Teil 1 findet sich hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
Caroline Elkins - Legacy of Violence: A History of the British Empire (Hörbuch)
Mit der Stabilisierung der Lage in Malaya wandte sich das Empire Kenia zu, wo der Mau-Mau-Aufstand seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Dieser war eine direkte Folge der Anwendung der in Palästina und Malaya benutzten Methoden von massenhafter Internierung in katastrophal versorgten Lagern, der Errichtung von Foltergefängnissen und der Umwandlung der Polizei in eine paramilitärische Terrorbehörde. All diese Maßnahmen hatten dazu gedient, einen "racial capitalism" durchzusetzen, in dem die weiße Agrarieroberschicht die schwarze Konkurrenz durch diskriminierende Gesetzgebung ausschaltete und die Einheimischen gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen und zu Hungerlöhnen für die Weißen zu arbeiten. Die Mau-Mau wandten sich mit Gewalt gegen "alle Europäer", und die Briten reagierten wie in Malaya.
Diese "systematized violence", wie es britische Kolonialismuskritiker ausdrückten, führte zu einer ganzen Infrastruktur von Folterlagern, in denen Verdächtige (und verdächtigt werden konnte jede*r) brutalst an Körper und Geist zerstört wurden; einer Masseninternierung und Militarisierung. Gleichzeitig aber wurden die Mau-Mau militärisch besiegt. Administrativ und propagandistisch stellten die Camps die Briten aber vor enorme Probleme. Unter den Ausnahmebestimmungen, die mit den Unterzeichnerstaaten der Menschenrechtserklärung und Genfer Konvention (die bezeichnenderweise beide den Soldaten und Offizieren nicht beigebracht wurden) ausgehandelt worden waren, mussten die Briten die Zahl der Insassen ab 1956 um mehrere zehntausend zu reduzieren. Dazu mussten diese aber "gebrochen" werden, damit sie einen Eid auf die Kolonialmacht leisteten - was mit dem Einsatz von "systematized violence" erreicht wurde. Die Briten fälschten Statistiken und klassifizierten ihre Methoden um, um formal den Menschenrechtsstandards zu genügen, während in den Lagern neugebildete Folterschwadrone unterwegs waren.
Ein gänzlich anderer Grund für Kolonialkonflikte wied im vierzehnten Kapitel, "Operation Legacy", aufgezeigt. Die im Zusammenhang mit Malaya angesprochenen Zahlungsbilanzen waren eine Seite der wirtschaftlichen Medaille; die andere waren die Warenströme durch den Suezkanal, der vertraglich 1956 an Ägypten zurückgegeben werden musste, und der Zugang zum Öl. Das Pfund Sterling hing in seiner Bewertung von der imperial preference ab, also der Abschottung des Empire vom Weltmarkt durch bevorzugte Behandlung Großbritanniens, das so seine Kolonien ausbeutete. Die USA drängten stets auf Liberalisierung, waren aber wegen der geopolitischen Rivalität mit der Sowjetunion gezwungen, Großbritannien und das Pfund Sterling zu stützen. Diese fragile Beziehung brach erstmals mit der Suezkrise 1956; das Pfund ging in eine Talfahrt, und die USA erklärten sich nur zu einem Bailout bereit, wenn Großbritannien sich zurückzog. Der Großmachtanspruch des UK war damit effektiv nicht mehr zu halten.
Zur gleichen Zeit fand im UK eine ernsthafte Empiredebatte statt. Kritik an der Konstruktion war immer noch ein Randphänomen (Labour nutzte es nur als oppositionellen Knüppel, ohne ernsthafte Reformen zu fordern), fand aber in der Zivilgesellschaft erstmals großen Widerhall. Besonders bedeutend hierfür war Zypern. Die Insel besaß für die britischen Streitkräfte große strategische Bedeutung, aber die Unabhängigkeitsbewegung dort geriet zum Problem. Die Nachrichtendienste machten ihren Job so schlecht, dass sie Monate brauchten um zu erkennen, dass ihr Hauptgegner kein Kommunist, sondern Rechtsextremist war; von einer Verankerung in der Bevölkerung ganz zu schweigen. Stattdessen griff man auf die Taktiken aus Palästina und Malaya zurück, setzte die Europäische Menschenrechtskonvention für Zypern aus und setzte Folterschwadronen ein. Doch die Zeiten hatten sich geändert: Zahlreiche mittlerweile unabhängige Staaten machten Druck über die UNO, und in Europa nutzte Griechenland die Konventionen, um Großbritannien vor Gericht zu zwingen.
