Adam Tooze - The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order 1916-1931 (Deutsch) (Hörbuch)

Es gibt immer wieder Bücher, die so voller Erkenntnisse und Ideen stecken, dass sie mehrere Lektüren brauchen, um voll zu wirken. Manchmal sind sie ihrer Zeit geradezu voraus, ist die Wichtigkeit ihres Gegenstands zum Zeitpunkt des Erscheinens gar nicht klar oder sie werden vielleicht erst durch spektakuläre Ereignisse wirklich relevant. Werke wie "The Deluge" (hier und hier bereits besprochen) oder "Wages of Destruction" (hier und hier besprochen) sind solche Werke, auf eine Art, die Toozes neuere Schöpfungen wie "Crashed" (hier und hier besprochen) oder "Shutdown" (hier besprochen) nicht sind, obwohl sie eigentlich viel aktuellere Themen besprechen als die Zwischenkriegszeit. Es ist aber auch faszinierend, wie ein geänderter Blickwinkel plötzlich neue Dinge hervorhebt. Obwohl ich "The Deluge" bereits zweimal gelesen habe, hatte ich den Eindruck, es zum ersten Mal zu öffnen. Die besten Bücher schaffen so etwas, und das ist hier keine Ausnahme.

Tooze beginnt seine Darstellung in der Einführung, "Introduction", in dem er kurz die Bedeutung der Epoche darlegt. Seine zentrale Hypothese ist, dass das Ende des Ersten Weltkriegs den Liberalismus in einer weltweit dominanten Position stehen ließ, dominanter als 1945, und dass dieser seine Schicksalsstunde verfehlte und scheiterte. Das Buch soll dieses Scheitern nachzeichnen und erklären.

In Abschnitt 1, "The Eurasian Crisis", stellt Tooze zuerst das Ende des Ersten Weltkriegs dar. Ähnlich wie Niall Ferguson in seinem Werk "A Pity of War" sieht er die deutsche Niederlage - beziehungsweise ihre Art - eher als Problem, ist der Überzeugung, dass der Krieg anders hätte enden sollen. Diese Argumentation baut er im Folgenden weiter aus. Anders als bei Ferguson sieht Tooze aber weniger eine Chance für "Mitteleuropa" und eine Art Proto-EU nach einem deutschen Sieg, die von einem britischen Überseeimperium ausbalanciert wird, sondern vielmehr in einem liberalen Regime, das aus dem Krieg hätte hervorgehen können.

Die Grundlage dafür legt Kapitel 1, "War in the Balance". In Toozes Erzählung befand sich der Krieg nach der Erschöpfung durch Verdun, die Somme und Brusilov im späten Herbst und Winter 1916/17 in einer prekären Balance. Die Hoffnung auf eine entscheidende Wirkung Rumäniens Kriegseintritt hatte sich zerschlagen. Es war nicht ersichtlich, wie irgendeine Seite einen klaren Vorteil erringen sollte. Die Kriegswirtschaft der Entente wurde immer abhängiger von der US-Finanz, wo JP Morgan effektiv eine Neben-Außenpolitik betrieb, die Wilson wegen des "too big to fail"-Effekts zunehmend störte, während die Mittelmächte ebenfalls keine Aussicht auf eine Entscheidung zu haben schienen.

Diese blutige Balance sieht Tooze aber als Schlüssel dafür, den im zweiten Kapitel, "Peace without Victory", vom amerikanischen Präsidenten Wilson propagierten Frieden ohne Sieger und Besiegte, quasi einen Erschöpfungsfrieden, zu schließen. Wilson trieb dabei kein Idealismus. Seine Vorstellung von einem Frieden ohne Sieger und folgender Abrüstung brachte USA in die Lage des Vermittlers und damit ohne einen Blutstropfen in die machtvollste Stellung weltweit, über die erschöpften europäischen Großmächte. Wilson hielt hierzu eine moralische Äquivalenz zwischen den Seiten und war nicht bereit, die Entente als moralisch höherwertiger als die Mittelmächte zu sehen; deren innere undemokratische Verfassung berührte ihn nicht. Vielmehr war er von einem großen Misstrauen gegenüber den radikal-demokratischen Franzosen (und ihrer Vorstellung der Gleichheit der Rassen, die für den weißen Suprematisten Wilson unerträglich war) wie auch gegenüber den aristokratischen Briten und ihrem Empire und wollte diesen keine beherrschende Stellung zusprechen. Die Stimmung für einen Frieden ohne Sieg war auch in anderen Ländern verbreitet; so formierte sich in Deutschland auf seiner Grundlage die progressive neue Reichstagsmehrheit aus Fortschrittsliberalen, Zentrum und Sozialdemokratie, deren Sprecher Matthias Erzberger wurde und die eine Reichstagsresolution mit einer Forderung ähnlich Wilsons abgab. Auch in Großbritannien und Frankreich begann sich eine Opposition gegen eine Fortsetzung des Krieges zu formieren. Die größte Gefahr für eine amerikanische Vermittlerposition war der uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Genau diesen brach die deutsche Militärführung, die von Ludendorff und Hindenburg übernommen worden war und die Deutschland in eine Militärdiktatur umzuwandeln begann, vom Zaun und zwangen die Amerikaner dadurch in das Bündnis mit der Entente.

In Kapitel 3, "The War Grave of Russian Democracy", wendet Tooze den Blick nach Russland. Die zaristische Autokratie war für die Entente ideologisch schon immer ein Problem gewesen, weil die Demokratien des Westens mit der schlimmsten Despotie zusammenarbeiteten, was ein "Bündnis der Demokratie" gegen die Tyrannei des Kaisers schwer verkäuflich machte. Dieses Problem endete im März 1917 mit der Russischen Revolution. Der Zar dankte ab und das Land wurde zu einer Republik, die für den Frühsommer allgemeine Wahlen ansetzte. Mit einem Schlag war Russland die größte und freieste Demokratie der Welt, mit einem für damalige Verhältnisse sehr liberalen Wahlrecht und System (inklusive Abschaffung der Todesstrafe selbst bei Desertion). Doch die politische Lage war schlecht: ein Separatfrieden mit Deutschland kam für die russische Republik nicht in Frage, aber in Großbritannien und Frankreich hatte die politische Lage sich gedreht und zum Entscheidungskampf entschlossene Regierungen hervorgebracht. Das Desaster der russischen Sommeroffensive, das auch wegen bolschewistischer Agitation zustande kam, erhöhte dann den Druck und die Fliehkräfte innerhalb Russlands weiter. Für die Amerikaner wie auch die Entente war die Bereitschaft vorhanden, die Chance auf ein liberales Russland zugunsten eines Sieges über Deutschland aufzugeben.

Einen für solche Darstellungen eher ungewöhnlichen, aber gerade für heute ungeheuer wichtigen Blick wirft Kapitel 4, "China Joins the World at War", auf die Lage in Asien. Die Japaner gehörten ebenfalls zu den Bündnispartnern wider Willen in der Entente. Abgesehen von der Besetzung Qingdaos beteiligten sie sich auch kaum am Krieg; erst 1916 ließen sie sich von den Briten kaufen, um ein Flottengeschwader ins Mittelmeer zu entsenden. In Japan gab es einen zentralen Konflikt zwischen der Partei derer, die eine harte Linie gegenüber den USA wollten und in diesen den kommenden Gegner sahen, und jenen, die eher eine Zusammenarbeit mit Washington anstrebten. Diese Liberalen setzten sich vorläufig noch gegen die Imperialisten durch, jedoch engagierte sich Japan bereits in diesen Jahren in China. Die Chinesen ihrerseits waren seit 1911 wie Russland eine zerbrechliche Republik und könnten theoretisch ins liberale System integriert werden, doch die USA gewährten ihnen aus - aus Sicht Toozes falscher - haushalterischer Zurückhaltung keine Gelder, so dass die aggressive japanische Politik der Stärkung der Warlords und Desintegration Chinas an Macht gewann und zentral für den dreißigjährigen Bürgerkrieg im Land wurde.

