Chris L. Hayes - The Siren's Call (Hörbuch)

Es mangelt wahrlich nicht an Warnungen vor der negativen Wirkung der sozialen Medien im Besonderen und der dazugehörigen Technologie, dem Smartphone, im Allgemeinen. Düstere Prognosen über die Folgen für die Fähigkeiten und Zukunft der Kinder reihen sich aneinander, deren Aufmerksamkeit von ihren Geräten in Beschlag genommen wird und die unter der Tyrannei von Snapchat, TikTok und Co leiden. Menschen meiner Generation - oder älter - schauen oft mit Unverständnis auf eine fremde Welt, in der sie nicht nicht bewegen. Warner wie Jonathan Haidt haben eine große Berühmtheit erlangt. Angesichts der Qualitäten, die Chris Hayes als Journalist vorzuweisen hat, habe ich mich entschlossen, sein neues Werk ebenfalls unter die Lupe zu nehmen und seine Darstellung des "Sirens' Call" unter die Lupe zu nehmen.

Die Metapher der Sirenen, deren bezirzender Gesang zahlreiche Seefahrer ins Verderben lockte, ist keine sonderlich subtile. Für Hayes ist klar, dass die modernen Medien ein neuartiges und gefährliches Phänomen darstellen, weil sie die Aufmerksamkeit auf sich rufen - ganz wie die Sirenen, die heute noch auf Einsatzfahrzeugen heulen. Im Zentrum des Buchs steht also die These, dass Aufmerksamkeit – lange als bloße kognitive Fähigkeit des Einzelnen betrachtet – heute zur vielleicht umkämpftesten und gefährdetsten Ressource geworden ist. Hayes argumentiert, dass dieser Wandel nicht nur individuelle Auswirkungen hat, sondern die Grundlagen demokratischer Gesellschaften bedroht. Dabei greift er auf historische Vergleiche, persönliche Erfahrungen, kulturwissenschaftliche Konzepte und medienkritische Reflexionen zurück.

Wo allerdings der Held Odysseus lässt sich an den Mast seines Schiffes binden, um dem tödlichen Gesang der Sirenen zu lauschen, ohne ihnen zu folgen. Diese Geschichte dient Hayes als Sinnbild für die moderne Medienrealität: Wir alle sind permanent dem digitalen „Ruf“ ausgesetzt – von sozialen Netzwerken, Nachrichtenportalen, Streaming-Diensten, Notifications, Werbung, Influencern – und haben kaum Strategien, uns selbst davor zu schützen.

Die Sirenen stehen in Hayes’ Deutung für die allgegenwärtigen Verlockungen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen, zerstreuen und vereinnahmen. Doch im Unterschied zum antiken Mythos sind die modernen Sirenen nicht leicht zu identifizieren – sie verpacken sich in Unterhaltung, Information, sozialer Interaktion. Die ständige Verfügbarkeit dieser Reize verändert nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Wahrnehmung von Relevanz, Wahrheit und Realität.

Hayes zeichnet die historische Entwicklung nach: In einer Ära der Informationsknappheit – etwa im 20. Jahrhundert – war Aufmerksamkeit ein vergleichsweise stabiles Gut. Medien konkurrierten zwar um Reichweite, aber die Angebote waren begrenzt: Zeitungen, Radio, später Fernsehen. Mit der Digitalisierung, besonders seit dem Aufstieg des Web 2.0, hat sich das Verhältnis jedoch umgekehrt: Informationen sind im Übermaß vorhanden, während Aufmerksamkeit zur Flaschenhalsressource wurde.

Diese neue Ökonomie basiert auf einem fundamentalen ökonomischen Prinzip: Aufmerksamkeit kann in Geld umgewandelt werden. Je länger Menschen auf einer Plattform verweilen, desto mehr Werbung kann ihnen gezeigt, desto präzisere Daten über ihr Verhalten können gesammelt werden. Hayes zeigt, dass diese Logik nicht nur das Geschäftsmodell von Big Tech bestimmt, sondern tief in alle Formen von Kommunikation und Öffentlichkeit eingesickert ist – von Nachrichtensendungen bis zur persönlichen Selbstdarstellung.

Einen Schwerpunkt legt Hayes auf die psychologischen Mechanismen, die digitale Plattformen ausnutzen, um Nutzer*innen möglichst lange zu binden. Er beschreibt detailliert die Rolle von Dopamin, Intervallbelohnung, emotionaler Erregung und algorithmischer Verstärkung. Besonders problematisch sei, dass die Systeme nicht auf Erkenntnisgewinn, sondern auf Maximierung der Verweildauer optimiert sind.