Die Kolonialmacht reagierte auch darauf wie gewohnt: man berief sich auf die eigene moralische Überlegenheit, die liberalen Werte und sprach von Reformen. Doch der verrechtlichte Prozess, der anders als bisher für das UK mehr als nur Lippenbekenntnisse zur rule of law bedeutete, weil nun Klägerstaaten deren Einhaltung erzwangen, änderte grundlegend etwas. Die britische Regierung wählte den einzig verbliebenen Ausweg und übergab den Konflikt der Arbitration der Griechen und Türken. Zypern wurde unabhängig. Als zu Beginn der 1960er dann die Mau-Mau-Grausamkeiten an die Öffentlichkeit kamen, befand sich die Kolonialbehörde endgültig in der Defensive. Trotz des Posierens der Regierung vom "ewigen" Bestand des Empire begann ein rapider Auflösungsprozess mit Unabhängigkeiten in den 1960er Jahren.
Diese Unabhängigkeiten wurden von "Operation Legacy" begleitet, einem großangelegten Programm zur Vernichtung von inkriminierenden Unterlagen. Tonnenweise verbrannten die Kolonialbehörden die Beweise ihrer Gewaltherrschaft und übergaben nur harm- und nutzlose Aktenbestände an die neuen Machthaber. Alles andere wurde vernichtet oder nach London geschafft, wo es unter Geheimhaltungsregeln in den Archiven verschwand - und in vielen Fällen dort heute noch liegt.
Der Epilog zeigt jedoch, wie diese Unabhängigkeiten die britische Gewaltherrschaft ansatzlos fortführten. Jahrzehnte der Institutionalisierung ließen den neuen Regierenden keine anderen Strukturen als die von den Briten geschaffenen, die auf rassistischen Einteilungen und Gewalt beruhten. Auch wenn Elkins das nicht weiter thematisiert darf man den neuen Machthabern allerdings gerne unterstellen, dass sie sich nicht unbedingt angestrengt haben, etwas daran zu ändern. Die Debatte, inwiefern die Ex-Kolonialmächte für die den Unabhängigkeiten folgende Gewalt verantwortlich zu machen sind, spielt bei Elkins kurioserweise trotz des Buchtitels praktisch keine Rolle.
Sie geht stattdessen im Eilverfahren durch die innenpolitischen Debatten (die Tories und Labour stritten vorrangig um die Frage, wer eigentlich das Empire "verloren" hatte, und zeigten wenig Interesse daran, die Vergangenheit aufzuarbeiten). Änderungen des Staatsbürgerschaftsrechts wurden vor dem Hintergrund einer Furcht vor Einwanderung nicht-weißer Commonwealth-Bewohner diskutiert, die rassistische Gewalt in Großbritannien auslöste. "If you want a nigger for a neighbour, vote Labour" war ein Wahlslogan, mit dem 1959 ein Torie in den Wahlkampf zog (erfolgreich, natürlich). 1971 wurde das Einwanderungsrecht offiziell so geändert, dass nur noch Weiße aus dem Commonwealth einwandern konnten. Elkins sieht in diesem Rassismus eine Art Heimkehr des Gewaltregimes des Empires, was mit angesichts der Universalität des Phänomens eine ziemlich fragwürdige Behauptung scheint.
Die größte Aufmerksamkeit aber wendet sie der Aufarbeitung des kolonialen Gewaltregimes ab 2009 zu. Ein Teil davon ist sicher autobiografisch. Elkins' "Imperial Reckoning" von 2005 arbeitete als erstes historisches Werk das Gewaltregime der britischen Kolonialbehörden auf (es befasste sich ausschließlich mit den Internierungslagern in Kenia), und sie diente als Expertin im 2009 beginnenden Prozess der Opfer der Gewaltherrschaft gegen den britischen Staat. Dieser etablierte zum einen die Existenz eines Gewaltregimes und verwarf die von der britischen Regierung beinahe schon routinemäßig vorgebrachte Behauptung von "souverän handelnden Einzeltätern", sondern sprach den Opfern auch finanzielle Entschädigung zu. Damit war, ähnlich dem deutschen Prozess der Vergangenheitsbewältigung, die Kolonialvergangenheit auch höchstrichterlich festgestellt.
Anders als in der späteren Bundesrepublik aber führte das von konservativer Seite zu einem harten Kulturkampf. Michael Gove, damals Kultusminister und später in die Brexit- und Boris-Johnson-Debakel involviert, forderte eine Erziehung der britischen Jugend zum Stolz auf das Empire und forderte in einer den amerikanischen Rechtsradikalen ähnelnden Sprache, dass man keine "colonial guilt" lehren sollte. Auch ansonsten strotzten die konservativen Behauptungen wie in all diesen Kulturkämpfen von einfach widerlegbaren Lügen, was den medialen Zirkus natürlich nicht verhinderte.
