Adrian Daub – Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst
Der Begriff der Cancel Culture ist in aller Munde. Seit 2018 ist diese moralische Panik von den USA her kommend über den Atlantik auch nach Europa geschwappt. Aber was Cancel Culture genau ist, wer sich gecancelt fühlt und warum die Vorgänge an einigen amerikanischen Universitäten eine solche Relevanz erhalten haben, ist nicht so klar, wie man angesichts der Allgegenwart des Diskurses meinen sollte. Es ist daher gut, dass der Literaturwissenschaftler Adrian Daub eine erste wissenschaftlich fundierte Analyse des Cancel-Culture-Diskurses darlegt, die nun auf Deutsch bei edition Suhrkamp erschienen ist. Der Titel „Cancel Culture Transfer“ deutet bereits die Hauptuntersuchungsfrage an: wie kommt ein solcher Diskurs von den USA in den Rest der Welt? Im Untertitel deutet Daub bereits eine Antwort an: es handelt sich um eine moralische Panik. Glücklicherweise belässt er es nicht bei Behauptungen, sondern stürzt sich in eine definitorisch unterfütterte und breit recherchierte Analyse.
Bereits in der Einleitung formuliert Daub mehrere Thesen, die er im Verlauf des Buches zu belegen versucht:
These 1: Der Cancel-Culture-Diskurs sei eine Neuauflage des Diskurses um die „Political Correctness“ (PC) der 1990er Jahre, mit einem eigenem Duktus, der sich durch alle Debattenbeiträge ziehe.
These 2: Der Diskurs habe eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion. Er sei ohne die soziale Netzwerke praktisch irrelevant, lebe von ihnen und bausche ständig obskure Einzelfälle auf, die ominös mit der Vergangenheit verknüpft würden und so überhaupt erst ein Sinngeflecht schüfen. Die Sozialen Medien als Austragungsort seien aber nach 2018 schnell verschwunden und hätten stattdessen einer viel allgemeineren Erzählung einer kulturellen Verschiebung Platz gemacht.
These 3: Ohne das Internet gäbe es keinen Cancel-Culture-Diskurs, und im Internet habe er auch eine gewisse Berechtigung, weil hier tatsächlich Individuen von mobartigen Dynamiken angegriffen werden. Die Kritik unterschätze aber die Impulsgeschwindigkeit sowohl junger Menschen als auch des Internets, was die Analyse erschwere.
These 4: Dem Cancel-Culture-Diskurs fehle bereits in den USA jede Verhältnismäßigkeit, aber in Deutschland sei er gleich dreimal irrelevant, weil er sich auf die spezifischen Umstände an amerikanischen Universitäten beziehe, die auf Deutschland gar nicht übertragbar seien und eben selbst dort Einzelfälle darstellten.
These 5: Im Diskurs schwinge ein Antiamerikanismus mit, wie bereits bei der Political-Correctness-Debatte. Die Idee aber, dass der Campus allen Positionen überhaupt ein Forum bieten müsse, komme von professionellen Lobbyorganisationen. Es handle sich um eine völlige Entgrenzung eines lokalen Diskurses.
These 6: Warner*innen vor der Cancel Culture vollzögen einen intellektuellen Sprung von Einzelereignissen auf (überzogene) Verallgemeinerungen. Die moralische Panik funktioniere ohne diesen Sprung nicht.
These 7: Schuld sei in diesen moralischen Paniken immer eine als feindlich wahrgenommene Elite. Das sei keine grundsätzliche Elitenfeindlichkeit; man möchte nur eine Herrschaft der eigenen Eliten.
These 8: Ohne diese Widersprüchlichkeiten nicht anzuerkennen und zu analyieren ließe sich das Thema nicht sinnvoll greifen.
These 9: Es sei kein Zufall, dass die moralische Panik um die Cancel Culture ausgerechnet nach #MeToo und #BlackLivesMatter aufkomme. Die Herausforderung der Diskursmacht der etablierten Eliten erzwinge geradezu eine Reaktion.
