Alexander Thiele - Machtfaktor Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht im System des Grundgesetzes

Das Bundesverfassungsgericht ist in der letzten Zeit stärker in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Von den Pandemieregeln zum Klimaurteil, von der Schuldenbremse zur EU-Integration wurden in den letzten Jahren einige aufsehenerregende, die politische Landschaft erschütternde Urteile gefällt, und jede politische Richtung hatte Grund, mit einem oder mehreren davon unzufrieden zu sein und zu beklagen, dass "Karlsruhe" von seinem Weg abgekommen sei und doch bitte Fehlurteile zu unterlassen habe. Ich bin ja selbst als Kritiker der weitreichenden Rechtsprechung des BVerfG aktenkundig. Genug Grund also, sich etwas tiefer mit der Materie zu befassen und Alexander Thieles neues Buch zu lesen, in dem er die Funktionsweise des BVerfG für Laien verständlich erläutert und die Lesenden an die Hand nimmt, um sie durch die arkanen Funktionsweisen "Karlsruhes" zu führen.

Kapitel 1, "Achteinhalb Stunden im Juni 2023", macht anhand einer Beschreibung des Schuldenbremsenurteils gleich mehrere Dinge klar. Einerseits, wie lang die Verhandlungen sein können und wie viel Expertise aufgeboten wird; dass ein Grundsatzurteil gefällt werden würde, weil das Gericht sich zu der Thematik bisher nicht geäußert hatte; dass die Regierung ihre eigenen Sachverständigen dabei hat; dass der Ausgang eines Verfahrens oft im Vornherein nicht feststeht und in jede Richtung gehen könnte, weswegen es das Urteil ja erst braucht; und dass danach gerne alle gewusst haben wollen, wie das Gericht entscheiden würde, obwohl das eben nicht klar war. Diese Offenheit ist eine Besonderheit der Verfassungsgerichtsbarkeit, und das zeigt Thiele im Folgenden auch gleich weiter auf.

Das zweite Kapitel, "Zur Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit", beginnt natürlich bei Marbury v Madison, dem Ur-Urteil der Verfassungsgerichtsbarkeit, und wie der Supreme Court sich damals seine Zuständigkeit im Endeffekt selbst schuf. Diese Entwicklung wurde nicht überall kopiert; tatsächlich gibt es nur wenige Nationen, deren Rechtssystem dem amerikanischen ähnelt. Auch die Bundesrepublik ging einen anderen Weg, indem sie das BVerfG als eine eigene Institution einrichtete und nicht als höchste Instanz. Auch das BVerfG aber holte sich seine weitreichenden Zuständigkeiten selbst, und ebenso wie SCOTUS musste es sich dazu gegen andere Institutionen wie den Bundeskanzler (Adenauer war wahrlich kein Fan) und den konservativen Bundesgerichtshof durchsetzen, ein Prozess, der aber bereits seit Längerem als abgeschlossen gelten kann.

Kapitel 3, "Funktion und Verfahrensarten", geht zuerst auf das Problem der "counter-majoritan difficulty" ein, das jedes Verfassungsgericht plagt. Per Definition entscheiden Verfassungsgerichte, wenn sie Verfassungswidrigkeit feststellen, immer gegen den demokratisch legitimierten Mehrheitswillen, da ja nur demokratische Mehrheiten überhaupt in der Lage sind, verfassungswidrige Bestimmungen zu erlassen. Allen Verfassungsrichter*innen ist die grundsätzliche Spannung klar, wenn ihre Urteile zu sehr vom gesellschaftlichen Konsens abweichen, was einen zentralen Legitimitätsverlust zur Folge haben könnte. Es sei als Seitenbemerkung hier gestattet, dass diese grundsätzliche Erkenntnis, die das BVerfG selbst immer wieder bestätigt hat, im Fall des Nomininierungsdebakels Frauke Brosius-Gersdorf plötzlich zum Politikum wurde - was nur zeigt, wie wichtig ein Buch wie dieses ist, um grundsätzliche Funktionen und Verfahrensarten darzustellen.

Und damit zu den Verfahrensarten. Derer gibt es vier: die abstrakte Normenkontrolle, den Organstreit, die Verfassungsbeschwerde und das Parteiverbotsverfahren. Andere Zuständigkeiten hat Karlsruhe nicht, aber diese lasten es bereits gut aus. Das ungewöhnlichste dieser Verfahren, auch im internationalen Vergleich, ist die abstrakte Normenkontrolle; ungewöhnlich deshalb, weil das Gericht hier extrem weitreichenden Interpretationsspielraum bestehender Normen einfordert und bereits ohne konkreten Gegenstand urteilt; es muss also nicht eine aktive Klage vorliegen, damit das Gericht eine Regel aufstellt. Aus diesem Feld stammen die weitreichendsten Entscheidungen. Demgegenüber ist der Organstreit für Bürger*innen meist völlig uninteressant, weil es um Zuständigkeiten innerhalb des föderalen Systems geht; meist werden Urteile (oder erwartete Urteile) durch entsprechende Reformen ohnehin in Verfassungsrecht überführt, wie das etwa bei der Föderalismusreform II der Fall war. Diese Umsetzung ist dabei nicht immer zum Vorteil der Verfassungsordnung, nebenbei bemerkt.

