Alan Sepinwall/Matt Zoller Seitz - TV (the Book). Two Experts Pick the Greatest American Shows of All Time (Hörbuch)
Die Frage nach der größten Serie aller Zeiten ist eine, die einschlägige Kreise beständig beschäftigt. Wie die beiden Autoren des vorliegenden Buches bereits in ihrem Vorwort deutlich machen, gibt es dieselbe Debatte für Filme bereits sehr viel länger, genauso wie es für Filme auch einen wesentlich größeren Fundus an Analysen, Rezensionen und Debatten gibt. Alan Sepinwall und Matt Zoller Seitz sind vermutlich die beiden bekanntesten TV-Kritiker überhaupt und haben sich zusammengetan, um eine Art Kanon der 100 besten Serien zu schreiben. Das ist natürlich ein reichlich vermessenes Unterfangen, weswegen die beiden es auch als eine Einladung zur Debatte verstanden haben wollen.
Zu Beginn stellen Sie ihre Metrik vor. In sechs Kategorien haben beide Autoren jeweils maximal 10 Punkte vergeben, so dass jede Serie maximal 120 Punkte haben kann. Beide diskutieren auch die Problematik von Punktewertungen für Kunst, entscheiden sich aber letztlich dafür, weil es einerseits aus ihrer Perspektive heraus nur bestehende Gefühle quantifiziert und andererseits die einzige Möglichkeit ist, die lästige Frage zu klären, welche denn nun die größte Serie aller Zeiten ist. Berücksichtigt wurden nur amerikanische Serien (weil die Autoren sich für andere nicht kompetent genug fühlen), solche die abgeschlossen sind (mit wenigen Ausnahmen wie den Simpsons oder South Park, die lange genug laufen) und nur solche, die fiktional sind. Die verwendeten Kategorien sind Innovation, Einfluss, Konsistenz, Performance (der Schauspieler*innen), Erzählung (Qualität der Drehbücher) und „Peak“ (wie gut war die jeweilige Serie verglichen mit dem Rest).
Die Autoren laufen direkt in ein Problem: Platz 1 hat 5 Titel mit insgesamt 112 Punkten. Das 1. Kapitel ist daher eine verschriftlichte Debatte zwischen den beiden, die zwischen den Simpsons, The Wire, The Sopranos, Cheers und Breaking Bad entscheiden muss. Breaking Bad und Cheers Scheiben vor allem im Vergleich mit den Sopranos und den Simpsons aus, weil beiden Autoren klar ist, dass sie hier nicht gewinnen können. Wesentlich schwieriger ist die Frage nach dem Spitzenpunkt: für eine Weile läuft die Debatte zwischen den Sopranos und The Wire, die beide ihre Argumente haben (die Sopranos vor allem wegen des Peaks, also der Höhepunkte und der Überraschungen, The Wire wegen seiner epische Breite), doch dann gelingt es Sepinwall, Seitz davon zu überzeugen, das den Simpsons der erste Platz gebührt, weil es so viele unterschiedliche Dinge ausprobiert und so wegweisend war. Allein wegen des kontroversen Endes bekommen dann die Sopranos den zweiten Platz.
Im Folgenden erhalten die meisten Serien ihr eigenes Mini-Essay; einige werden allerdings, wenn es sich thematisch anbietet, zusammengelegt. Die Essays werden zudem grob in mehrere Kategorien sortiert: so finden sich etwa die ersten zehn Plätze in einer eigenen Ranggruppe, die folgenden zwanzig als zeitlose Klassiker definiert und so weiter. Als Auflockerung finden sich immer wieder kleine Listen, etwa die Frage, wer den besten Schnurrbart hatte, die beste Frisur, den coolsten Namen und so weiter. Diese Listen empfand ich als eher nutzlos, weil mir zum einen in vielen Fällen der Kontext fehlte und zum anderen keinerlei Erklärung für die Einordnung gegeben wird. Ihren humoristischen Wert verloren sie daher für mich.
Die Essays selbst sind qualitativ sehr hochwertig. Auf vergleichsweise kleinem Raum versuchen die Autoren, stets das Besondere und Bahnbrechende an der jeweiligen Serie hervorzuheben und gleichzeitig ein Gefühl dafür zu geben, um was es sich eigentlich handelt. Hierzu werden auch immer wieder ikonische Zitate eingestreut oder auf ebenso ikonische visuelle oder strukturelle Merkmale verwiesen. Die Autoren haben dabei eine schwierige Gratwanderung zu bestehen: einerseits müssen die Essays einen Wert für jemanden haben, der die fragliche Serie sehr gut kennt, andererseits aber auch zugänglich genug sein, um dem Anspruch gerecht zu werden, für alle einen Kanon zu definieren. Zudem können sie natürlich nicht auch nur ansatzweise Vollständigkeit erreichen, weil über jede Serie grundsätzlich ein eigenes Buch geschrieben werden könnte (und von beiden Autoren in diversen Fällen ja auch wurde).
Insgesamt gelingt dieser Spagat den Umständen entsprechend halbwegs gut. In manchen Fällen fiel es mir deutlich leichter zu verstehen, was die Anziehungskraft der jeweiligen Serie während ihrer Laufzeit ausmachte, obwohl ich sie nicht gesehen habe; in anderen Fällen bekam ich ein warmes Gefühl des Wiedererkennens im Bauch und nickte zustimmend. Es gibt allerdings auch die Fälle, in denen man den jeweiligen Essay liest und sich danach genauso schlau wie vorher fühlt. Ob das daran liegt, dass mir jeglicher Kontext für die jeweilige Serie fehlt oder dass das Essay einfach anders geschrieben ist, ist nicht leicht zu beantworten.
Ich gehe allerdings davon aus, dass meine spezifischen Vorlieben hier eine gewisse Rolle spielen. Wo ich mit dem jeweiligen Gegenstand oder dem Genre eine Serie nicht viel anfangen kann, sind die Begeisterungsstürme der Autoren an mich verschwendet. Nur ein Beispiel: die Auflistung der verschiedenen Todesarten von Kenny in der Serie South Park mögen Fans der Serie allein schon ein Lachen abringen. Ich konnte mit South Park nie viel anfangen, weswegen wir entsprechend diese Sektion auch nichts gibt. Die rein inhaltlichen Erkenntnisse, etwa die Surrealität oder die primitiven Zeichnungen sowie die absolute Rücksichtslosigkeit im Humor waren mir ja bereits vorher bekannt.
Mein größtes Problem allerdings dürfte sein, dass ich mit einem kompletten Genre nichts anfangen kann: ich bin einfach kein Fan von Comedy. Ich habe es immer wieder versucht: ob How I Met Your Mother, Community, Big Bang Theory oder andere - nie hat es für mich geklickt. Das Macht für mich die Hälfte des Buches auf eine gewisse Art problematisch, weil ich die grundsätzliche Prämisse der Autoren von der Gleichrangigkeit von Comedy und Drama schlicht nicht teilen kann. Letztlich sind all diese Trennungen ja auch arbiträr: die Autoren ließen schließlich Talkshows oder Dokumentarserien aus ihrer Auflistung heraus, obwohl man sicher in einem Pantheon großartige Serien Charles Sagans „Kosmos“ mit auflisten könnte. Das ist natürlich eine rein persönliche Vorliebe, aber ich hätte es bevorzugt, einen Kanon ausschließlich von Dramaserien zu lesen, schlicht, weil dies meinen persönlichen Präferenzen entspricht.
Ebenfalls bedenkenswert ist das Alter des Buchs. Es entstammt dem Jahr 2015 und ist daher auf vielerlei Art und Weise veraltet. Dies betrifft nicht nur offensichtlich solche Serien, die damals noch nicht abgeschlossen waren oder noch in ferner Zukunft lagen (es ist irgendwie unterhaltsam, die Autoren über eine mögliche 3. Staffel von Twin Peaks sprechen zu hören). Es betrifft auch bestimmte Themenbereiche. So thematisieren die beiden bei dem Eintrag über die Bill Cosby Show ausführlich, inwieweit es überhaupt noch möglich ist, deren kulturelle Errungenschaften zu loben, da Crosby zum damaligen Zeitpunkt bereits als zigfacher Sexualstraftäter entlarvt war. Diese Problematik hat sich mittlerweile noch auf viele andere Bereiche ausgeweitet; man denke nur an House of Cards (Kevin Spacey) oder Buffy the Vampire Slayer (Joss Whedon).