Daub definiert den Begriff der „moralischen Panik“ nach seinem Schöpfer Stanley Cohen (1972). So genannte „moralische Unternehmer*innen“ (moral entrepeneurs) interpretierten Zwischenfälle für ein breites Publikum und schüfen so den Diskurs. Dieser verlaufe nach festen, beinahe schon ritualisierten Abläufen, die eine „kollektive Amnesie“ erforderten, um zu ignorieren, dass man dieselben Voraussagen bereits vor 30 Jahren getroffen hat und dass diese nicht eingetroffen sind. Wichtig ist Daub aber die Abgrenzung vom Begriff der Propaganda. Eine moralische Panik ist nicht zentral gesteuert, sondern hat ihre eigene, dezentrale Dynamik, die durch die unabhängig agierenden moralischen Unternehmer*innen hervorgerufen wird.
In Kapitel 1 stellt Daub Definitionen auf und klärt Begriffe. Es sei letztlich irrelevant, ob Cancel Culture wirklich existiert. Zentral sei das Phänomen der Disproportionalität, das eine moralische Panik hervorrufe. Wie bei der moralischen Panik um „Political Correctness“ der 1990er Jahre macht Daub eine „unkritische Quellenrezeption“ aus. Anekdoten würden verallgemeinert, ohne dass die Datenlage das hergebe. Eine Methode, die er hier anwendet, ist der Vergleich der verschiedenen Portale, die Fälle von Cancel Culture zählen. Dabei stellt er fest, dass diese einerseits nur wenige finden (zwischen 173 und 1566) und dass der Überlapp dieser Fälle mit 387 sehr gering ist. Was also Canceln überhaupt ist, ist höchst umstritten. Auf einer dieser Seiten finden sich Samuel Paty (der von Islamisten ermordete französische Lehrer), Hitoshi Igarashi (ein Rushdie-Übersetzer, ebenfalls ermordet) und Donald Trump einträchtig Seite an Seite.
Daub weist auch darauf hin, dass die Cancel-Culture-Geschichten sich in der übergroßen Mehrzahl der Fälle an US-Unis abspielen – wie zuvor bereits die moralische Panik um Political Correctness -, die kaum repräsentativ für die US-Gesellschaft sind und deren Übertragbarkeit auf Europa noch fragwürdiger ist. Viele der Fälle, so Daub, seien auf verletzte akademische Eitelkeiten zurückzuführen.
Gerade beim typischen Vorwurf der „Selbstzensur“, die Cancel Culture hervorrufe, weist Daub nach, dass zahlreiche Studien ideologisch gefärbt und von rechten Thinktanks produziert sind und nur Munition für die entsprechenden Schlagzeilen produzieren sollen. So werden zwar Selbstzensurbeispiele wie das offene Diskutieren von Homosexualität abgefragt, nicht aber, ob jemand seine eigene sexuelle Orientierung aus Angst verschweigt – was an den evangelikalen und rechten Unis, aus deren Umfeld dieser Kram kommt, nicht eben unwahrscheinlich sein dürfte. Zudem werden viele Umfrageergebnisse nicht richtig ausgewertet, weil die offensichtliche Erkenntnis, dass man nicht in jeder Situation alles sagen kann, bereits als Selbstzensur gewertet wird – während es eigentlich Anstand und common sense ist, nicht überall ungefragt seine eigenen Thesen aufzutischen.
Daub stellt außerdem die These auf, dass die ganze Debatte letztlich nur eine Wiederauflage der moralischen Panik um Political Correctness sei. Das Vokabular und die Argumentationsmuster sind praktisch 1:1 dieselben, ebenso die mangelnde Vergleichbarkeit zwischen USA und Europa, die den Import des Diskurses nicht verhindert hat. Daub führt die angestiegenen Zahlen derjenigen, die sich in Umfragen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, auch darauf zurück, dass seit 1990 permanent in Schlagzeilen und Bestsellern eine Cancel Culture (oder Political Correctness oder was auch immer) behauptet wird, so dass die Bevölkerung „gelernt“ habe, hier mit Ja zu antworten. Ich halte diese These zwar für plausibel; beweisen kann sie Daub aber natürlich genauso wenig wie die Cancel-Culture-Kulturkrieger*innen ihre eigenen.