Das fünfte Kapitel, "Brest-Litovsk", kehrt dann nach Russland zurück. Die Machtübernahme der Bolschewiken veränderte die Balance innerhalb des Krieges erneut drastisch. Tooze arbeitet detailliert heraus, wie das Timing zwischen Friedensinitiativen und Offensiven die Chancen auf Frieden veränderten. Der amerikanische Kriegseintritt legte die USA klar auf die Niederlage der Mittelmächte fest, was die Chancen verringerte, während die russische Revolution sie erhöhte. Gleichzeitig führten die Alliierten auch deswegen 1917 Offensiven durch, damit eben kein Verhandlungsfrieden geschlossen werden konnte; dasselbe galt für den Zusammenbruch der russischen Truppen, der dem Friedenslager im Kaiserreich den Boden entzog. Diese Dynamiken lagen unter den Verhandlungen in Brest-Litovsk, in denen Tooze eine grundsätzliche Chance erkannte, weil die Deutschen (wenngleich aus eigensüchtigen Motiven) die Prämissen eines liberalen Friedens, also auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, anerkannten, der das Potenzial hatte, auch die unzufriedenen Bevölkerungen im Westen zu erfassen. Doch das Timing einerseits und Lenins verfehlte Analyse der Situation andererseits sowie die starke Opposition gegen einen Unterwerfungsfrieden innerhalb der Bolschewiki verhinderten dies.

Stattdessen wurde der Krieg, wie das sechste Kapitel, "Making a Brutal Peace", zeigt, wieder aufgenommen. Die Expansionisten im deutschen Lager übernahmen, die pan-germanischen Fantasien mitsamt millionenstarker Bevölkerungsverschiebungen und riesiger Annexionen wurden en vogue und waren nicht nur ein PR-Desaster, sondern schlugen auch die Tür für eine nachhaltige Friedensordnung endgültig zu. Die Bolschewisten unterschrieben zwar den Vertrag, aber sie erkannten ihn keine Sekunde an. Nachhaltig war hier gar nichts. Und gerade die Frage nach einem nachhaltigen Frieden ist ja eine, die Tooze besonders beschäftigt - beziehungsweise die Frage nach dessen Scheitern.

Die rapide Desintegration sowohl Chinas als auch Russlands öffnete Machtvakuums, die in Kapitel 7, "The World Come Apart", weiter diskutiert werden. Sowohl Japan als auch USA und die Entente standen unter dem Druck, die russische Infrastruktur zu sichern, die für sie strategisch wertvoll war. Dasselbe galt für die Japaner in China. In jedem Fall allerdings würden diese Interventionen dem Vorwurf des Imperialismus Vorschub leisten und offenbarten Brüche innerhalb der Koalition selbst. In Japan entschied man sich gegen offene Intervention sowohl in Russland als auch China und für eine Kooperation mit den USA, die ihrerseits versuchten, die Entente in eine progressive Richtung zu schieben, die diese aus imperialen Interessen weiterhin ablehnte.

In diesem Kontext findet sich die Frage der im achten Kapitel, "Intervention", besprochene Frage eines Eingreifens der Entente in Russland. Die Alliierten versuchten zuerst, sich einer solchen zu enthalten und die Sowjets durch eine (reichlich absurde) Anerkennung als demokratische Macht zurück in die Entente zu holen. Doch Lenins aus Sicht Toozes weiterhin fehlgeleitete Strategie einer Äquidistanz zu Deutschland (die real nicht durchzuhalten war) einerseits und die Machtübernahme der Militärs in Deutschland andererseits, die Brest-Litovsk zunehmend ignorierten und imperialistisch agierten zerschlug die Möglichkeiten, und so intervenierten die Alliierten, während Russland in einen Bürgerkrieg geriet und die Peripherie litt: die Ukraine wurde von den Deutschen in eine autokratische Marionette und Sprungbrett zur weiteren Zerstörung Russlands verwandelt, während die Türken ihren Vernichtungsfeldzug gegen Armenien fortsetzten. Die Achsenmächte zerstörten jegliche Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Friedenspolitik nachhaltig.

Die Komplextität der Situation macht jede sinnvolle Zusammenfassung dieses Kapitels sehr schwierig. Zwischen dem Sommer 1917, als die demokratischen russischen und deutschen Friedensbemühungen "agonizingly close" schienen, und der hoffnungslos verworrenen Lage im Frühherbst 1918, als Lenin immer mehr in eine offene Allianz mit den imperialistischen Deutschen schlitterte, die ihrerseits das Parlament belogen und Lenin am liebsten vernichtet hätten, ihn aber brauchten; als die Entente Schritt für Schritt in eine Intervention in Russland gezogen wurde; als die politischen Ereignisse im einen Lager Folgewirkungen im anderen hatten und sich immer weiter verstrickten; in dem die Sowjets rapide an Macht verloren und als Reaktion darauf ein offenes Terrorregime aufbauten, mit dem sich die Deutschen verbandelten; in all diesem Chaos war, so Toozes Einschätzung, das Überleben des sowjetischen Rumpfstaats extrem unwahrscheinlich, aufgerieben zwischen alliierter Intervention und deutscher Ausbeutung. Einzig der plötzliche Zusammenbruch Deutschlands an der Westfront, seinerseits Produkt der Hybris und des Unrealismus des Militärs, rettete ihn.

Abschnitt 2, "Winning a Democratic Victory", verlässt dann die Ostfront und wendet den Blick nach Westen, wo die Versuche einen Frieden zu schaffen oder zu erzwingen, eher dem Ziel unterlagen, einen demokratischen Frieden zustandezubringen.

In Kapitel 9, "Energizing the Entente", zeigt Tooze, was damit gemeint ist. Angesichts der Krisen des Jahres 1916/17 entschieden sich Gr0ßbritannien und Frankreich für den genau entgegengesetzten Weg, den Deutschland ging (und wie er in Abschnitt 1 skizziert wurde): auch bei der Entente übernahmen Politiker das Ruder, die fest entschlossen waren, den Kampf bis zum siegreichen Ende zu führen und keine Kompromisse einzugehen (Clemenceau in Frankreich, Lloyd George in Großbritannien). Aber anders als in Deutschland ging dies mit dem Versprechen einer zukünftigen Demokratisierung einher. Der Krieg wurde dadurch zu einer Gleichheitsmaschine, die eine Ausweitung von Bürgerrechten und Partizipationsmöglichkeiten schuf.

Nicht, dass dies nicht interne Konflikte verhinderte. Von den ruchlos niedergeschlagenen Meutereien in der französischen Armee zur legendär harschen Disziplin der britischen Truppen auf der einen Seite und dem Osteraufstand in Irland auf der anderen Seite, der die britische Armee auch noch in eine Art Kolonialkrieg auf dem eigenen Territorium zwang, weil Sinn Fein die erwartbare Niederlage und erwartbare britische Überreaktion für die Dynamisierung ihrer Sache nutzen wollte, bis hin zu den Spannungen in Indien, wo die Einführung der "Home Rule" immer offener verlangt wurde, mangelte es der Entente nicht an Krisen. Die Reaktion darauf aber war genau die gegenteilige wie im Kaiserreich: eine Ausweitung demokratischer Partizipationsrechte. Nicht in dem Umfang, der wünschenswert gewesen wäre, und im Falle Irlands und Indiens nicht ausreichend, um die Legitimitätskrise abzuwenden, aber merklich und von einem patriotischen Konsens getragen.

