Adrian Daub - Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erfasst
Der Begriff der Cancel Culture ist in aller Munde. Seit 2018 ist diese moralische Panik von den USA her kommend über den Atlantik auch nach Europa geschwappt. Aber was Cancel Culture genau ist, wer sich gecancelt fühlt und warum die Vorgänge an einigen amerikanischen Universitäten eine solche Relevanz erhalten haben, ist nicht so klar, wie man angesichts der Allgegenwart des Diskurses meinen sollte. Es ist daher gut, dass der Literaturwissenschaftler Adrian Daub eine erste wissenschaftlich fundierte Analyse des Cancel-Culture-Diskurses darlegt, die nun auf Deutsch bei edition Suhrkamp erschienen ist. Der Titel "Cancel Culture Transfer" deutet bereits die Hauptuntersuchungsfrage an: wie kommt ein solcher Diskurs von den USA in den Rest der Welt? Im Untertitel deutet Daub bereits eine Antwort an: es handelt sich um eine moralische Panik. Glücklicherweise belässt er es nicht bei Behauptungen, sondern stürzt sich in eine definitorisch unterfütterte und breit recherchierte Analyse.
Bereits in der Einleitung formuliert Daub mehrere Thesen, die er im Verlauf des Buches zu belegen versucht:
These 1: Der Cancel-Culture-Diskurs sei eine Neuauflage des Diskurses um die "Political Correctness" (PC) der 1990er Jahre, mit einem eigenem Duktus, der sich durch alle Debattenbeiträge ziehe.
These 2: Der Diskurs habe eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion. Er sei ohne die soziale Netzwerke praktisch irrelevant, lebe von ihnen und bausche ständig obskure Einzelfälle auf, die ominös mit der Vergangenheit verknüpft würden und so überhaupt erst ein Sinngeflecht schüfen. Die Sozialen Medien als Austragungsort seien aber nach 2018 schnell verschwunden und hätten stattdessen einer viel allgemeineren Erzählung einer kulturellen Verschiebung Platz gemacht.
These 3: Ohne das Internet gäbe es keinen Cancel-Culture-Diskurs, und im Internet habe er auch eine gewisse Berechtigung, weil hier tatsächlich Individuen von mobartigen Dynamiken angegriffen werden. Die Kritik unterschätze aber die Impulsgeschwindigkeit sowohl junger Menschen als auch des Internets, was die Analyse erschwere.
These 4: Dem Cancel-Culture-Diskurs fehle bereits in den USA jede Verhältnismäßigkeit, aber in Deutschland sei er gleich dreimal irrelevant, weil er sich auf die spezifischen Umstände an amerikanischen Universitäten beziehe, die auf Deutschland gar nicht übertragbar seien und eben selbst dort Einzelfälle darstellten.
These 5: Im Diskurs schwinge ein Antiamerikanismus mit, wie bereits bei der Political-Correctness-Debatte. Die Idee aber, dass der Campus allen Positionen überhaupt ein Forum bieten müsse, komme von professionellen Lobbyorganisationen. Es handle sich um eine völlige Entgrenzung eines lokalen Diskurses.
These 6: Warner*innen vor der Cancel Culture vollzögen einen intellektuellen Sprung von Einzelereignissen auf (überzogene) Verallgemeinerungen. Die moralische Panik funktioniere ohne diesen Sprung nicht.
These 7: Schuld sei in diesen moralischen Paniken immer eine als feindlich wahrgenommene Elite. Das sei keine grundsätzliche Elitenfeindlichkeit; man möchte nur eine Herrschaft der eigenen Eliten.
These 8: Ohne diese Widersprüchlichkeiten nicht anzuerkennen und zu analyieren ließe sich das Thema nicht sinnvoll greifen.
These 9: Es sei kein Zufall, dass die moralische Panik um die Cancel Culture ausgerechnet nach #MeToo und #BlackLivesMatter aufkomme. Die Herausforderung der Diskursmacht der etablierten Eliten erzwinge geradezu eine Reaktion.
Daub definiert den Begriff der "moralischen Panik" nach seinem Schöpfer Stanley Cohen (1972). So genannte "moralische Unternehmer*innen" (moral entrepeneurs) interpretierten Zwischenfälle für ein breites Publikum und schüfen so den Diskurs. Dieser verlaufe nach festen, beinahe schon ritualisierten Abläufen, die eine "kollektive Amnesie" erforderten, um zu ignorieren, dass man dieselben Voraussagen bereits vor 30 Jahren getroffen hat und dass diese nicht eingetroffen sind. Wichtig ist Daub aber die Abgrenzung vom Begriff der Propaganda. Eine moralische Panik ist nicht zentral gesteuert, sondern hat ihre eigene, dezentrale Dynamik, die durch die unabhängig agierenden moralischen Unternehmer*innen hervorgerufen wird.