Das Wort „Cancel Culture“ selbst ist unzweifelhaft anglophon; Daub erklärt die fehlende Eindeutschung damit, dass der Diskurs auf diese Weise als fremd und aufgezwungen markiert werde. Ebenso spannend ist die Analyse, wer den Diskurs betreibt: es seien mehrheitlich weiße Männer mit hohem Bildungsabschluss. Die Parteizugehörigkeit spiele dabei eine geringe Rolle: über „Trumps Basis“ der unterprivilegierten Schicht werde in dem Diskurs zwar oft gesprochen, sie sei aber selbst nicht daran beteiligt. Aktiviert werde zudem nicht die politische Mitte, sondern die politischen Ränder. Der Diskurs sei zudem stark online-geprägt; FOX News und andere etabliertere Medien spielten eine wesentlich geringere Rolle bei der Reproduktion. Auffällig sei zudem, dass die meisten Menschen, die angeben, von Cancel Culture viel gehört zu haben, diese nicht im Rahmen des Diskurses definieren: sie beschreiben sie als „zur Verantwortung ziehen“ (49% der Befragten!), während Boykott und Jobverlust – die für die mediale Debatte zentralen Kategorien – nur von 6% der Befragten genannt werden.
In Kapitel 2 beschäftigt sich Daub dann mehr mit der Wortgeschichte. Er stellt die These auf, dass der Diskurs im „politische Korrektheit“ in den 1990er Jahren in den USA ähnliche Dynamiken aufweist wie der um Cancel Culture; die explosionsartige Verbreitung des Begriffs in rechten Medien, von wo aus er vom Mainstream aufgegriffen wurde, legt diesen Verdacht jedenfalls nahe. In Deutschland sei die Verbreitung langsamer und inhaltlich diffuser gewesen, habe aber den Boden für Anknüpfungen bereitet, was nun bei Cancel Culture zuschlage.
Die Attraktivität des PC-Diskurses habe darin gelegen, dass die Undeutlichkeit des Begriffes es erlaubte, sowohl rechts wie links (Clintons New Democrats) Anknüpfungspunkte zu finden. Wie bei Cancel Culture ist es eine Zuschreibung von außen: niemand bezeichnet sich selbst als politisch korrekt, genauso wie niemand selbst cancelt. Das sind bzw. machen immer nur andere. An diversen Beispielen zeigt Daub auf, dass die Warnungen vor PC oft praktisch wortgleich zu denen von CC sind – ohne dass jemand auffiele, dass die apokalyptischen Zustände nie eingetreten sind.
Den großen Unterschied zwischen CC und PC sieht Daub darin, dass die Bedeutung von CC im deutschen Diskurs falsch beziehungsweise unvollständig verstanden wurde. Denn anders als PC gab es im linksafroamerikanischen Milieu tatsächlich die Forderung nach „canceln“. Allein, der Begriff weise im Englischen mehrere Bedeutungen auf, und anders als amerikanische Medien, wo „die NYT und FOX etwas anderes unter derselben Bezeichnung Verschiedenes meinen könnten […] schienen sich deutschsprachige Medien immer besonders sicher zu sein, was die Bedeutung von „canceln“ anging“.
Er folgt der Evolution des Begriffs aus der tumblr-Blase junger, linksaffinger und YA-Romane lesender internetaffiner Menschen zu, die über die „call-out culture“ mögliche „problematische“ Seiten populärer Werke sammelten und entsprechend markierte Verhaltensweisen anprangerten. Das konnte innerhalb dieser communities durchaus problematische Züge annehmen, aber Daubs Frage, warum dieses Nischenphänomen den Rest der Gesellschaft in diesem Maße beschäftigen sollte, ist mehr als angebracht. Cancel Culture sei zu Beginn identisch mit Call-Out Culture gewesen. Daub vermutet (allerdings ohne Belege dafür), dass dies daran liege, dass „Canceln“ aggressiver klingt, während „Call-Out“ die eigentlich intendierte Wortbedeutung impliziert.
Die tatsächliche Herkunft dieser Wortbedeutung ist nebulös. Daub spürt ihr bis 2014 nach, aber es ist natürlich unmöglich, eine präzise Genese des Begriffs auszumachen. Er versucht aber, gewisse Dynamiken der Entgrenzung des Begriffs – aus dem kleinen, ursprünglich ironischen Milieu von „Afrotwitter“ – nachzuzeichnen, etwa unterschiedliche gesellschaftliche Spielregeln und Erwartungen an Schwarze und Weiße. Schwarze Interessen, Handlungen und Gruppen stünden unter wesentlich schärferer Beobachtung als weiße. So entstünde oft ein „Kontextkollaps“, indem sehr begrenzte Phänomene verallgemeinert würden.