Auch der Nahe Osten spielt in diesem Bereich eine Rolle. Das Sykes-Picot-Abkommen teilte die Region unter Großbritannien und Frankreich auf, und auch mit Russland waren Übernahmen verabredet gewesen. Doch die im vorherigen Abschnitt besprochene Politik der Sowjets sorgte dafür, dass Russland offen erklärte, kein osmanisches Territorium annektieren zu wollen (einmal mehr die liberalen Prinzipien eines Friedens), was die Entente mit ihren imperialistischen Plänen im Nahen Osten in Verlegenheit brachte und zu einer angepassten Rhetorik und Plänen zwang, die nicht mehr eine direkte Übernahme ins eigene Imperium darstellen konnten. Die Konstruktionen der Völkerbundmandate und die Probleme, die sich daraus entwickeln würden, waren hier also bereits angelegt.

Ein anderer Bereich wird im zehnten Kapitel, "The Arsenals of Democracy", beleuchtet: die wirtschaftliche Situation. Im ersten Abschnitt hatte Tooze bereits die immer größere Abhängigkeit der Entente von amerikanischen Krediten beleuchtet. Die Finanzen stehen auch in diesem Kapitel im Zentrum, wenngleich er zuerst den Mythos wegräumt, dass die USA im ersten Weltkrieg wie im zweiten das Kriegsgerät der Alliierten produziert hätten: die amerikanischen Truppen waren einzig als Körper wichtig; bewaffnet wurden sie von Frankreich und Großbritannien. Amerika lieferte Rohmaterial, das in Europa veredelt wurde. Viel wichtiger ist Tooze der Finanzrahmen: der Kriegseintritt der USA sorgte für eine Koordination der Finanzen, die das Pfund Sterling entscheidend absicherte (obwohl die Amerikaner dies nicht wollten, weil sie eigentlich den Dollar zur Leitwährung machen wollten; dies würde eine mittel- statt kurzfristige Entwicklung sein). Aber die Strategie der Entente, sich auf einen "knock-out blow" festzulegen statt eine langsamere weitere Abnutzung und möglicherweise doch noch einen Verhandlungsfrieden, erzwang die völlige Abhängigkeit von den USA - eine durchaus umstrittene Festlegung.

Kapitel 11, "Armistice: Setting the Wilsonian Script", befasst sich mit der Politik des Waffenstillstands. Im Oktober appellierte die deutsche Regierung bekanntlich direkt an Wilson, auf Basis der 14 Punkte einen Frieden zu schließen. Tooze zeigt auf, wie problematisch das für alle Beteiligten war: die Deutschen riskierten, die Briten und Franzosen zu brüskieren und damit die langfristige Tragfähigkeit eines Friedens zu untergraben, während die Amerikaner riskierten, die Entente zu spalten. Entsprechend scharf war die Opposition gegen einen Waffenstillstand (den man gerne teleologisch als gesicherte Sache ansieht) gegenüber einer bedingungslosen Kapitulation. Tooze betont, wie viel Glück die Deutschen damit hatten, dass Wilson das Angebot annahm und das Risiko einging, womit er Amerika de facto aus dem Bündnis herausnahm und in die Arbiterrolle zurückbrachte, die er (siehe Abschnitt 1) in den ersten Jahren des Krieges angestrebt hatte. Glück deswegen, weil im Oktober Staat und Armee des Kaiserreichs zusammenbrachen; die Alliierten hätten vermutlich recht leichtes Spiel gehabt.

So rettete der Waffenstillstand die Souveränität Deutschlands und machten Versailles zu einem sehr großzügigen Frieden, was den Alliierten wohl bewusst war, weswegen das spätere deutsche Jammern auch so viel Unmut in Paris und London weckte und eine schwere Hypothek für die Weimarer Außenpolitik darstellte. Das allerdings machte Wilson nicht zu einem Freund der Deutschen. Er sah sie als Mittel zum Zweck, um einen zu großen Aufstieg der Entente-Mächte zu verhindern. Wilson glaubte nicht an eine deutsche Demokratie, genauso wenig, wie er an demokratische Rechte für Schwarze in den USA glaubte, weil er der Überzeugung war, dass sich Demokratie über Jahrzehnte langsam und geleitet herausbilden musste. Dieses Missverständnis würde für viel Enttäuschung in Deutschland sorgen, wo hochfliegende und absurde Hoffnungen in Wilson gesetzt wurden. Als Seitenbemerkung rettete der deutsche Zusammenbruch auch die Sowjetunion, weil Lenin dadurch der Notwendigkeit eines Bündnisses mit Ludendorff enthoben wurde und plötzlich die Weißen und nicht die Roten die von äußeren Mächten unterstützte Macht waren - noch dazu unzureichend unterstützt, weil der Waffenstillstand jede Unterstützung einer Intervention in Russland nahm. Für die Bolschewisten war dies die Wende im beginnenden Bürgerkrieg.

Das zwölfte Kapitel, "Democracy Under Pressurce", betrachtet die Lage in Deutschland und vor allem in Großbritannien. Für Deutschland hat Tooze wenig Bemerkenswertes im Angebot; seine kurze Skizze der deutschen Revolution ist für Lesende aus dem Ausland sicherlich relevant, aber letztlich nur eine konzise Darstellung der Ereignisse, die den Forschungsstand wiedergibt. Interessanter ist der wesentlich detailliertere Blick auf die britische Innenpolitik, wo die Ausweitung des Wahlrechts nicht wie erwartet in einem Labour-Sieg endete, sondern in den populistischen "khaki election" eine liberalkonservative Regierung unter Lloyd George im Amt bestätigte. Er erwies sich aber als umsichtiger Staatsmann, der alle Beteiligten zu einem großen Kompromiss an den Tisch brachte, was durch die spiegelbildliche Verantwortung und Umsichtigkeit bei Labour und vor allem den Gewerkschaften erleichtert wurde. Zwar wurden die Staatsausgaben deutlich gekappt (anders als Labour das gerne gesehen hätte), aber Raum für präzedenzlose wohlfahrtsstaatliche Ausgaben gemacht, die "zum ersten Mal in der Geschichte der Wohlfahrt den Vorrang vor der Verteidigung des Empires" gaben. Gleichzeitig stiegen die Steuern drastisch an und reduzierten deutlich die Ungleichheit (wenngleich, erneut, in geringerem Umfang als von Labour gefordert). Damit gelang den Briten eine weitgehend reibungslose Demobilisierung und Befriedung innerer Konflikte. Der Preis dafür war aber eine aggressiv-populistische Reparationsrhetorik, die die Friedensverhandlungen nachhaltig belasten sollte.

Mit eben diesen beschäftigt sich Abschnitt 3, "The Unfinished Peace".