Zum Abschluss schlägt Elkins den Bogen zu den aktuellen Bürgerrechtsprotesten gegen rassistische Diskriminierung in Großbritannien, die dortigen Statuenstürze und den Kampf gegen Polizeigewalt. All das mag oder mag nicht mit der Empire-Vergangenheit zusammenhängen. Die Debatte um Harry und Meghan kommt ebenso zu Wort wie die Verschärfung des Immigrationsrechts (sprich: rassistische Diskriminierung) durch die May-Regierung. Letztlich bleibt dieser Teil ein etwas diffuser Koda zu dem Buch, weil die analytische Klammer nur angedeutet wird. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Absicht ist, bleibt der kausale Zusammenhang zu der Niederschlagung der Mau-Mau doch eher mau (Verzeihung, konnte ich mir nicht verkneifen).
Und das ist auch das Problem des gesamten Buchs. Letztlich bleibt trotz des eingängigen Titels - "Legacy of Violence" - eine grundsätzliche Hypothese merkwürdig nebulös. Das britische Empire beruhte auf einer Herrschaft von Terror und Unterdrückung.Aber what else is new? Wäre das das Thema, so wäre der Verdienst des Buches gegebenenfalls, die Herrschaftsweisen des Empire aufzuzeigen. Allein, dazu fehlt es an Systematik. Mir ist nie klar, warum wir uns mit dem jeweiligen Thema beschäftigen. Malaya, Palästina, Irland und Kenia sind sicherlich die größten Schauplätze kolonialer Gewalt, aber Elkins deutet gelegentlich an, dass es (wenig überraschend) in Jamaika nicht anders aussah. Und wie sieht es in den anderen Territorien? Elkins bleibt stets merkwürdig unspezifiziert darin, warum sie welches Thema in welchem Kapitel bespricht; die Festlegungen wirken manchmal wie von der verfügbaren Quellenlage diktiert.
Im Verlauf der Lektüre wurde mir klar, dass sie eine spezifische Empire-Konstruktion verwendet. Sie sieht das Empire erst ab der direkten Übernahme großflächiger Territorialherrschaft ab Mitte des 19. Jahrhunderts, während die Konstruktion vorher der "light footprint" indirekter Herrschaft gewesen sei. Das macht als analytische Kategorie eine Menge Sinn, wird aber nie festgezurrt. Stattdessen darf ich mir die Schlussfolgerungen aus verstreuten Seitenbemerkungen und den zahllosen Narrativen und Quellenerzählungen quasi selbst herauslesen. An der Stelle macht die Autorin in meinen Augen einfach den Kernjob der Geschichtswissenschaftlerin nicht.
Dasselbe gilt für die mangelnden Vergleiche. Elkins erwähnt, dass in den Aufarbeitungsdebatten Großbritanniens (die, das sei noch einmal betont, völlig unzureichend sind) die Ausrede benutzt wird, dass der Kongo wesentlich schlimmer gewesen sei. Und das ist sehr realistisch. Die größte Schwäche des Buches, neben dem fehlenden Fokus und analytischen Kern, der dies hätte ausgleichen können, ist das völlige Ignorieren der anderen Kolonialreiche. Waren die Briten nun, wie sie es behaupteten, besser als andere? War die britische Unterdrückung Kenias weniger schlimm als die französische Algeriens? Elkins erzählt mir zwar, dass die britische Regierung und ihre Sympathisant*innen das behaupten, tut aber nichts, um es einzuorden. Stattdessen bleibt die Implikation, der Ruch, dass dem nicht so sei. Dieses Insinuieren aber ist kein sauberes historisches Handwerk, sondern politisches. Das hat auch seinen Platz, aber eben nicht in der Wissenschaft.
Das ist umso bedauerlicher, weil der Revisionismus, den Elkins hier betreibt, mehr als notwendig ist. Die Konservativen leugnen große Teile der Gewalt immer noch, und die Glorifizierung des Empire in diesen Kreisen ist angesichts der realen Geschichte einfach nur ekelhaft. Wie irgendjemand einen Apologeten wie Niall Ferguson ernstnehmen kann, ist mir unbegreiflich. Obwohl - da die Alternative aktuell (zumindest laut Elkins) nur in solchen Werken besteht, erklärt sich das auch wieder ein wenig. Das Sujet ist ein ungemein wichtiges, und die Aufarbeitung des Kolonialismus mehr als überfällig - ob in Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien oder Deutschland. Aber das hier ist leider nur ein Babystep auf dem Weg dorthin.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: