Adam Tooze - The Deluge. The Great War and the Remaking of Global Order 1916-1931 (Deutsch) (Hörbuch)

Es gibt immer wieder Bücher, die so voller Erkenntnisse und Ideen stecken, dass sie mehrere Lektüren brauchen, um voll zu wirken. Manchmal sind sie ihrer Zeit geradezu voraus, ist die Wichtigkeit ihres Gegenstands zum Zeitpunkt des Erscheinens gar nicht klar oder sie werden vielleicht erst durch spektakuläre Ereignisse wirklich relevant. Werke wie "The Deluge" (hier und hier bereits besprochen) oder "Wages of Destruction" (hier und hier besprochen) sind solche Werke, auf eine Art, die Toozes neuere Schöpfungen wie "Crashed" (hier und hier besprochen) oder "Shutdown" (hier besprochen) nicht sind, obwohl sie eigentlich viel aktuellere Themen besprechen als die Zwischenkriegszeit. Es ist aber auch faszinierend, wie ein geänderter Blickwinkel plötzlich neue Dinge hervorhebt. Obwohl ich "The Deluge" bereits zweimal gelesen habe, hatte ich den Eindruck, es zum ersten Mal zu öffnen. Die besten Bücher schaffen so etwas, und das ist hier keine Ausnahme.

Tooze beginnt seine Darstellung in der Einführung, "Introduction", in dem er kurz die Bedeutung der Epoche darlegt. Seine zentrale Hypothese ist, dass das Ende des Ersten Weltkriegs den Liberalismus in einer weltweit dominanten Position stehen ließ, dominanter als 1945, und dass dieser seine Schicksalsstunde verfehlte und scheiterte. Das Buch soll dieses Scheitern nachzeichnen und erklären.

In Abschnitt 1, "The Eurasian Crisis", stellt Tooze zuerst das Ende des Ersten Weltkriegs dar. Ähnlich wie Niall Ferguson in seinem Werk "A Pity of War" sieht er die deutsche Niederlage - beziehungsweise ihre Art - eher als Problem, ist der Überzeugung, dass der Krieg anders hätte enden sollen. Diese Argumentation baut er im Folgenden weiter aus. Anders als bei Ferguson sieht Tooze aber weniger eine Chance für "Mitteleuropa" und eine Art Proto-EU nach einem deutschen Sieg, die von einem britischen Überseeimperium ausbalanciert wird, sondern vielmehr in einem liberalen Regime, das aus dem Krieg hätte hervorgehen können.

Die Grundlage dafür legt Kapitel 1, "War in the Balance". In Toozes Erzählung befand sich der Krieg nach der Erschöpfung durch Verdun, die Somme und Brusilov im späten Herbst und Winter 1916/17 in einer prekären Balance. Die Hoffnung auf eine entscheidende Wirkung Rumäniens Kriegseintritt hatte sich zerschlagen. Es war nicht ersichtlich, wie irgendeine Seite einen klaren Vorteil erringen sollte. Die Kriegswirtschaft der Entente wurde immer abhängiger von der US-Finanz, wo JP Morgan effektiv eine Neben-Außenpolitik betrieb, die Wilson wegen des "too big to fail"-Effekts zunehmend störte, während die Mittelmächte ebenfalls keine Aussicht auf eine Entscheidung zu haben schienen.

Diese blutige Balance sieht Tooze aber als Schlüssel dafür, den im zweiten Kapitel, "Peace without Victory", vom amerikanischen Präsidenten Wilson propagierten Frieden ohne Sieger und Besiegte, quasi einen Erschöpfungsfrieden, zu schließen. Wilson trieb dabei kein Idealismus. Seine Vorstellung von einem Frieden ohne Sieger und folgender Abrüstung brachte USA in die Lage des Vermittlers und damit ohne einen Blutstropfen in die machtvollste Stellung weltweit, über die erschöpften europäischen Großmächte. Wilson hielt hierzu eine moralische Äquivalenz zwischen den Seiten und war nicht bereit, die Entente als moralisch höherwertiger als die Mittelmächte zu sehen; deren innere undemokratische Verfassung berührte ihn nicht. Vielmehr war er von einem großen Misstrauen gegenüber den radikal-demokratischen Franzosen (und ihrer Vorstellung der Gleichheit der Rassen, die für den weißen Suprematisten Wilson unerträglich war) wie auch gegenüber den aristokratischen Briten und ihrem Empire und wollte diesen keine beherrschende Stellung zusprechen. Die Stimmung für einen Frieden ohne Sieg war auch in anderen Ländern verbreitet; so formierte sich in Deutschland auf seiner Grundlage die progressive neue Reichstagsmehrheit aus Fortschrittsliberalen, Zentrum und Sozialdemokratie, deren Sprecher Matthias Erzberger wurde und die eine Reichstagsresolution mit einer Forderung ähnlich Wilsons abgab. Auch in Großbritannien und Frankreich begann sich eine Opposition gegen eine Fortsetzung des Krieges zu formieren. Die größte Gefahr für eine amerikanische Vermittlerposition war der uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Genau diesen brach die deutsche Militärführung, die von Ludendorff und Hindenburg übernommen worden war und die Deutschland in eine Militärdiktatur umzuwandeln begann, vom Zaun und zwangen die Amerikaner dadurch in das Bündnis mit der Entente.