Diesen Kontextkollaps zeigt er anhand der Karriere des Begriffs der „Cancel Culture“ auf. Seine Genese liegt auf Black Twitter, jener Blase linksaktivistischer Afroamerikaner*innen. Dort ist er gleichbedeutend mit Call-Out-Culture: es geht um das Ablegen von Rechenschaft, eine Verantwortlichkeit. Das Wort geriet dann in einen Popkultur-Kontext; so „cancelte“ etwa Taylor Swift ihre Ex-Freunde. In diesen obskuren Zirkeln blieb es bis 2017, als von Kanye West aufgegriffen wurde. West verwendete es im Kontext seiner Begeisterung für Donald Trump und verkündete, er sei gecancelt worden, weil er Trump nicht cancele. Die Nutzung explodierte 2019, als es plötzlich von den Mainstream-Medien und (vor allem) FOX News aufgegriffen wurde, die es jetzt als Synonym für Political Correctness gebrauchten und damit jeden Kontexts enthoben. Noch absurder ist die Geschichte für Deutschland, wo der Begriff ebenfalls 2019 übernommen wurde – aber fast ausschließlich in Bezug auf die USA, die man als warnendes Beispiel nannte, ohne je den Begriff selbst zu definieren!
Für Daub ist der Cancel-Culture-Diskurs letztlich ein literarisches Genre, ein Framing, das angesichts seiner Profession als Listeratur- und Sprachwissenschaftler naheliegt. Da er sich ständig um amerikanische Universitäten dreht, macht es mehr als Sinn, dass er in Kapitel 3 die Universität als literarischen Topos genauer unter die Lupe nimmt. Immerhin 40% aller Amerikaner*innen (!) haben Zeit auf einem Campus verbracht, wenngleich natürlich für viele die Erfahrung schon länger zurückliegt. Anders als in Deutschland ist der Campus ein weit verbreiteter Handlungsort der Popkultur, von Komödien bis zu Law&Order. In all diesen literarischen Verarbeitungen ist der Campus ein ewig gleicher, unveränderlicher, festen Klischees gehorchender Ort. Diese Unveränder- und Unspezifiziertheit macht den Campus kaum greifbar, dafür aber paradoxerweise umso präsenter und stets verallgemeinerbar.
Es ist auf diesem fruchtbaren Grund, aus dem das Genre der Campuskritik fröhlich spross. Es war der konservative Vordenker William Buckley, Idol aller Konservativen in den USA, der mit "God and Man in Yale" in den späten 1950ern die Urform rechter Campus-Kritik herausbrachte. Das Problem war nicht etwa Atheismus oder progressive Gedankenhaltung, sondern "christlicher Individualismus" und andere Denominationen als die klassisch protestantische. Aus heutiger Sicht inhaltlich völlig aus der Zeit gefallen, aber im Schema seither 1:1 reproduziert. Der Campus wurde zu einem fantastischen Ort, an dem alles mögliche passieren konnte. Ein Dauerbrenner ist die angebliche Verbannung der Klassiker; in jedem Jahrzehnt seit 1960 behaupteten Konservative, dass Shakespare und Konsorten nicht mehr, irgendwelche linken Intellektuellen dafür umso mehr gelehrt würden. Die Intellektuellen waren damals schon irrelevant und sind heute völlig unbekannt, während Shakespare weiterhin in den Lehrplänen verankert ist. Das hält aber niemanden davon ab, auch heutzutage anderslautende Behauptungen vorzubringen.
Der nächste große Schritt in diesem Genre war Ronald Reagan, der noch als Privatmann im Stil McCarthys angebliche Geheiminformationen über linke Verschwörungen am Campus publizierte und als Gouverneur von Kalifornien Wahlkämpfe damit gewann, Soldaten auf den Campus von Berkeley zu schicken. Als er Präsident wurde, war unter Republicans das Bashing von Universitäten bereits Routine. Der letzte Baustein dieses Genres besteht für Daub in den Neokonservativen, die unter Reagan und Bush ihre Blüte erlebten. Sie entstammten dem Milieu selbst, waren nie davon losgekommen und verabscheuten es doch aus tiefster Seele. Sie waren ideale Kronzeugen - und die ersten Autoren, die auch in Deutschland reproduziert worden. Doch wo ihre Werke im Original "im sokratischen Ideal" provozieren sollten (vor allem Adam Blooms), wurden sie von deutschen Medien (vor allem der NZZ) als Fakt rezipiert - ein Muster, das sich im Diskurs bis heute beständig wiederholt und das auch in der Cancel-Culture-Debatte zu sehen ist. Kontextkollaps, indeed.