Die Verfassungsbeschwerde ist das Mittel, das Karlsruhes Ruf als "Bürger*innengericht" begründet, weil sie selbst einfachen Bürger*innen offensteht (was etwa beim SCOTUS nicht der Fall ist, der ja als letzte Instanz angerufen wird). In der Verfassungsbeschwerde begründet sich auch viel Kritik an Karlsruhe, weil das Gericht die Grundrechte sehr expansiv auslegt, was spätestens seit einem wegweisenden Urteil in den 1980er Jahren und, vor allem, einem einflussreichen Sondervotum zu verdanken ist. Zuletzt steht das Parteiverbotsverfahren als Exot im Portfolio; bisher kam es nur viermal zu einem, und nur zweimal überhaupt zu einem anschließenden Verbot. Thiele lässt aber keinen Zweifel daran, dass er es für ein legitimes und berechtigtes Werkzeug der wehrhaften Demokratie hält (anders als etwa Horst Meier, mit dem ich zu dem Thema gepodcastet habe).

Kapitel 4, "Status, Organisation und Richter:innen", beschäftigt sich mit der Organisation des Gerichts. So besteht es aus zwei Senaten à acht Richter*innen. Den Status des Gerichts als eigener Institution habe ich bereits angesprochen; es untersteht nicht dem Justizministerium und gibt sich seine Regeln effektiv selbst. Der Arbeitsaufwand für alle Beteiligten ist mit hunderten jährlicher Verfahren außerordentlich, und die Urteile umfassen meist mehrere hundert Seiten. Die Urteilsfindung erfolgt semi-anonym: das Gericht erhält die Fiktion aufrecht, dass es kollegial arbeitet und hat die Norm, dass die einzelnen Richter*innen gegenüber der Institution zurückstehen, anders als etwa beim SCOTUS. Das ist für die Legitimität des Gerichts sicherlich von Vorteil, und die Praxis von Sondervoten ist die Ausnahme von der Regel: sie sind selten und werden nicht gerne gesehen. Die Nominierung und Benennung von Richter*innen ist Bundestag und Bundesrat zu gleichen Teilen vorbehalten und geschieht im Parteiproporz. Auch hier hat das Debakel um Brosius-Gersdorf eine Erosion von Normen im demokratischen Spektrum aufgezeigt, die für Thieles Buch gleichwohl zu spät kam und deswegen hier keinen Niederschlag fand.

Dazu wird in Kapitel 5, "Der Weg zur Entscheidung und Entscheidungsfindungen", ausführlicher gesprochen. Eine Entscheidung braucht eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen; da es acht Richter*innen pro Senat gibt, sind Gleichstände möglich, die genauso wie 5:3-Entscheidungen auf strittige Themen hindeuten. Thiele lässt keinen Zweifel daran, dass das BVerfG keine Urteile für die Ewigkeit fällt; schon oft wurden frühere Urteile umgeworfen, wenn die gesellschaftliche Stimmung sich änderte (man denke nur an die Regelungen zur männlichen Homosexualität), weswegen das BVerfG grundsätzlich auch als ein politischer Akteur gesehen werden muss. In solch strittigen Fällen spielen die Sondervoten oft eine große Rolle für spätere Revisionen, können sich aber auch wie 1985 als Irrweg erweisen. Zuletzt beschäftigt sich Thiele mit den Entscheidungswirkungen der Urteile und wie sie umgesetzt werden.