In Kapitel 3, "The War Grave of Russian Democracy", wendet Tooze den Blick nach Russland. Die zaristische Autokratie war für die Entente ideologisch schon immer ein Problem gewesen, weil die Demokratien des Westens mit der schlimmsten Despotie zusammenarbeiteten, was ein "Bündnis der Demokratie" gegen die Tyrannei des Kaisers schwer verkäuflich machte. Dieses Problem endete im März 1917 mit der Russischen Revolution. Der Zar dankte ab und das Land wurde zu einer Republik, die für den Frühsommer allgemeine Wahlen ansetzte. Mit einem Schlag war Russland die größte und freieste Demokratie der Welt, mit einem für damalige Verhältnisse sehr liberalen Wahlrecht und System (inklusive Abschaffung der Todesstrafe selbst bei Desertion). Doch die politische Lage war schlecht: ein Separatfrieden mit Deutschland kam für die russische Republik nicht in Frage, aber in Großbritannien und Frankreich hatte die politische Lage sich gedreht und zum Entscheidungskampf entschlossene Regierungen hervorgebracht. Das Desaster der russischen Sommeroffensive, das auch wegen bolschewistischer Agitation zustande kam, erhöhte dann den Druck und die Fliehkräfte innerhalb Russlands weiter. Für die Amerikaner wie auch die Entente war die Bereitschaft vorhanden, die Chance auf ein liberales Russland zugunsten eines Sieges über Deutschland aufzugeben.

Einen für solche Darstellungen eher ungewöhnlichen, aber gerade für heute ungeheuer wichtigen Blick wirft Kapitel 4, "China Joins the World at War", auf die Lage in Asien. Die Japaner gehörten ebenfalls zu den Bündnispartnern wider Willen in der Entente. Abgesehen von der Besetzung Qingdaos beteiligten sie sich auch kaum am Krieg; erst 1916 ließen sie sich von den Briten kaufen, um ein Flottengeschwader ins Mittelmeer zu entsenden. In Japan gab es einen zentralen Konflikt zwischen der Partei derer, die eine harte Linie gegenüber den USA wollten und in diesen den kommenden Gegner sahen, und jenen, die eher eine Zusammenarbeit mit Washington anstrebten. Diese Liberalen setzten sich vorläufig noch gegen die Imperialisten durch, jedoch engagierte sich Japan bereits in diesen Jahren in China. Die Chinesen ihrerseits waren seit 1911 wie Russland eine zerbrechliche Republik und könnten theoretisch ins liberale System integriert werden, doch die USA gewährten ihnen aus - aus Sicht Toozes falscher - haushalterischer Zurückhaltung keine Gelder, so dass die aggressive japanische Politik der Stärkung der Warlords und Desintegration Chinas an Macht gewann und zentral für den dreißigjährigen Bürgerkrieg im Land wurde.

Das fünfte Kapitel, "Brest-Litovsk", kehrt dann nach Russland zurück. Die Machtübernahme der Bolschewiken veränderte die Balance innerhalb des Krieges erneut drastisch. Tooze arbeitet detailliert heraus, wie das Timing zwischen Friedensinitiativen und Offensiven die Chancen auf Frieden veränderten. Der amerikanische Kriegseintritt legte die USA klar auf die Niederlage der Mittelmächte fest, was die Chancen verringerte, während die russische Revolution sie erhöhte. Gleichzeitig führten die Alliierten auch deswegen 1917 Offensiven durch, damit eben kein Verhandlungsfrieden geschlossen werden konnte; dasselbe galt für den Zusammenbruch der russischen Truppen, der dem Friedenslager im Kaiserreich den Boden entzog. Diese Dynamiken lagen unter den Verhandlungen in Brest-Litovsk, in denen Tooze eine grundsätzliche Chance erkannte, weil die Deutschen (wenngleich aus eigensüchtigen Motiven) die Prämissen eines liberalen Friedens, also auf der Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker, anerkannten, der das Potenzial hatte, auch die unzufriedenen Bevölkerungen im Westen zu erfassen. Doch das Timing einerseits und Lenins verfehlte Analyse der Situation andererseits sowie die starke Opposition gegen einen Unterwerfungsfrieden innerhalb der Bolschewiki verhinderten dies.