Hier kritisiert Hayes nicht nur die Plattformen selbst, sondern auch die kulturelle Naivität, mit der Gesellschaft und Politik diesem Strukturwandel begegnet sind. Lange habe man soziale Medien als Demokratisierungsinstrumente gefeiert – ohne zu erkennen, dass sie ökonomisch incentiviert sind, Polarisierung, Empörung und Sensationalismus zu verstärken.

Ein zentrales Anliegen des Buches ist es, die politischen Folgen der Aufmerksamkeitsökonomie zu analysieren. Hayes beschreibt, wie sich die Struktur des öffentlichen Diskurses verändert hat. Während früher Redaktionen, Expert*innen und Institutionen die Themenagenda bestimmten, dominiert heute ein Plattform-getriebener Diskurs, in dem Emotionen und Sichtbarkeit über Inhalt und Tiefe siegen.

Er analysiert anhand zahlreicher Beispiele – etwa der Trump-Präsidentschaft oder dem Umgang mit Desinformation während der COVID-19-Pandemie –, wie leicht politische Akteure lernen können, das System für sich zu instrumentalisieren. Figuren wie Trump oder Elon Musk begreifen sich selbst als mediale Akteure und gestalten ihre Kommunikation danach, wie viel Aufmerksamkeit sie generieren können – oft unabhängig vom Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen.

Für Hayes steht fest: Aufmerksamkeit ist nicht nur eine Frage von Mediennutzung, sondern eine der politischen Steuerungsfähigkeit. Wenn Bürger*innen sich nicht mehr dauerhaft mit komplexen Zusammenhängen befassen können, sondern nur auf kurze, zugespitzte Reize reagieren, wird Demokratie zur bloßen Simulation.

In einem sehr persönlichen Kapitel beschreibt Hayes seine eigene Beziehung zur Aufmerksamkeit – als Moderator einer Nachrichtensendung, als Vater, als Konsument. Er reflektiert, wie auch er sich immer wieder in digitalen Schleifen verliert, obwohl er deren Mechanismen kennt. Dies verleiht dem Buch eine authentische Note und unterstreicht, dass das Problem nicht durch bloßen „Willen“ zu lösen ist.

Er beschreibt die paradoxe Situation: Während wir uns zunehmend unwohl fühlen mit unserer eigenen Mediennutzung, erleben wir gleichzeitig ein Schuldgefühl, wenn wir nicht „up to date“ sind. Die ständige Präsenz von Krisen, Katastrophen und Skandalen erzeugt einen Druck, informiert zu bleiben – ohne dass wir tatsächlich Orientierung oder Handlungsfähigkeit gewinnen.

Hayes unternimmt auch einen Ausflug in die Kulturgeschichte. Er analysiert, wie sich unsere Erzählungen über Aufmerksamkeit, Wissen und Wahrheit verändert haben – von Platon über Kant bis ins digitale Zeitalter. Er verweist auf den Philosophen Byung-Chul Han, der von der „Transparenzgesellschaft“ spricht, in der alles sichtbar, aber nichts mehr verstehbar ist.

Der Begriff des „Spektakels“ – von Guy Debord geprägt – erhält bei Hayes eine neue Relevanz. Die Welt wird zur Abfolge medial inszenierter Ereignisse, deren Wahrheitsgehalt nachrangig ist. Entscheidend ist, ob sie klickbar, teilbar, diskutierbar sind. Aufmerksamkeit wird zur Währung des symbolischen Kapitals – eine Entwicklung, die auch vor Wissenschaft, Kunst und Bildung nicht haltmacht.

Trotz aller Diagnose bleibt Hayes nicht bei der Kritik stehen. Er präsentiert Ansätze, wie Individuen, Medien und Gesellschaften gegensteuern könnten. Auf individueller Ebene plädiert er für digitale Selbstdisziplin – etwa durch das Abschalten von Benachrichtigungen, medienfreie Zeiten, bewusste Lektüre.

Auf institutioneller Ebene fordert er eine tiefgreifende Reform der Anreizsysteme: Plattformen müssten regulatorisch gezwungen werden, andere Kennzahlen als Verweildauer zu priorisieren – etwa Informationsqualität, Vertrauenswürdigkeit oder soziale Kohärenz. Er nennt Beispiele für Projekte, die alternative Plattformmodelle entwickeln, z. B. gemeinwohlorientierte soziale Netzwerke oder öffentlich-rechtliche Algorithmen.

Außerdem sieht er Potenzial in „langsamen Formaten“: Podcasts, Longform-Journalismus, Lesekreise. Diese fördern andere Formen von Aufmerksamkeit – langsamer, tiefer, verbindlicher.