Das sechste Kapitel, "Bedeutende Entscheidungen", zeigt exemplarisch wegweisende Entscheidungen auf. Thiele beginnt mit denen zum politischen System. Dazu gehören die Verfassungsmäßigkeit der Westbindung und des Grundlagenvertrags (beide in Frage, weil das Grundgesetz die deutsche Teilung zu überwinden als Auftrag enthielt) und die europäische Integration (wo auch im europäischen Vergleich weitreichende Urteile gefällt wurden, die in keinem anderen europäischen Land im juristischen Entscheidungsraum liege). Ein weiterer Bereich behandelt demokratische Kommunikation. Hier befasst sich Thiele mit der Rundfunkordnung (extrem expansiv und detailliert von Karlsruhe geregelt anstatt vom Bundestag) und der Versammlungsfreiheit, die in den 1980er Jahren komplett neu und liberal ausgelegt wurde, mit weitreichenden Folgen auch für die Rolle der Polizei. Der dritte Teil befasst sich mit Entscheidungen zum gesellschaftlichen und ökonomischen Leben. Dazu gehören die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die unter Adenauer blanke Theorie war und erst durch das BVerfG mit Leben gefüllt wurde (wie so viele Grundrechte), die Strafbarkeit der männlichen Homosexualität (die es in mehreren aus heutiger Perspektive unhaltbaren Urteilen mit rein normativen Begründungen zur Sitte aufrechterhielt) und die wirtschaftspolitische Neutralität; es ist auffällig, wie sehr das BVerfG in all den Jahren jegliche Einmischung in die Wirtschaftspolitik vermieden hat, anders als etwa in der Gesellschaftspolitik.

Kapitel 7, "Das Bundesverfassungsgericht in der Kritik", zeigt zentrale Kritiken am BVerfG auf. Hier geht es vor allem darum, dass das Gericht einerseits sehr kleinteilig in den politischen Prozess eingreift, dem Gesetzgeber also sehr eingengende Vorgaben macht und dadurch ein demokratisches Legitimationsproblem schafft, und dass das BVerfG diese Details aus dem Grundgesetz herausliest, wo der Text sie eigentlich kaum hergibt (man denke nur an die Schaffung eines Rechts auf informelle Selbstbestimmung). So positiv die expansiv-liberale Lesart der Grundrechte (gerade im Kontrast zum Bundesgerichtshof) für die Bundesrepublik oft auch war, so hat dies alles eine klare Kehrseite.

Entsprechend stellt Thiele im abschließenden Kapitel 8, "Mehr Politik wagen?", die Frage, ob das BVerfG nicht etwas mehr Zurückhaltung üben und politische Fragen auch dem politischen Raum überlassen sollte. Thiele kommt wenig überraschend zum Schluss, dass er diese Frage bejaht.

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Ich habe Thieles Buch mit großem Gewinn gelesen. Ein Grundverständnis zur Struktur und den Funktionen des Gerichts ist gerade angesichts dessen großer Rolle im politischen Prozess mehr als hilfreich. Die betonte Bescheidenheit des Gerichts in seinem öffentlichen Auftreten steht in einem, auch demokratischen, Spannungsverhältnis zu seiner Bedeutung für den politischen Prozess. Thiele hat zwar eine recht klare Positionierung bei der Thematik (er war ja im Schuldenbremsenurteil auch Sachverständiger der Bundesregierung vor Gericht), aber seine Schilderungen und Erklärungen sind objektiv, so dass die Lektüre auch für Leute, die ihm nicht zustimmen, völlig gut machbar ist; lediglich Kapitel 1 und Kapitel 8 sind deutlich von seiner eigenen politischen Einstellung gefärbt, aber das ist ja völlig in Ordnung. Als komplementäre Lektüre sei übrigens noch die Einführung "Das Grundgesetz" vom selben Autor empfohlen, eine für Laien verständliche Übersicht und Kommentierung des Grundgesetzes und seines Aufbaus.

Für mich bestätigt das Werk - neben der Tatsache, dass ich nun ein besseres Verständnis für das BVerfG habe - einige Kritikpunkte, die ich hier im Blog auch immer wieder vorgebracht habe. Die Gefahr, dass sich diese expansiven Auslegungen widersprechen, und Karlsruhes Indifferenz gegenüber den politischen Nöten bei der Umsetzung kann uns noch gehörig Probleme machen. Die europäische Integration ist bereits stark durch seine Entscheidungen angeschlagen, aber das größte Problem sehe ich weiterhin im Konflikt zwischen der kleinteilig-expansiven Regelung zu den Mindestgrenzen des Sozialstaats, die reale Kürzungen praktisch unmöglich machen; den expansiven Bestimmungen der Schuldenbremse, die entsprechende Maßnahmen hier beschränken; und den (bislang mangels eines Grundlagenurteils nur normativ aufgestellten) Klimaschutzvoraussetzungen für das politische Handeln. Eine Verfassungskrise aus einer Totalblockade dieser drei Richtungen, in der es unmöglich ist, als Politik handlungsfähig zu bleiben (sprich: einen verfassungsmäßigen Haushalt aufzustellen) ist kein weit hergeholtes Szenario. So sehr ich manche Urteile des BVerfG inhaltlich auch begrüße, so wäre mehr Zurückhaltung und mehr "Politik wagen" durchaus angebracht.

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