In Kapitel 13, "A Patchwork World Order", zeigt Tooze auf, dass Wilson als wahrer Sieger nicht vorhatte, dies die Agenda bestimmen zu lassen. Der erste Tagesordnungspunkt der Konferenz war der Völkerbund, nicht die Friedensfrage mit Deutschland. Wenn es nach Wilson gegangen wäre, hätte sein "peace without victory" auch in Versailles Bestand gehabt. Stattdessen entstand ein Tauziehen um die Gestaltung des Völkerbundes, das Tooze mit Bravour nachzeichnet. Die Amerikaner wollten sich nicht zu formal binden, aber gleichzeitig eine schlagkräftige Institution, die den Frieden sichern konnte. Die Franzosen hatten eine geradezu radikale Vision eines demokratischen Bündnisses von USA, UK und Frankreich zur Sicherung, mussten aber erkennen, dass die Angelsachsen kein Interesse hatten und torpedierten daher die Abrüstungsvereinbarungen, um gegenüber Deutschland nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die Briten ihrerseits wollten das Empire nicht gegenüber den USA preisgeben und nicht in die Streitigkeiten des Kontinents verwickelt werden.

Dazu kamen zahlreiche Rang- und Verfahrensfragen. Wer war Großmacht, wer nicht? Wer hatte welche Rechte? Sollten nur Demokratien Mitglied werden? Wie würden die definiert? Was war mit Deutschland? Wie sollte der Friede erzwungen werden? Eine stehende Armee bekam der Völkerbund nicht, einen Beistandsautomatismus auch nicht. Stattdessen appellierte Wilson dazu, den USA zu vertrauen, dass sie schon zu Hilfe eilen würden, wenn ein kleiner Staat angegriffen würde; ein äußert zweifelhaftes Versprechen, milde ausgedrückt. Letztlich gelang es den Briten, ein wichtiges Ziel zu erreichen und einen offenen Konflikt und Wettrüsten mit den USA zu verhindern, indem sie ihre Zustimmung zum Völkerbund davon abhängig machten, dass die USA sich auf verbindliche Rüstungskontrolle zur See einließen. Da der Völkerbund die Royal Navy zum Erzwingen der vorgesehenen Sanktion der Blockade brauchen würde, war Wilson hier auf Lloyd Georges Unterstützung angewiesen.

Das vierzehnte Kapitel, "The Truth About the Treaty", wendet sich den Franzosen zu. Überraschenderweise kommt Tooze zu dem Schluss, dass sie effektiv die Idee des liberalen Friedens zu Beginn der Verhandlungen am konsequentesten vertraten. Sie akzeptierten nämlich von Beginn an die Souveränität und Nationalstaatlichkeit Deutschlands, eine Prämisse, die selbstverständlich sicherlich nicht war. Ihr Interesse war es, einen schlagkräftigen Völkerbund auf Basis eines französisch-angelsächsischen "Bündnis der Demokratien" zu gründen, der ihre Sicherheit garantieren würde. Die beiden Nationen hinter dem Spiegelstrich hatten daran jedoch kein Interesse, vor allem die Amerikaner nicht, weswegen die Franzosen versuchten mussten, diese einzubinden. So bestanden sie etwa darauf, dass die Waffenstillstandsbedingungen von allen Seiten garantiert wurden und dass die Besetzung des Rheinlands auch britische und amerikanische Truppen beinhaltete. Die Franzosen hofften, möglichst starke Verpflichtungen zu erreichen.

Die Souveränität eines "Friedens unter Gleichen", die sie Deutschland zugestanden, konnte dort freilich nicht goutiert werden. Die nationalistischen Impulse gewannen bereits die Überhand, aber viel größer war das Problem, dass Deutschlands Gleichrangigkeit sich auch auf die slawischen Länder erstreckte: für den deutschen Stolz war es unvorstellbar, gleich wie Polen behandelt zu werden, obwohl die Ausschüsse der Friedensverhandelnden eine große Sachkenntnis und Rücksicht auf alle Beteiligten bei der Ziehung der Grenzen walten ließen, inklusive Volksabstimmungen. Da für die Deutschen aber inakzeptabel war, dass überhaupt je ein Deutscher von Polen regiert werden würde, war hier ohne massive und mit unermesslichen Leiden verbundenen Bevölkerungsverschiebungen nichts zu erreichen - wie sie dann 1945 folgen würden.

Tooze betont, dass Deutschland damit aus den Weltmächten ausschied und in eine letztlich den USA untergeordnete Stellung platziert wurde. Dieses Schicksal abzuwenden war ein zentrales Interesse von sowohl Franzosen als auch Briten, aber Toozes beißende Schlussworte, dass das Schicksal Deutschlands durch den Versailler Vertrag letztlich allen europäischen Staaten blühte, beleuchtet den Vertrag einmal mehr aus einer anderen Warte und betont wieder die zentrale Rolle der Vereinigten Staaten, die sich gleichwohl so weit wie möglich herauszuhalten versuchten.

Diese Tendenz wird in Kapitel 15, "Reparations", noch wesentlich klarer. Die Amerikaner hatten kein Interesse an Reparationen durch Deutschland, sondern der Bezahlung der Schulden. Sie wollten ein allgemein ausgeglichenes, zurechtgestutztes Europa, von dem sie isoliert und unabhängig waren. Genau das wollten Großbritannien und Frankreich vermeiden. Die Franzosen verlangten in Toozes Erzählung gar keine so hohen Reparationen (zwischen 90 und 120 Milliarden, je nachdem, wer noch welche bekam; die 1921 festgelegte Endsumme lag bei 130 Milliarden). Stattdessen seien es die Briten gewesen, die die Reparationen erhöht hätten. Dass nämlich die zerstörten Regionen in Frankreich und Belgien wieder aufgebaut werden müssten und dies durch deutsche Gelder geschehen müsste, sei auch in Deutschland grundsätzlich unstrittig gewesen. Doch die Briten wollten ihre eigenen Verluste, weniger sichtbar, aber substanziell durch die zerstörten Kapitalstöcke und damit der Machtbasis des Empire, ebenfalls ersetzt sehen.

Dies wiederum suchten die Amerikaner zu verhindern, die ja gerade ein Interesse daran hatten, dass die europäischen Staaten ohne US-Hilfe schwach und getrennt bleiben würden. Sie verhinderten kategorisch jede Einigung zwischen ihren Schuldnern und verhandelten stets bilateral. Die besonders von den Briten geforderten Moratorien lehnten sie komplett ab. Tooze beschäftigt sich hier noch explizit mit Keynes' Rolle als Kritiker des Friedens, an dessen Argumentation er wenig gute Haare lässt. Er erklärt Keynes zu einem der Hauptverantwortlichen für die Radikalisierung des Reparationsdiskurses und die Ereignisse von 1923.

Das sechzehnte Kapitel, "Compliance in Europe", wendet den Blick zuerst nach Italien. Nachdem der amerikanische Kriegseintritt dort 1917/18 zu riesigen Propagandaerfolgen führte, hoffte Wilson nun, die italienische Bevölkerung gegen deren eigene Regierung von einem Bestehen auf dem Londoner Abkommen abzuhalten, das so den liberalen Prinzipien des Friedens widersprach. Tooze betont, welch grundsätzliches Problem die italienische Frage mit ihrem Beharren auf den vertraglichen Festsetzungen als alternatives Legitimationskonzept bedeutete. Ultimativ war das Land aber zu unbedeutend, um gegen die geeinte Front der Entente bestehen zu können und kam an und für sich mit guten Grenzen aus dem Krieg, die gleichwohl die nationalistischen Gefühle nicht befriedigten. In den Wahlen verloren die Liberalen (aber auch die Rechtsextremisten!) massiv; Gewinner waren die Sozialisten. Das war für Italien tragisch, weil diese sich an der UdSSR orientierten und an die baldige Revolution glaubten, wodurch sie in Toozes Erzählung den elektoral besiegten Faschisten eine Wiedergeburt als Kämpfer gegen den Sozialismus ermöglichten.