Stattdessen wurde der Krieg, wie das sechste Kapitel, "Making a Brutal Peace", zeigt, wieder aufgenommen. Die Expansionisten im deutschen Lager übernahmen, die pan-germanischen Fantasien mitsamt millionenstarker Bevölkerungsverschiebungen und riesiger Annexionen wurden en vogue und waren nicht nur ein PR-Desaster, sondern schlugen auch die Tür für eine nachhaltige Friedensordnung endgültig zu. Die Bolschewisten unterschrieben zwar den Vertrag, aber sie erkannten ihn keine Sekunde an. Nachhaltig war hier gar nichts. Und gerade die Frage nach einem nachhaltigen Frieden ist ja eine, die Tooze besonders beschäftigt - beziehungsweise die Frage nach dessen Scheitern.

Die rapide Desintegration sowohl Chinas als auch Russlands öffnete Machtvakuums, die in Kapitel 7, "The World Come Apart", weiter diskutiert werden. Sowohl Japan als auch USA und die Entente standen unter dem Druck, die russische Infrastruktur zu sichern, die für sie strategisch wertvoll war. Dasselbe galt für die Japaner in China. In jedem Fall allerdings würden diese Interventionen dem Vorwurf des Imperialismus Vorschub leisten und offenbarten Brüche innerhalb der Koalition selbst. In Japan entschied man sich gegen offene Intervention sowohl in Russland als auch China und für eine Kooperation mit den USA, die ihrerseits versuchten, die Entente in eine progressive Richtung zu schieben, die diese aus imperialen Interessen weiterhin ablehnte.

In diesem Kontext findet sich die Frage der im achten Kapitel, "Intervention", besprochene Frage eines Eingreifens der Entente in Russland. Die Alliierten versuchten zuerst, sich einer solchen zu enthalten und die Sowjets durch eine (reichlich absurde) Anerkennung als demokratische Macht zurück in die Entente zu holen. Doch Lenins aus Sicht Toozes weiterhin fehlgeleitete Strategie einer Äquidistanz zu Deutschland (die real nicht durchzuhalten war) einerseits und die Machtübernahme der Militärs in Deutschland andererseits, die Brest-Litovsk zunehmend ignorierten und imperialistisch agierten zerschlug die Möglichkeiten, und so intervenierten die Alliierten, während Russland in einen Bürgerkrieg geriet und die Peripherie litt: die Ukraine wurde von den Deutschen in eine autokratische Marionette und Sprungbrett zur weiteren Zerstörung Russlands verwandelt, während die Türken ihren Vernichtungsfeldzug gegen Armenien fortsetzten. Die Achsenmächte zerstörten jegliche Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Friedenspolitik nachhaltig.

Die Komplextität der Situation macht jede sinnvolle Zusammenfassung dieses Kapitels sehr schwierig. Zwischen dem Sommer 1917, als die demokratischen russischen und deutschen Friedensbemühungen "agonizingly close" schienen, und der hoffnungslos verworrenen Lage im Frühherbst 1918, als Lenin immer mehr in eine offene Allianz mit den imperialistischen Deutschen schlitterte, die ihrerseits das Parlament belogen und Lenin am liebsten vernichtet hätten, ihn aber brauchten; als die Entente Schritt für Schritt in eine Intervention in Russland gezogen wurde; als die politischen Ereignisse im einen Lager Folgewirkungen im anderen hatten und sich immer weiter verstrickten; in dem die Sowjets rapide an Macht verloren und als Reaktion darauf ein offenes Terrorregime aufbauten, mit dem sich die Deutschen verbandelten; in all diesem Chaos war, so Toozes Einschätzung, das Überleben des sowjetischen Rumpfstaats extrem unwahrscheinlich, aufgerieben zwischen alliierter Intervention und deutscher Ausbeutung. Einzig der plötzliche Zusammenbruch Deutschlands an der Westfront, seinerseits Produkt der Hybris und des Unrealismus des Militärs, rettete ihn.

Weiter geht's in Teil 2.

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