont die Bedeutung des korrekten Gebrauchs des Rechtsstaatsbegriffs, da er die Grundlage unserer demokratischen Ordnung bildet. Forderungen nach stärkerem Vorgehen sollten nicht im Namen des Rechtsstaats erfolgen. (Joel Sadek Bella, Junge Wissenschaft im Öffentlichen Recht)

Mir scheint diese unsägliche Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs schon länger zu existieren. Die Forderung, möglichst hart durchzugreifen, ist eine Grundforderung auf dem rechteren Teil des Spektrums seit jeher. Auch an der Rhetorik hat sich in meinen Augen wenig geändert. Ohne eine große Recherche durchführen zu wollen bin ich ziemlich zuversichtlich, dass man spätestens aus den 1990er Jahren genug Beispiele finden wird, in denen unter Rechtsstaatsrhetorik genau das verstanden wird.

Gleichzeitig ist dieser Missbrauch beziehungsweise die Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs zwar ein Leitmotiv auf der Rechten. Aber es ist ja nicht eben so, als wäre das die einzige Umdeutung von Begrifflichkeiten. Was auf der politischen Linken etwa gerne alles unter dem Schlagwort „Sozialstaat“ subsumiert wird, hat auch nur sehr eingeschränkt mit dem zu tun, was der Begriff grundgesetzlich gesehen eigentlich einmal beschrieben hat. So sehe ich daher politisch den Quatsch mit einem Zähne zeigenden Rechtsstaat und was der dummen Metaphern nicht noch mehr ist ablehne, so wenig kann ich darin eine grundsätzlich unzulässige politische Taktik erkennen.

Resterampe

a) Rechtliche Analyse, ob die AfD ein Anrecht hat, im ÖRR aufzutreten.

b) Als es noch Republicans mit Rückgrat gab.

c) Spannende Perspektive auf den IRA.

d) Zum Wall Street Journal (siehe letztes Vermischtes) siehe dieser Post.

e) Ich hatte vor einiger Zeit mal meine Vorausplanung an Posts gezeigt, wen es interessiert.

f) Nettes FAZ-Interview mit einem Taxifahrer.

g) So sehr ich Kubicki nicht leiden kann, manchmal hat er echt Stil.

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