In Deutschland demgegenüber sah sich die neue Regierung dem Erwartungsmanagement ausgesetzt. Besonders die SPD war gespalten. Tooze zeigt deutlich auf, wie etwa Scheidemann sich und einen Flügel seiner Partei rhetorisch in eine Sackgasse manövrierte. Viel lobende Worte hat er Erzberger, dessen Realismus und Pragmatismus am Ende als korrekt interpretiert wurde, selbst von Nationalisten wie Stresemann oder Brockdorff-Rantzau. Seine Nachforschungen überraschten Tooze insofern, als dass die deutsche Regierung sehr viel Energie in die Frage investierte, ob man nicht unterschreiben und sich den Alliierten preisgeben sollte. Tooze verwirft das als verheerend und betont einmal mehr, wie viel Glück die Deutschen mit dem Waffenstillstand hatten, weil es ihren Staat überhaupt gerettet hatte. Freilich sah man das im Land anders; die Regierung setzte sich an die Spitze eines "choreographierten" Aufruhrs gegen den Vertrag. Nicht, dass es viel geholfen hätte: bei den Wahlen 1920 wurde die Regierung dezimiert. Dazu kam, dass die Überlegung einer Fortsetzung des Krieges einen Putschistenkern schuf, der mit Kapp 1920 und später immer wieder die Weimarer Republik herausforderte.

In Kapitel 17, "Compliance in Asia", wendet Tooze den Blick nach Asien, vor allem Japan und China. Die Japaner hatten ja gegen Ende des Krieges auf eine Kooperationspolitik mit Beijing und China umgeschaltet und sich ebenfalls für die liberalen Prinzipien erklärt. Die Amerikaner versuchten jedoch durch strategische Stärkung Chinas, ihren Einfluss deutlich zu begrenzen. Formell entflammte der Konflikt über die Gleichheitsfrage: die Japaner versuchten, eine Gleichheit aller Nationen und Menschen in den Vertrag zu schreiben, was die Briten (Balfour: "all men are created equal is an 18th century idea; the idea that a European could be equal to Central African is patently absurd") und Amerikaner entschieden ablehnten und damit die Japaner schwer beleidigten.

Die Japaner wollten den Fehler der Italiener nicht wiederholen und versuchten daher, sich darauf zu konzentrieren, die Rechte an der ehemaligen deutschen Kolonie in Shangdong zu erhalten. Dies widersprach zwar den 14 Punkten, doch war Großbritannien nicht bereit, seinen wichtigen Alliierten an dieser Stelle zu brüskieren. In China erreichte daher die nationale Erregung einen neuen Höhepunkt. Das Land verweigerte daher seine Unterschrift unter den Vertrag und fiel als Gründungsmitglied des Völkerbunds aus, was das liberale Projekt einmal mehr gefährdete.

Die größte fehlende Unterschrift war aber natürlich die amerikanische, deren Fehlen Kapitel 18, "The Fiasco of Wilsonianism", erklärt. Auf der einen Seite sieht Tooze politische Fehler durch Präsident Wilson. Anstatt einen Kompromiss mit den moderaten Republicans zu suchen (was wegen der Polarisierung der Wahlkämpfe 1916 und 1918 allerdings erklärtermaßen schwierig war), versuchte er, kraft seines Charismas die Reinversion des Vertrags durchzuboxen, die durch die Zugeständnisse an Japan und die Entente jedoch nicht den hehren liberalen Prinzipien entsprach.

Doch die Verquickung der innenpolitischen Situation der USA mit ihrer Außenpolitik war das größere Problem. Der Krieg hatte auch in den USA für eine merkliche Inflation gesorgt, die den Lebensstandard der Arbeiter merklich gefährdete. Die Streiks von 1919/20 scheiterten jedoch am erbitterten Widerstand der Unternehmer und dem Unwillen der Democrats, entscheidend zu helfen, so dass die Gewerkschaften gebrochen wurden - und mit ihnen das elektorale Bündnis der Wahlsiege von 1912 und 1916. Stattdessen wurde das Land vom Red Scare und einer Welle rassistischer Gewalt erfasst, wie es sie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr gesehen hatte. Das Ganze verschlimmerte sich, als die Fed die Inflation mit einer drastischen Zinserhöhung abwürgte und die amerikanische Wirtschaft in die Rezession stürzte. Besonders im Süden der USA breitete sich der Ku-Klux-Klan wie ein Flächenbrand aus, Rechtsextremisten wurden in Ämter gewählt und beinahe jeder fünfte Mann war Mitglied der mit Rassengewalt agierenden Bande.

Diese Entwicklungen waren so dramatisch, weil sie weit über die USA hinausreichten. Das Land war zum ökonomischen Dreh- und Angelpunkt der Welt geworden, verhielt sich aber wie ein isolierter Player. Tooze weist darauf hin, dass die Label "Internationalist" und "Isolationist" zeitgenössische Polemik sind; die Republicans waren keine Isolationisten, sondern redeten einem "triumphant nationalism" das Wort. Die Zölle von über 60%, die unter Harding errichtet wurden, hatten aber zusammen mit der Politik der Fed den Effekt eines riesigen, weltweiten deflationären Schocks.

In Abschnitt 4, "The Search for a New Order", untersucht Tooze die Folgen dieses Schocks.

Das neunzehnte Kapitel, "The Great Deflation", beginnt mit der Betrachtung der von den USA ausgehenden weltweiten Wirtschaftskrise. Überall hatten Staaten mit kriegsbedingter Inflation zu kämpfen, die sich kaum vermeiden ließ. In dieser Situation hätte es der USA bedurft, um die fehlende Nachfrage in Europa auszugleichen (wie es ja nach dem Zweiten Weltkrieg auch der Fall gewesen war), doch die USA weigerten sich, in diese Bresche zu bringen. Stattdessen fuhren sie eine restriktive Geldpolitik, die die Welt in eine Rezession zwang, wollten sie die Stabilität ihrer Währung aufrechterhalten. Aus politischen Gründen folgte Großbritannien diesem Kurs, was gewaltige Lasten für die Bevölkerung bedeutete, die man dann mit Reparationen und dem Rückgriff auf das Empire auszugleichen hoffte.

Genau dieser Rückgriff auf das Empire aber war wegen der im zwanzigsten Kapitel, "Crisis of Empire", geschilderten Krise des britischen Reiches nicht möglich. Die großen Hoffnungen auf einen neuen Höhepunkt des Empires, die mit der Verteilung der deutschen Kolonien und der Zerstörung des Osmanischen Reichs einhergegangen waren, machten bald der Ernüchterung breit. In Irland fand Anfang der 1920er Jahre ein blutiger Unabhängigkeitskrieg sein Ende, der direkt in einen Bürgerkrieg überging, während es die Briten in Ägypten nicht vermochten, ihren Paternalismus abzulegen und ein demokratisches, aber souveränes Ägypten zu akzeptieren und stattdessen Autokraten an die Macht putschten.