Die beiden können diese Frage natürlich auch nicht abschließend klären. Aber der Umgang mit geänderten Informationen ist hier nur ein Teil dieser Problematik. Ein anderer betrifft veränderte gesellschaftliche Vorstellungen. Gerade bei älteren Serien thematisieren die Autoren immer wieder, dass zwar sexistische oder rassistische Topoi vorkommen, die aus heutiger Sicht mehr als problematisch sind, erklären dann aber, halb entschuldigend, dass eine Spur von Traurigkeit oder unterschwellige Kritik dabei gewesen sei. Das mag natürlich sein; trotz allem ist ein davon unberührter Genuss natürlich genauso wenig möglich wie bei den alten James-Bond-Filmen.
Dies führt aber zu einer kulturellen Problematik, die in der Struktur des Buches angelegt ist. Jedes Werk, das auf diese Art und Weise einen Kanon zu erstellen versucht, sieht sich dem Problem ausgesetzt, dass ist einerseits würdigen muss, wenn irgendwo neue Maßstäbe geschaffen und gänzlich Neues ausprobiert wurde, wenn also ein Werk stilbildend war. Gleichzeitig bedeutet das allerdings nicht, dass ist aus heutiger Perspektive noch unseren Ansprüchen genügt. So sind etwa Citizen Kane oder Sunset Boulevard sicherlich für die Entwicklung des Films ebenso entscheidende Wegmarken wie Spartacus oder Dirty Harry. Sie sind allerdings deswegen nicht zwingend gleichwertig mit heutigen Zuschauerfahrungen. So war „I love Lucy“ sicherlich für das Genre der Comedy ein entscheidender Wegstein; ob man es schon allein aus technischen Gründen heute noch mit Genuss ansehen kann, darf indessen bezweifelt werden. Auch hier frage ich mich, ob eine Unterteilung in historisch relevante Wegmarken und für ein heutiges Publikum immer noch herausragender Werke nicht sinnvoller wäre. Mir ist natürlich bewusst, dass jedem echten Cineasten allein bei dieser Vorstellung der Hut hochgeht.
Das Buch ist an dieser Stelle allerdings noch nicht zu Ende. Die Autoren schließen eine Aufstellung von „Works in Progress“ an, also Serien, die 2016 noch nicht abgeschlossen waren, aber ein gewisses Potential zeigten. Die Trefferquote der Autoren ist hier durchaus beachtlich, wenngleich ich die Abfertigung von „Halt and Catch Fire“ in nur einem Satz beinahe kriminell finde.
Nein diese Betrachtung schließt sich ein kürzerer Teil an, der die so genannten Miniserien behandelt. Darunter fallen solche Klassiker wie Roots, Band of Brothers oder Find Me A Hero. Die Miniserie hat eine wechselhafte Geschichte durchgemacht. In den 1960er, 1970er und 1980er Jahren war sie auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit, kann aber durch ihre geringen Produktionswerte heute üblicherweise nicht mehr konkurrieren. Auffällig sind vor allem die frühen 2000er Jahre, in denen HBO gigantische Budgets in Prestigeprojekte wie „John Adams“ oder eben „Band of Brothers“ steckte, die wie eine Art Vorbote des Goldenen Zeitalters der Fernsehserie erscheinen müssen.
Den Abschluss des Buches macht eine Betrachtung von für das Fernsehen adaptierten Theaterstücken - allen voran natürlich „Die 12 Geschworenen“ - sowie eine Reihe von TV-Filmen, also solchen Filmen, die wie Steven Spielbergs Erstlingswerk „The Duel“ die im Kino bei einem geringeren Budget Konkurrenz machen sollten. Die Autoren thematisieren dies zwar nicht, aber dies ist eine Art der Unterscheidung, die seit 2016 durch den kometenhaften Aufstieg der Streamingdienste ebenso arbiträr wie überflüssig geworden ist.
Insgesamt leidet das Buch unter seinem mittlerweile etwas fortgeschrittenen Alter: gerade in einem Bereich wie TV-Serien, indem die letzten Jahre massive Verwerfungen gesehen haben, ist der Schlusspunkt 2016 ein inhärentes Problem. Meine Probleme mit der Struktur des Buches habe ich ja bereits beschrieben. Trotzdem lohnt die Lektüre schon allein deswegen, weil der Markt noch relativ dünn ist und eine Kanonisierung und Strukturierung der Debatte nur helfen kann. Eine letzte Anmerkung: ich habe das Hörbuch gehört, das von den beiden Autoren selbst gelesen wird. Es ist wie immer Geschmackssache, aber ich finde Sepinwall keinen sonderlich angenehmen Erzähler, im Gegensatz zu Seitz.
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