In Kapitel 1 stellt Daub Definitionen auf und klärt Begriffe. Es sei letztlich irrelevant, ob Cancel Culture wirklich existiert. Zentral sei das Phänomen der Disproportionalität, das eine moralische Panik hervorrufe. Wie bei der moralischen Panik um "Political Correctness" der 1990er Jahre macht Daub eine "unkritische Quellenrezeption" aus. Anekdoten würden verallgemeinert, ohne dass die Datenlage das hergebe. Eine Methode, die er hier anwendet, ist der Vergleich der verschiedenen Portale, die Fälle von Cancel Culture zählen. Dabei stellt er fest, dass diese einerseits nur wenige finden (zwischen 173 und 1566) und dass der Überlapp dieser Fälle mit 387 sehr gering ist. Was also Canceln überhaupt ist, ist höchst umstritten. Auf einer dieser Seiten finden sich Samuel Paty (der von Islamisten ermordete französische Lehrer), Hitoshi Igarashi (ein Rushdie-Übersetzer, der deswegen scharf angegriffen wurde) und Donald Trump einträchtig Seite an Seite.
Daub weist auch darauf hin, dass die Cancel-Culture-Geschichten sich in der übergroßen Mehrzahl der Fälle an US-Unis abspielen - wie zuvor bereits die moralische Panik um Political Correctness -, die kaum repräsentativ für die US-Gesellschaft sind und deren Übertragbarkeit auf Europa noch fragwürdiger ist. Viele der Fälle, so Daub, seien auf verletzte akademische Eitelkeiten zurückzuführen.
Gerade beim typischen Vorwurf der "Selbstzensur", die Cancel Culture hervorrufe, weist Daub nach, dass zahlreiche Studien ideologisch gefärbt und von rechten Thinktanks produziert sind und nur Munition für die entsprechenden Schlagzeilen produzieren sollen. So werden zwar Selbstzensurbeispiele wie das offene Diskutieren von Homosexualität abgefragt, nicht aber, ob jemand seine eigene sexuelle Orientierung aus Angst verschweigt - was an den evangelikalen und rechten Unis, aus deren Umfeld dieser Kram kommt, nicht eben unwahrscheinlich sein dürfte. Zudem werden viele Umfrageergebnisse nicht richtig ausgewertet, weil die offensichtliche Erkenntnis, dass man nicht in jeder Situation alles sagen kann, bereits als Selbstzensur gewertet wird - während es eigentlich Anstand und common sense ist, nicht überall ungefragt seine eigenen Thesen aufzutischen.
Daub stellt außerdem die These auf, dass die ganze Debatte letztlich nur eine Wiederauflage der moralischen Panik um Political Correctness sei. Das Vokabular und die Argumentationsmuster sind praktisch 1:1 dieselben, ebenso die mangelnde Vergleichbarkeit zwischen USA und Europa, die den Import des Diskurses nicht verhindert hat. Daub führt die angestiegenen Zahlen derjenigen, die sich in Umfragen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, auch darauf zurück, dass seit 1990 permanent in Schlagzeilen und Bestsellern eine Cancel Culture (oder Political Correctness oder was auch immer) behauptet wird, so dass die Bevölkerung "gelernt" habe, hier mit Ja zu antworten. Ich halte diese These zwar für plausibel; beweisen kann sie Daub aber natürlich genauso wenig wie die Cancel-Culture-Kulturkrieger*innen ihre eigenen.
Das Wort "Cancel Culture" selbst ist unzweifelhaft anglophon; Daub erklärt die fehlende Eindeutschung damit, dass der Diskurs auf diese Weise als fremd und aufgezwungen markiert werde. Ebenso spannend ist die Analyse, wer den Diskurs betreibt: es seien mehrheitlich weiße Männer mit hohem Bildungsabschluss. Die Parteizugehörigkeit spiele dabei eine geringe Rolle: über "Trumps Basis" der unterprivilegierten Schicht werde in dem Diskurs zwar oft gesprochen, sie sei aber selbst nicht daran beteiligt. Aktiviert werde zudem nicht die politische Mitte, sondern die politischen Ränder. Der Diskurs sei zudem stark online-geprägt; FOX News und andere etabliertere Medien spielten eine wesentlich geringere Rolle bei der Reproduktion. Auffällig sei zudem, dass die meisten Menschen, die angeben, von Cancel Culture viel gehört zu haben, diese nicht im Rahmen des Diskurses definieren: sie beschreiben sie als "zur Verantwortung ziehen" (49% der Befragten!), während Boykott und Jobverlust - die für die mediale Debatte zentralen Kategorien - nur von 6% der Befragten genannt werden.