Ähnlich sah die Situation in Indien aus. Hier half eine improvisierte Politik durch Montagu einerseits und taktische Fehler sowie externe Ereignisse andererseits, eine Situation wie in Irland zu verhindern. Das liberale Imperium sah sich durch Ghandis Taktik der gewaltlosen Opposition in seinen Grundfesten herausgefordert; seine moralische Überlegenheit verwandelte sich in eine Schwäche. Allerdings gelang es Ghandi (noch) nicht, eine allumfassende Koalition zu schmieden. Zwar überraschte er die Briten durch ein Bündnis mit den pakistanischen Muslimen, die vor allem über den Umgang mit dem osmanischen Sultan und dem Kalifat entrüstet waren (was London dazu bewog, der Türkei deutlich entgegenzukommen), aber die Briten ihrerseits konnten afghanische Überfälle und ihre türkische Diplomatie gegen Ghandis Koalition in Stellung bringen und ihn durch ihre flexible liberale Politik zu einer Überreaktion bringen, die ihn die Unterstützung der moderaten Inder kostete und es Großbritannien erlaubte, ihn ohne große Folgen festzunehmen. Wie Tooze abschließend bemerkt, retten die Liberalen das Empire vor seinen konservativ-reaktionären Extremisten, die die Ereignisse als Beleg für ihre Richtigkeit nahmen (mit verheerenden Folgen später), während die liberale Sache durch die Kompromisse und offensichtlichen Widersprüche zwischen Haltung und Handlung geschwächt wurde.

Das einundzwanzigste Kapitel, "A Conference in Washington", betrifft die Flottenkonferenz von 1922. Tooze bemerkt direkt zu Beginn, wie außergewöhnlich sie war. Nicht nur, weil die ausrichtenden USA durch die Offenheit, Klarheit und Sinnhaftigkeit ihrer Vorschläge direkt für eine konstruktive Atmosphäre sorgten, sondern auch, weil die Briten bereit waren, Parität mit den USA zu akzeptieren und damit ihren bis 1914 gehegten Anspruch auf Vormachtstellung offen aufgaben; eine gewaltige Konzession, die die Schwäche des Empire und seiner Finanzen überhaupt deutlich macht.

Die zahlreichen politischen Probleme sind für uns als Lesende geradezu frustrierend: die Rücksichtnahme auf japanischen Jingoismus, wo die Bevölkerung den riesigen Erfolg, den diese Konferenz für das Land bedeutete, nicht anzuerkennen bereit war, oder Frankreichs Willigkeit, die Konferenz zu sabotieren, um Zugeständnisse der USA in der europäischen Sicherheitsfrage zu erzwingen. Die Konferenz bleibt aber letztlich in einem starken Kontrast zum Scheitern vieler anderer Initiativen (siehe Kapitel 23).

Kapitel 22, "Reinventing Communism", beschäftigt sich mit der sowjetischen Perspektive. Denn der Triumph (und das spektakuläre Scheitern) liberaler Ideen vollzieht sich vor einem kontrafaktischen Hintergrund: das Scheitern der Weltrevolution. 1917 hielten Kommunisten weltweit in Erwartung der Erfüllung Marx'scher Ideen den Atem an. 1919 war klar, dass die Weltrevolution nicht stattfinden würde. 1922 stand das Überleben der UdSSR weitgehend außer Frage. Tooze erklärt, dass ein seismischer Wandel stattfand: die kommunistischen Theorie wandte sich enttäuscht von den Arbeitern, die nun im Griff der Reaktion waren, zu den Bauern als revolutionärer Trägerschicht, von den Industriestaaten zur kolonialen und semi-kolonialen Peripherie. Diese Dynamik sollte für die Weltgeschichte der nächsten Jahrzehnte prägend werden.

Die Kriege der jungen Roten Armee gegen ihre inneren und äußeren Feinde endeten letztlich siegreich. Vor allem die britische Entscheidung für eine Anerkennung der UdSSR und eine Einstellung der Unterstützung der Weißen war für diese der Sargnagel. Die andere große Gefahr, Polen, erledigte sich durch den Verlauf des Krieges, in dem zuerst Pilsudski und dann Trotzki strategische Fehler begingen, die dann zu dem für beide Seiten unbefriedigenden Status führten, der 1939 gewalttätig aufgelöst werden sollte. Tooze legt sein Augenmerk außerdem auf die Komintern, die seinerzeit gegründet wurde. Hier wurde der ideologische Konflikt ausgetragen, der zwischen den Befürwortern einer Konzentration auf die Bauernschaft Asiens und den Orthodoxen, die sich auf das europäische Proletariat konzentrieren wollten, geführt wurde. Das Scheitern der europäischen Revolutionen und Streikwellen einerseits und die Konsolidierung der UdSSR andererseits führten dann zu einer zynischen Machtpolitik der UdSSR und einer Linientreue der kommunistischen Parteien auf eine bedingungslose Unterstützungsfunktion Moskaus.

Das dreiundzwanzigste Kapitel, "Genoa: The Failure of British Hegemony", beginnt mit einer Darstellung der britischen Schwäche zu Beginn der 1920er Jahre, mit bis zum Zerreißen gespannten imperialen Infrastruktur, die von Irland bis Indien unter Beschuss steht und die Bürde zusätzlicher Konflikte nicht tragen kann. Der liberale Premierminister versuchte, das Heft das Handelns an sich zu reißen und sowohl die verfahrene außenpolitische Situation zu lösen als auch gleichzeitig seine innenpolitische Situation - unter Beschuss von links durch Labour und rechts durch die Konservativen - durch einen Konferenzerfolg zu verbessern. Die Zielsetzung, quasi im Alleingang eine neue liberale Weltordnung zu etablieren, sieht Tooze als "atemberaubend", auch angesichts der mangelnden britischen Ressourcen.

Doch die Konferenz stand von Beginn an unter einem schlechten Stern: die USA weigerten sich komplett teilzunehmen, während die Briten und Franzosen sich misstrauten und London nicht bereit war, ein bilaterales Bündnis mit Paris einzugehen und stattdessen auf einen riesigen multilateralen Lösungskomplex hoffte, in dem alle europäischen Länder in kollektiven Sicherheitsgarantien zusammenkommen würden und so auch Geld für Russland zusammenkommen würde, mit dem man es wiederaufbauen und in die Familie der kapitalistischen Staaten zurückführen würde können. Die Konferenz scheiterte jedoch an einem zentralen Missverständnis über die Absichten und Stabilität der sowjetischen Regierung, dem Chauvinismus der Deutschen (die die großzügige britische Position völlig verkannten und stattdessen mit Rapallo auf Konfrontationskurs gingen), der Zerrissenheit der Italiener, die kurz vor dem "Marsch auf Rom" standen, und dem Misstrauen zwischen Frankreich und Großbritannien. Der größte Faktor aber blieb der amerikanische Isolationismus, der keine Festlegung für die Sicherheit des Kontinents eingehen wollte.

Auch in Kleinasien war die britische Position katastrophal. Der Konflikt mit Frankreich war hoch aggressiv, und der Versuch, das osmanische Regime zu instrumentalisieren, scheiterte und führte zu seinem endgültigen Untergang. Auch die Unterstützung der Griechen brachte nicht den erhofften Erfolg, sondern sorgte bei Smyrna einerseits für ein genozidales Massaker und andererseits für einen Beweis britischer Impotenz, falls es noch eines bedurft hätte. Tooze sieht Großbritannien in Folge der verketteten Desaster - Indien, Irland, Genua, Türkei - am Rand des Krieges, der auch die nun Deutschland und die Türkei stützende Sowjetunion einbezogen hätte. Letztlich gelang es nur mit bitteren Kompromissen und viel Gesichtsverlust, von diesem Abgrund zurückzuweichen.