Diese Literarisierung verfolgt Daub in Kapitel 4 weiter, in dem er es als "Melodrama" fasst. Exemplarisch erzählt er dazu die Geschichte von Stephan Thernstrom, einem Professor, dessen Geschichte 1991 in den USA ausführlich rezipiert wurde, ganz besonders aber in Deutschland Eindruck fand (so sehr, dass Jan Fleischhauer sie im Spiegel 2002 noch als Beweis für aktuelle (!) Zustände an US-Unis herauskramte, was einmal mehr die Mythologisierung der Thematik aufzeigt). Drei Studierende warfen ihm vor, in einer Vorlesung rassistische Topoi bedient zu haben. Thernstrom was so etwas wie der Patient Zero einer literarischen Figur, die seither ständig Hochkonjunktur hat: der unbescholtene Professor, der "aus heiterem Himmel" von radikalen Studierenden in seiner Existenz bedroht wird.
Daub arbeitet heraus, welche Elemente dieses Narrativ besitzt. So findet sich die angebliche Konversion durch die Ereignisse (Thernstrom wurde ständig als Linker dargestellt, der von Hexenjäger*innen des eigenen Lagers zu den Konservativen getrieben wurde; dabei war er bereits in den 1980er Jahren eine einflussreiche konservative Stimme); die Behauptung, die Studierenden hätten vorher keinen Kontakt gesucht (glatte Lüge); die Universitäts als rückgratlose Umfaller (tatsächlich vermittelte sie in der Thematik); die Vorstellung, die Studierenden hätten den Angriff angefangen (tatsächlich hatte eine Zeitung recherchiert und die Geschichte dramatisiert); und so weiter. Daub weist auf tatsächlich fiktionale Werke solcherart attackierter Professoren hin, die um 2000 Konjunktur hatten und in denen sich bemerkenswerterweise nie jemand juristisch zur Wehr setzt; stattdessen wird die Kritik immer als existenzielle Krise empfunden.
Ein weiteres Puzzlestück sind die speech codes, die gerne als Beleg für repressive Campus-Kultur herhalten müssen. Das sei ein großes Missverständnis, denn solche Codes gab es an den Universitäten schon immer. Bis weit in die 1960er Jahre hinein etwa verboten die Universitäten den Studierenden von Übernachtungen in Motels über Sex bis zu Blasphemie alles Mögliche und warfen sie für Verstöße hinaus - Meinungsfreiheit suchte man an den Universitäten vergeblich; an den privaten sogar noch viel mehr. Es war die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre, die diese Regeln angriff - und die Universitäten reformierten sie. Diese Überarbeitungen wurden kodifiziert, und gerade diese Änderungen erschienen den bisher Privilegierten dann plötzlich als Eingriffe - in Wirklichkeit waren sie gegenüber der bisherigen Praxis krasse Liberalisierungen.
Am Beispiel des fiktiven Coleman Silk zeigt Daub zudem auf, welches Eigenleben diese Narrative oft entwickeln. Eine Geschichte in den 1960er Jahren wurde durch die Jahrzehnte immer wieder als aktuelles (!) Beispiel für Opfer von Political Correctness, Cancel Culture oder wie auch immer der Begriff gerade lautete, hergenommen. Selbst Joachim Gauck bezog sich in einer Rede darauf, entweder absichtlich oder (wahrscheinlicher) unwissentlich der Tatsache, dass es sich um einen sechzig Jahre alten Roman und nicht eine Tatsache handelte.