In Kapitel 2 beschäftigt sich Daub dann mehr mit der Wortgeschichte. Er stellt die These auf, dass der Diskurs im "politische Korrektheit" in den 1990er Jahren in den USA ähnliche Dynamiken aufweist wie der um Cancel Culture; die explosionsartige Verbreitung des Begriffs in rechten Medien, von wo aus er vom Mainstream aufgegriffen wurde, legt diesen Verdacht jedenfalls nahe. In Deutschland sei die Verbreitung langsamer und inhaltlich diffuser gewesen, habe aber den Boden für Anknüpfungen bereitet, was nun bei Cancel Culture zuschlage.
Die Attraktivität des PC-Diskurses habe darin gelegen, dass die Undeutlichkeit des Begriffes es erlaubte, sowohl rechts wie links (Clintons New Democrats) Anknüpfungspunkte zu finden. Wie bei Cancel Culture ist es eine Zuschreibung von außen: niemand bezeichnet sich selbst als politisch korrekt, genauso wie niemand selbst cancelt. Das sind bzw. machen immer nur andere. An diversen Beispielen zeigt Daub auf, dass die Warnungen vor PC oft praktisch wortgleich zu denen von CC sind - ohne dass jemand auffiele, dass die apokalyptischen Zustände nie eingetreten sind.
Den großen Unterschied zwischen CC und PC sieht Daub darin, dass die Bedeutung von CC im deutschen Diskurs falsch beziehungsweise unvollständig verstanden wurde. Denn anders als PC gab es im linksafroamerikanischen Milieu tatsächlich die Forderung nach "canceln". Allein, der Begriff weise im Englischen mehrere Bedeutungen auf, und anders als amerikanische Medien, wo "die NYT und FOX etwas anderes unter derselben Bezeichnung Verschiedenes meinen könnten [...] schienen sich deutschsprachige Medien immer besonders sicher zu sein, was die Bedeutung von "canceln" anging".
Er folgt der Evolution des Begriffs aus der tumblr-Blase junger, linksaffinger und YA-Romane lesender internetaffiner Menschen zu, die über die "call-out culture" mögliche "problematische" Seiten populärer Werke sammelten und entsprechend markierte Verhaltensweisen anprangerten. Das konnte innerhalb dieser communities durchaus problematische Züge annehmen, aber Daubs Frage, warum dieses Nischenphänomen den Rest der Gesellschaft in diesem Maße beschäftigen sollte, ist mehr als angebracht. Cancel Culture sei zu Beginn identisch mit Call-Out Culture gewesen. Daub vermutet (allerdings ohne Belege dafür), dass dies daran liege, dass "Canceln" aggressiver klingt, während "Call-Out" die eigentlich intendierte Wortbedeutung impliziert.
Die tatsächliche Herkunft dieser Wortbedeutung ist nebulös. Daub spürt ihr bis 2014 nach, aber es ist natürlich unmöglich, eine präzise Genese des Begriffs auszumachen. Er versucht aber, gewisse Dynamiken der Entgrenzung des Begriffs - aus dem kleinen, ursprünglich ironischen Milieu von "Afrotwitter" - nachzuzeichnen, etwa unterschiedliche gesellschaftliche Spielregeln und Erwartungen an Schwarze und Weiße. Schwarze Interessen, Handlungen und Gruppen stünden unter wesentlich schärferer Beobachtung als weiße. So entstünde oft ein "Kontextkollaps", indem sehr begrenzte Phänomene verallgemeinert würden.
Diesen Kontextkollaps zeigt er anhand der Karriere des Begriffs der "Cancel Culture" auf. Seine Genese liegt auf Black Twitter, jener Blase linksaktivistischer Afroamerikaner*innen. Dort ist er gleichbedeutend mit Call-Out-Culture: es geht um das Ablegen von Rechenschaft, eine Verantwortlichkeit. Das Wort geriet dann in einen Popkultur-Kontext; so "cancelte" etwa Taylor Swift ihre Ex-Freunde. In diesen obskuren Zirkeln blieb es bis 2017, als von Kanye West aufgegriffen wurde. West verwendete es im Kontext seiner Begeisterung für Donald Trump und verkündete, er sei gecancelt worden, weil er Trump nicht cancele. Die Nutzung explodierte 2019, als es plötzlich von den Mainstream-Medien und (vor allem) FOX News aufgegriffen wurde, die es jetzt als Synonym für Political Correctness gebrauchten und damit jeden Kontexts enthoben. Noch absurder ist die Geschichte für Deutschland, wo der Begriff ebenfalls 2019 übernommen wurde - aber fast ausschließlich in Bezug auf die USA, die man als warnendes Beispiel nannte, ohne je den Begriff selbst zu definieren!
Weiter geht's in Teil 2.
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