Eine große Atempause gab es derweil nicht. In Kapitel 24, "Europe on the Brink", stellt Tooze die These auf, dass der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich, der 1923 seinen Höhepunkt erreichte, die 1930er Jahre quasi in einem Mikrokosmos abbildete. Die Bereitschaft beider Seiten zur Eskalation stellte die gesamte Friedensordnung zur Disposition. Auf einmal waren die Souveränität Deutschlands und seine territoriale Integrität wieder in Frage gestellt. Die USA und Großbritannien hielten sich raus, in der Erwartung, dass es zu einem Patt kommen würde. Die Franzosen rechneten damit, ökonomisch und politisch siegreich zu enden. Poincaré behielt Recht. Im Sommer 1923 war die deutsche Lage unhaltbar.

Allerdings betont Tooze, dass die Franzosen davor zurückschreckten, Deutschland den Todesstoß zu versetzen. Die mangelnde Unterstützung für Separatismus einerseits und die innenpolitischen Gefahren für Frankreich andererseits bewogen die Regierung neben der nun erfolgenden anglo-amerikanischen Intervention (nicht zum Schutz Deutschlands, aber zur Einhegung Frankreichs) dazu, einen Ausgleich zu suchen. Es war dieser Kontext, der die Tür für die Vermittlung von Charles Dawes öffnete, denn die Reparationsfrage stand hinter allem: Großbritannien hatte bereits einen (wenngleich harschen) Zahlungsplan mit den USA verhandelt; nun schien die Möglichkeit, auch für Frankreich einen zu bekommen und damit die Spirale der Eskalation mit Deutschland zu brechen, in Reichweite.

Angesichts der Kräfteverhältnisse erscheint dieser französische Rückzug ein wenig verwunderlich; gleichwohl folgte dieser "latter day Wilsonianism" einer gewissen Logik. Vor allem der britische Politikwechsel hin zu einer eng finanzbasierten Sicht (der realwirtschaftliche Gegebenheiten weithin unbeachtet ließ), der eine isolationistische Position nach dem Desaster von 1922 ermöglichte, stellte das Reparationssystem auf eine neue und wesentlich nachhaltigere Grundlage. Die Finanzlogik zog die Außenpolitik quasi hinter sich her, machte den Wilsonischen Universalismus - der in den 1930er Jahren nur noch eine Farce sein sollte - zur realpolitischen Position, von Morgan zu Stresemann. Die Logik der Wallstreet legte Frankreichs revanchistischen Ambitionen Zügel an, beförderte Londons Rückzug in die splendid isolation, bestimmte nachhaltig die Politik der Weimarer Republik und hielt Mussolini von weiteren Abenteuern wie auf Corfu ab.

Dieser neue Status Quo wird in Kapitel 25, "The New Politics of War and Peace", stärker ausgeführt. Ausgehend von Stresemanns Nobelpreissieg zeigt Tooze, wie die Wallstreet-Kredite alle Ebenen der deutschen Wirtschaft - mit Ausnahme der bankrotten Reichsebene - fluteten. Die Hyperinflation hatte angesichts der starken industriellen Substanz dafür gesorgt, dass die finanzielle Lage abgesehen von der Reparationsbelastung besser als war als bei Frankreich und Großbritannien, die unter starken Kreditbelastungen in den USA litten. Der Vertrag von Locarno schrieb den Status Quo im Westen (!) fest. Ein neues System schien geboren.

Zwar blieben Dilemmata ungelöst. Da die Amerikaner sich partout an keinem Sicherheitssystem beteiligen wollten, andererseits aber auch die Herausbildung eines europäischen verhinderten (indem sie etwa Deutschland verboten, für Frankreich Kredite aufzunehmen) und auch die Stärkung des Völkerbunds blockierten (indem sie sich ein Veto vorbehielten, das die USA auch rechtlich auf eine Super-Staat-Stufe gestellt hätte), blieben zentrale Konflikte ungelöst. Für Großbritannien und Frankreich war eine Politik ohne Anlehnung an die USA (der Albtraum von 1916) unmöglich, aber eine Politik mit den USA genauso. Die Deutschen ihrerseits waren von vernünftigen Politikern regiert, die die Aussichtslosigkeit einer konfrontativen Politik erkannten. Stresemanns Ziel war es, Deutschland finanziell von den USA abhängig zu machen und so in der Lage zu sein, diese als Hebel gegen Frankreich und Großbritannien zu nutzen, sollte es zu einer neuen Krise kommen - quasi eine orchestrierte Neuauflage von 1923.

Indessen in China brach die imperiale Politik der Briten und Amerikaner in sich zusammen, als die nationalistische Guonmindang - unter großzügiger sowjetischer Unterstützung - große Gewinne machte und nicht bereit war, die benachteiligte rechtliche Stellung weiter hinzunehmen. Durch die Einnahme Shanghais und Nanjings kam es beinahe zu einem bewaffneten Konflikt mit den Briten, der sich aber mangels amerikanischer Unterstützung einerseits und durch geschicktes Agieren der Guonmindang andererseits nicht manifestierte. Auch für die Japaner war die Entwicklung ein Desaster; ihre Besetzung der Mandschurei brachte nicht die erhofften Dividenden, und nach dem Fall der Ultrakonservativen bekannte sich auch Japan zum liberalen Regime und versuchte, über Abrüstung und den Goldstandard einen Modus Videndi zu finden. Nicht einmal die Sowjets profitierten vom durchschlagenden Sieg der Guonmindang, als Chiang Kaitschek nach dem Tod Sun Yatsens die exponierten Kommunisten ermordete und so die (für den Moment unbestrittene) Führungsrolle an sich riss. Für Tooze zeigen die Jahre 1924-1928 deutlich die überraschende Resilienz der neuen Friedensordnung.

Das ändert sich auch nicht durch die im sechsundzwanzigsten Kapitel, "The Great Depression", denn die Anfangsjahre dieser weltumspannenden Krise zeigten laut Tooze gerade die Festigkeit des neuen Regimes: alle Länder, auch Deutschland, Italien und Japan, beugten sich dem Diktat der liberalen Weltordnung und dem Goldstandard und führten schmerzhafte Austeritätsmaßnahmen durch. Dass diese Maßnahmen die Katastrophe bedeuteten, ist mittlerweile unbestritten, aber Tooze zeigt Sympathie für die zugrundeliegende Logik der "goldenen Ketten": nicht nur verhinderten sie sozialistische Expansionspläne, die hegten auch nationalistische Aufrüstungsbestrebungen ein (ironischerweise hielt sich Mussolini selbst in den 1930er Jahren an das liberale Wirtschaftsregime und schwächte damit seine eigene Armee deutlich). Die gesamte Friedensordnung der 1920er Jahre basierte auf diesen Ideen. Die notwendige internationale Kooperation fehlte aber.

Aber ab 1931 brach das System auseinander. Der Protektionismus vor allem der USA machte es zunehmend unmöglich zu exportieren, während gleichzeitig Schulden in Dollar abzubezahlen waren. Das Ausscheren Großbritanniens aus dem Goldstandard sei ein solcher Schlag gewesen, dass es sogar den Mukden-Zwischenfall aus den Schlagzeilen verdrängte. Für die Nationalisten aller Länder bedeutete dies, dass in der Wahl zwischen dem eigenen ökonomischen Status und der Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung ersteres Präzedenz haben würde. Ob im progressiven New Deal, in der NS-Aufrüstungsdiktatur oder in MacDonalds Großbritannien, die liberale Ordnung zerfiel. Protektionismus, eine neue Rolle des Staates und Aufrüstung (vor allem in Deutschland und Japan) waren nun das Gebot der Stunde.