Chris Hayes hat mit The Sirens’ Call ein Werk vorgelegt, das weit über medienkritische Reflexion hinausgeht. Es ist ein philosophisches, politisches und persönliches Buch über die wahrscheinlich wichtigste Ressource des 21. Jahrhunderts: unsere Aufmerksamkeit. Es zeigt, dass die Verteidigung dieser Ressource kein Luxusproblem ist, sondern eine demokratische Notwendigkeit.

Besonders beeindruckend empfand ich seine Darstellung der Lincoln-Douglas-Debatten im 19. Jahrhundert. 90-minütige, hochkomplexe Monologe waren damals gefeierte Events. Ich bin ja zugegebenermaßen immer etwas skeptisch gegenüber den "früher war X besser als heute"-Narrativen, und gerade bei solchen Dingen ist es unmöglich festzustellen, ob die Debatten tatsächlich so stattgefunden haben, wie die gedruckten Texte wirken und ob die Mehrheit der Menschen sie wirklich verstanden hat. Wir wissen ja etwa, dass die Theateraufführungen im 18. und 19. Jahrhundert mit den heutigen hochsubventionierten Frack-und-Fliege-Veranstaltungen wenig zu tun hatten, so dass auch hier eine gewisse Skepsis angeraten ist, die Hayes nicht unbedingt an den Tag legt.

Besonders hervorzuheben ist Hayes’ Analyse von Donald Trump als Sinnbild des Aufmerksamkeitszeitalters. Seine intuitive Fähigkeit, zu erkennen, dass negative Aufmerksamkeit ebenso wirksam – wenn nicht sogar wirksamer – ist als positive, legt einen zentralen Mechanismus unserer Medienlandschaft offen. Empörung, Skandalisierung und ständige Unterbrechung wirken nicht nur anziehend – sie sind effizienter darin, Aufmerksamkeit zu binden, als fundierte und nachhaltige Auseinandersetzung. Das erklärt auch, warum der öffentliche Diskurs zunehmend einem Zustand gleicht, den Hayes als „aufmerksamkeitsgetriebenen Warlordismus“ beschreibt – eine Art medialer Anarchie, in der Inhalte um Sichtbarkeit kämpfen wie rivalisierende Milizen um Territorien.

Das Buch ist nicht frei von Schwächen. Die von Hayes vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen wirken teils unausgereift – sie reichen von individuellen Strategien wie dem Verzicht auf Smartphones bis zu regulativen Eingriffen, die kaum konkretisiert werden. Mitunter geraten die Ausführungen über die Kommerzialisierung von Aufmerksamkeit ins Belehrende. Gerade diese Aspekte sind es, die mich an dieser Thematik so oft stören und die bei weitem nicht nur auf Hayes und sein Buch beschränkt sind. Aufrufe zu persönlicher Zurückhaltung taugen auch beim Thema Klimaschutz nichts, sie sind keine große Hilfe für Leute, die einfach zu gerne Süßes mögen und sind auch nutzlos, wenn wir versuchen, Jugendliche zu schützen.

Wenn die sozialen Medien wirklich so zerstörerisch wirken, wie dies in diesen Warnungen - diesen Sirenengesängen - postuliert wird, dann führt kein Weg an einer umfassenden Regulierung beziehungsweise Verbot vorbei. Wir haben dasselbe mit Zigaretten und Alkohol auch gemacht und sind selbst da vermutlich wesentlich zu zurückhaltend. Aber die Drastik der Warnungen und die propagierte Schädlichkeit der Sirenengesänge steht immer in keinem Verhältnis zu den geforderten Lösungen, sofern überhaupt welche gefordert werden. Das soll nicht von der grundsätzlichen Qualität des Buches subtrahieren.

Hayes gelingt es, weit über die bloße Beschreibung kollektiver Zerstreuung hinauszugehen. Er zeigt, dass es nicht nur unsere Gewohnheiten sind, die sich verändert haben, sondern dass die digitalen Infrastrukturen selbst unsere Denkweise, unsere Kommunikationsformen und unser soziales Selbstverständnis umformen. In einer Welt, in der Aufmerksamkeit zur umkämpften Ressource geworden ist, argumentiert Hayes eindringlich: Die Rückeroberung unserer geistigen Autonomie ist kein Akt individueller Willenskraft allein – sie erfordert ein Bewusstsein für die strukturellen Kräfte, die unsere Wahrnehmung systematisch vereinnahmen.

Insgesamt bleibt die Lektüre, wie immer bei Hayes, lesenswert. Aber ich würde lügen, wenn ich nicht sagen würde, dass es das seiner Bücher war, das mir am wenigsten gefällt.

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