Solcherlei Anekdoten sind natürlich nicht grundsätzlich verwerflich. Nutzen und Schaden der politischen Anekdote bilden daher das Thema von Kapitel 5. Daub postuliert eingangs, dass Anekdoten sehr selektiv, aber absichtlich verwendet werden, um einen bestimmten Eindruck im Diskurs zu erzeugen. Diese Anekdoten verlieren dabei ihren ursprünglichen Kontext. Die erste richtig große Cancel-Culture-Anekdote sei der Fall Jordan Peterson gewesen, der 2016 mit drastischen Warnungen (faktisch falsch) ein kanadisches Antidiskriminierungsgesetz kritisierte und dafür selbst kritisiert wurde. Er präsentierte sich als Opfer, und binnen kürzester Zeit wurde er zur Vorzeigeanekdote für angebliches "was man nicht sagen darf". Dass Peterson das ständig sagte und damit reich wurde, spielt dabei wie bei den meisten "Opfern" dieser Art keine Rolle. Ich erinnere mich noch selbst daran, wie konservative Bekannte plötzlich 2017 anfingen, die Peterson-Geschichte zu erzählen. Der Wahrheitsgehalt von Anekdoten sei nicht so bedeutend wie ihre Plausibilität: sie müssten sich echt anfühlen, wie das angebliche Verbit "flip charts" zu benutzen, um Philippinos nicht zu beleidigen.
Die Anekdoten funktionieren besonders dann, wenn sie sich aktuell anfühlen. Daub weist anhand einiger Beispiele nach, wie alt sie oftmals sind, besonders was Sprachverbote angeht - die Zigeneuerschnitzeldebatte ist etwa mindestens 20 Jahre alt, die Indianer-Debatte mindestens 30, halten aber beide immer als Beweis für eine angeblich neue Qualität der "Zensur" heran. Diese Debatten sieht er vielmehr als normalen Teil demokratischen Miteinanders. Die vergangene Aufregung werde aber schnell vergessen und sei deswegen immer wieder "neu". Oft sie der Ursprung der Anekdoten außerdem satirisch, was aber ebenso schnell vergessen werde. Daub postuliert hier auch, dass man sich fragen sollte, woher die obskuren Anekdoten eigentlich kommen: er zeigt Beispiele rechtskonservativer amerikanischer NGOs auf, die mit großem Aufwand solche Anekdoten verbreiten, aber ihre eigene Herkunft dabei verschleiern. Die Effektivität dieser Taktik ist offenkundig.
Auffällig sei auch die "Fokalisierung" der Anekdoten: sie berichten stets nur aus einer Perspektive; die andere Seite bleibt meist gesichts- und namenlos (irgendwelche Aktivist*innen oder Studierende, die aber nie identifiziert werden). Auch die Plötzlichkeit des Cancelns ("aus heiterem Himmel") gehöre zum Genre.
In Kapitel 6, "Lokalisierung einer globalen Panik", befasst sich Daub mit dem literarischen Ort Amerikas in der Debatte. Der Begriff "Cancel Culture" alleine deute bereits auf etwas Fremdes hin; für Daub ist es bemerkenswert, dass er europäischen Zungen leichter falle als amerikanischen, weil mit "Kultur" hierzulande völlig unterschiedliche Konnotationen verknüpft seien als jenseits des Großen Teichs. Auch sei auffällig, dass Cancel Culture immer im Hinblick auf andere Länder betrachtet wird: Macron etwa schimpft über den Einfluss aus Amerika, während hierzulande in Frankreich das Ganze schon als verwirklich sieht. Die NZZ arbeitet sich am "woken" Deutschland ab, während die FAZ britische Verhältnisse besonders hervorhebt.
Interessant ist der Vergleich zu 1968, den Daub zieht. Die Amerikafixierung sei dieselbe, ebenso wie der Habitus: man nimmt an, dass amerikanisch konnotierte Werte wie Meinungsfreiheit von Amerika aus in Gefahr seien und nur durch deutsche Musterschüler*innen zu retten seien. Daub zeigt anhand Bestandteilen des französischen Diskurses auf, wie idiosynkratisch dieser ist: die Rede ist hier vom "Linksislamismus" (also der angeblichen Zusammenarbeit der Linken mit Islamisten), die sich aus der langen Terrorgeschichte der letzten Zeit erklärt. Solche nationalen Eigenheiten werden dem Cancel-Culture-Diskurs übergestülpt, die Begrifflichkeiten dabei ihrer Bedeutung entkernt.
Am auffälligsten aber sei, so Daub, dass die Cancel-Culture-Kritik sich durch eine "Epidemie des Nichtlesens und Nichtzitierens" auszeichne. Es bestehe eine geradezu virulente Weigerung, sich überhaupt mit den Konzepten auseinanderzusetzen. Die Kritik richte sich gegen Vogelscheuchen, die verwendeten Begriffe und Autor*innen haben mit den Originalen meist nur wenig zu tun. Dazu passt, dass der "Identitätspolitik" (das andere große Feindbild) jegliche Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wird. In den "Streit-" und "Debattenressorts" der bürgerlichen Presse werde zwar ÜBER die andere Seite der Debatte gesprochen, aber nicht mit ihr; ein Dauermonolog werde als Dialog getarnt.