Im Abschluss, "Raising the Stakes", zieht Tooze noch einmal ein Fazit. Er betont die Stärke der Demokratien, die nur durch eine beispiellose Mobilisierung totalitärer Diktaturen überhaupt gefährdet werden konnten. Das große Vorbild, den "first mover" unter den Rebellen, identifiziert er in der Sowjetunion: hier wurde erstmals der für das 20. Jahrhundert so typische Versuch eines Aufholens des Vorsprungs des Westens unter Anspannung aller Kräfte unternommen, hier der liberale Status Quo zuerst und ideologisch stringent herausgefordert. Und hier forderte er auch zuerst Opfer in Millionenhöhe. Die USA, so bilanziert Tooze abschließend, hatten Wilsons Ziel erreicht: sie waren die absolut vorherrschende Macht mit Veto-Kraft über alle anderen, doch ihr Unwille, die Verantwortung zu übernehmen und eine dauernde Friedensordnung zu erreichen, mündeten im Auftauchen der Revisionisten. Und diese waren auf Blut aus.

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In der Lektüre des Jahres 2025 fällt mir als erstes die Weitsicht des 2014 veröffentlichten Tooze auf, der hier bereits viele Themen anspricht, die erst in der folgenden Dekade an Prominenz gewinnen sollten. Ich will das nur an zwei Beispielen festmachen. Das erste ist der Rassismus Woodrow Wilsons, der nicht nur für die innenpolitische Lage der USA selbst, sondern auch für die Friedensordnung Konsequenzen haben sollte und in der breiten Debatte erst durch die #BLM-Bewegung ins Augenmerk rückte. Ein anderer ist die hervorgehobene Bedeutung Chinas, das normalerweise in Betrachtungen der Versailler Friedensordnung keine allzu große Rolle spielt (oder in denen des Ersten oder Zweiten Weltkriegs), das aber hier quasi seine eigene Gründungsgeschichte erlebt, die fundamental mit dieser Ordnung verwoben ist. Diese Verbindung zwischen Fernost und Europa deutlich zu machen (neben der wesentlich offensichtlicheren zwischen Europa und den USA) ist ein großes Verdienst dieses Buches, das allein die Lektüre lohnt.

Ein für mich interessantes Detail war Toozes negative Sicht auf die Möglichkeit einer deutschen Nichtannahme des Versailler Vertrags, etwas, das etwa Sebastian Haffner in seinen Analysen der 1970er Jahre noch eingefordert hatte. Vermutlich lag Haffner hier dem anachronistischen Irrtum auf, die glückliche Gründung der BRD aus den Besatzungszonen auf eine mögliche Besetzung und Zersplitterung Deutschlands 1919 zu übertragen. Ich halte Toozes Interpretation des Versailler Vertrags als im Grunde großzügige Friedensordnung für gerechtfertigt. Dass die deutschen Zeitgenoss*innen - ebenfalls anachronistisch - den Vergleich zu Friedensordnungen des 19. Jahrhunderts zogen, eine Tendenz, die sich bis heute fortzieht, ist deren Schuld. Toozes kontrafaktische Folie einer Zerschlagung und Besetzung Deutschlands, der das Land wesentlich knapper entgangen war als dies allgemein zugesprochen wird, war für mich sehr überzeugend und lässt die gesamte Versailler Ordnung und das auf ihr aufbauende liberale Regime in anderem Licht erscheinen.

Natürlich muss klar bleiben, dass es stets einen klaren Widerspruch zwischen liberalen Ansprüchen und dem Handeln der Akteure gibt. Tooze arbeitet diesen auch oft genug heraus. Auch wenn es für die weißen Zeitgenoss*innen selbstverständlich war, so war die Exklusion aller nicht-weißen Länder und Kulturen aus dieser Ordnung keineswegs selbstverständlich, wie sich nicht nur in dem Anspruch auf Souveränität und Eigenständigkeit in Japan und China zeigt, sondern auch in Indien, dessen Prominenz in diesem Buch sicherlich auch Toozes britischer Herkunft zu verdanken ist, aber wie China ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis der Epoche darstellt. Nebenbei bemerkt zeigt gerade die Geschichte Indiens in dieser Zeit die "moralische Höherrangigkeit" (mein Begriff, nicht Toozes) der liberalen Mächte. Gerade die Schwäche des Empires gegen Ghandi etwa zeigt, dass trotz aller Doppelstandards und Heuchelei, trotz aller imperialistischer Gewalt keine Vergleichbarkeit zu den wirklich Bösen herrscht. An keiner Stelle begeht das britische Empire auch nur annähernd so grauenerregende Verbrechen, wie es später die totalitären Regime tun würden. Dass die Probleme, die die Briten mit Ghandi hatten, auch Probleme eines nazideutschen oder kommunistischen Indien gewesen wären, ist unvorstellbar. Sie hätten ihn einfach ermordet, und ein paar Millionen Anhäner*innen gleich mit.

Zuletzt möchte ich einen auch im Rahmen dieser Rezension aufgetauchten Kritikpunkt aufnehmen. Tooze geht von der klaren Prämisse aus (und legt diese in meinen Augen auch überzeugend dar), dass die Schaffung einer tragfähigen Sicherheitsordnung in den 1920er Jahren zu guten Teilen auf die spezifische Situation der USA zurückgeht, die nicht bereit waren, sich in irgendwelche Systeme, und seien sie noch so locker, einbinden zu lassen, und die auch jegliche ökonomischen Zugeständnisse kurzsichtig verweigerten. Die Kritik wäre hier, dass dies eine native, europäische Sicht sei: warum sollten die USA auch europäische Sicherheitsinteressen befriedigen?

Toozes implizites Argument - zumindest lese ich das so heraus, und es entspricht meiner eigenen Haltung dazu - wäre, dass dies ja auch im Interesse der USA liegen würde. Die Verweigerung selbst kleinster Zugeständnisse in der Frage der Kriegsschulden führte zur unilateralen Aufkündigung eben dieser Kriegsschulden ab 1931 und zum Bruch des zugrundeliegenden Finanzsystems. Die Verweigerung von Sicherheitsgarantien auf der anderen Seite kann man den USA sicherlich nicht grundsätzlich vorwerfen; das ist tatsächlich nicht ihre Verantwortung. Was die Kritik aber übersieht ist ein Faktor, der ironischerweise auch auf die bundesdeutsche Außenpolitik zutrifft: der isolationistische Impuls übersieht die eigene Handlungsmacht komplett und präsentiert sich gerne selbstgefällig, aber falsch als Unbeteiligten. Die USA beanspruchten aber ein Veto-Recht, das sie auch großzügig ausübten. Wer allerdings die Versuche der Europäer, eine eigene Friedensordnung zu begründen, aktiv untergräbt und unterbindet, der bürdet sich damit eine eigene Verantwortung auf, und der kamen die Amerikaner nicht nach. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten sie ein expansiveres und insgesamt sowohl sinnvolleres als auch langfristig tragfähigeres Verständnis ihrer eigenen Interessen entwickeln - das gerade zusammenbricht, mit all den verheerenden Folgen, die das auch für die USA selbst hat.

Dies sind zumindest die Parallelen, die ich hier sehe. Aber wie immer ist die Geschichte ein Spiegel; wir sehen in ihr vor allem unsere eigene Zeit und unsere eigene Sicht der Dinge. Solange wir uns dessen und der Fehlbarkeit und Gegenwärtigkeit unserer Interpretationen stets bewusst sind, bleiben diese Auseinandersetzungen aber fruchtbar.

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