Zu Beginn von Kapitel 7, "Poetik der Cancel-Culture-Texte", arbeitet Daub die Unterschiede zwischen der Berichterstattung über Cancel Culture zwischen Deutschland und den USA auf. Kurioserweise ist das Phänomen in Deutschland viel mehr rezipiert als in seinem Ursprungsland. Auch das Genre ist ein anderes: in den USA gehören Artikel über Cancel Culture eher als große Essays und Titelthemen in den Politikbereich, während sie in Deutschland praktisch nie im Politikteil stehen und stattdessen ein fester Stilbestandteil des Feuilletons sind. In Deutschland kommt die Thematik auch ständig in Texten vor, die nicht hauptsächlich damit zu tun haben - von Interviews über Rezensionen. Zudem macht Daub erneut eine "Performanz der Unneugier" aus, die er mit den Sozialen Netzwerken vergleicht. Ohnehin sei auffällig, dass die Online-Redaktionen aller Zeitungen (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) weniger über das Phänomen berichten als die Printjournale.
Er postuliert das als Frage der Diskurshoheit: das deutsche Feuilleton (eine Rubrik, die in den USA bezeichnenderweise gar nicht existiert) beansprucht diese für sich. Nur Diskussionen im Feuilleton sind satisfaktionsfähig; finden diese in den Sozialen Netzwerken statt (oder auf Campussen oder sonstwo), sind sie mit dem Ruch des Illegitimen behaftet. Da das Feuilleton aber nach wir vor eine stark abgeschottete Welt sei, kämen bestimmte Sichtweisen dort kaum vor. Gleichzeitig verweist Daub auf das Genre des Feuilletons, den Essay (in seiner deutschen Variante; meine Schüler*innen sind permanent davon verwirrt, dass "Essay" im Deutsch- und Englischunterricht völlig unterschiedliche Dinge beschreibt). Dieser ist durch seine starke Subjektivität, lockeres Verhältis zu Fakten und Neigung zu sprachlicher Überdramatisierung geprägt, die ansonsten eher journalisitische Fremdkörper sind. Deswegen entfaltet der Cancel-Culture-Diskurs in Deutschland auch seine Eigenheiten.
Kapitel 8, "Aufmerksamkeit und Ökonomie", beginnt mit der von mir auf dieser Seite auch schon oft gebrachten Feststellung (wenngleich von Daub empirisch unterfüttert), dass der Diskurs über das Gendern, Identitätspolitik und Cancel-Culture von rechts betrieben wird, während er in linkeren Kreisen bei weitem keine so große Rolle spielt. Daub spürt dabei Autoren wie Ulf Poschardt und Medien wie der NZZ nach, die diese Topoi besonders bedienen, und spricht in diesem Zusammenhang von einem "Abomodell" - sowohl, weil die Cancel-Culture-Geschichten nachweislich Abonnentenzahlen treiben als auch, weil sie eine große Gleichförmigkeit aufweisen. Beide Faktoren wies bereits der Political-Correctness-Diskurs auf, auf dem die Cancel-Culture-Debatte basiert.
Abschließend macht Daub anhand des YA-Genres deutlich, wo die Gefahren einer Cancel Culture tatsächlich liegen. Hier werden prekäre Autor*innen ohne jeden Schutz im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie zu pointierten Statements gedrängt, um "Profil" zu erwerben, und im Falle eines Shitstorms ohne Weiteres fallengelassen. Die Zahl der Professor*innen an US-Unis mit tenure hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ebenso halbiert wie die festangestellter Journalist*innen. Aber es sind arrivierte, privilegierte und sichere Leute, die sich über Cancel Culture echauffieren und ihre Befindlichkeiten thematisieren, nicht die eigentlich Bedrohten. Sie spielen im Diskurs auch praktisch keine Rolle.
Daubs Darstellung des Phänomens Cancel Culture ist ebenso erschöpfend wie treffend. Ich will gar nicht viel weitere Worte verlieren und es stattdessen uneingeschränkt empfehlen.
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