Christopher Leonard - Kochland. The Secret History of Koch Industries and Corporate Power in America (Hörbuch)
Zuerst schien alles glatt zu gehen. Niemand bemerkte die krasse Zunahme und die Compliance-Mitarbeiterin wurde eingeschüchtert und stellte ihre Kontakte zu den Aufsichtsbehörden vorläufig ein. Doch eine der Maschinen, die man aus Kostengründen nicht repariert hatte, Nun endgültig zusammen und sorgte zusammen mit der fehlenden Expertise der Beteiligten dafür, das Millionen Liter verseuchtes Wasser unter Hochdruck in die umliegende Landschaft gespritzt wurden und sie fast vollkommen zerstörten. Nicht einmal die den Interessen der fossilen Industrie sehr gewogenen Regierungen jener Zeit und politischen Ausrichtung konnten das noch ignorieren. Entsprechend hatte Koch Industries einen größeren Skandal an der Hacke.
Mich erinnert diese ganze Geschichte massiv an Tschernobyl: die Hybris der beteiligten Experten, institutionelle Blindheit, eine wirklichkeitsfremde Theorie, die nicht einmal unter ihren eigenen Prämissen funktioniert (Koch zerstörte mit dieser Ideologie die eigene Basis, schuf im Endeffekt eine Korrosion des gesamten Systems).
Natürlich hatte der Skandal Konsequenzen für die beteiligten Beschäftigten. Die Whistleblower und Bedenkenträger wurden bestraft - sie wurden kaltgestellt und durch konzentriertes Mobbing aus dem Unternehmen gedrängt - während diejenigen, die das Recht gebrochen, die Ratschläge und Anweisungen der Compliance ignoriert und die Behörden belogen hatten befördert wurden.
Dass eine solche Reaktion seitens des CEO und des Oberen Managements nicht eben dazu angetan ist, systemische Probleme zu beseitigen, zeigt sich dann in Kapitel 9, "Off the Rails". In den 1990er Jahren fand das Motto "Wachstum um jeden Preis" seine krassesten Auswüchse. Die Beschäftigten hatten die Lehren Kochs verinnerlicht und eine neue Generation gelangte als process owners an decision spaces. Zum ersten Mal bestanden diese Entscheidungsebenen nicht aus Leuten, die im Unternehmen groß geworden waren, sondern aus den BWL-Schnöseln der Ostküsten-Universitäten. Diese leisteten zwar Lippenbekenntnisse zu Kochs Lehren, ohne allerdings - wenn man Leonards Narrativ glauben darf - dessen Kernprämissen wirklich aufzunehmen.
In Leonards Erzählung trägt Koch hierfür keinerlei Schuld, weil er zu jener Zeit durch einen Rechtsstreit mit seinem Bruder Bill abgelenkt war. Dieser führte einen persönlichen Rachefeldzug gegen seinen Bruder, weil er sich wegen des Ausverkaufs in den 1980er Jahren übervorteilt fühlte - oder aus welchem Grund auch immer, wirklich klar ist das nicht. Fakt ist allerdings, dass Bill in dem Rechtsstreit schmutzige Interna von Kochs illegalem Verhalten in die Gerichte zog und seinem Bruder so Probleme bereitete. In einer weiteren Merkwürdigkeit von Leonards Erzählung ist Bill dabei deutlich böser und schlimmer zu bewerten als die Umweltverbrecher von Pine Bent.
In der Zwischenzeit fand ein wahrer Bonanza der Firmenakquise statt. Eine der größten und folgenreichsten solcher Akquisen war der Kauf eines Futtermittelherstellers. Die Idee war stabil: eine starke und solide Kundenbasis, mit Koch Agriculture ein großes Konglomerat mit der passenden finanziellen Feuerkraft im Rücken und ein scheinbar todsicheres Geschäft, das auf der Spekulation mit diversen Koch bekannten Waren beruhte.
Erstmals in der Firmengeschichte wurde eine solch große Akquise mit Fremdkrediten gestemmt. Gut sechshundert Millionen Dollar wurden von mehreren verschiedenen Banken eingetrieben. Dabei übersahen die Finanzexperten allerdings – in Leonards Erzählung, weil ihnen die Präzision der Analyse eines Charles Koch abging -, dass die Firma große Verpflichtungen im Ferkelmarkt besaß. Als dieser 1998 crashte, stand Koch Agriculture plötzlich vor gigantischen Verlusten und die Banken verlangten Geld.
Koch argumentierte nun, dass der Futtermittelhersteller ein komplett eigenständiges Unternehmen sei, was ist theoretisch erlauben würde, es bankrottgehen zu lassen, ohne dass die Mutterfirma davon betroffen wäre. Die Banken würden dann alleine auf den Verlusten sitzen bleiben. Natürlich funktioniert das so nicht: die Firma war eindeutig ein Teil von Koch Agriculture. Koch er einigte sich außergerichtlich mit den Banken und bezahlte er einen größeren dreistelligen Millionenbetrag.
Wie so häufig nimmt Leonard eine empathische Sicht auf Koch ein. In Kapitel 10, "The Failure", beschreibt er dessen Tiefpunkt. In seiner Erzählung wusste Charles Koch von nichts, war durch seinen bösen Bruder abgelenkt, an allem unschuldig und wurde in seinen Managmenttheorien beständig fehlinterpretiert. Ich halte das für groben Unfug.
Letztlich ist es die Unternehmensvariante von „wenn das der Führer wüsste“. natürlich braucht es keine explizite Anweisung vom CEO Charles Koch, in einer Raffinerie eine bestenfalls Halblegale, die umweltverschmutzende Lösung zu wählen. Die gesamte Unternehmensphilosophie, wie Koch ist die unter großem Aufwand etabliert hat, führt genau zu diesen Ergebnissen. Leonard lässt aber jede soziologische Untersuchung der Unternehmensstrukturen beiseite und konzentriert sich letztlich nur auf Personen. Damit bedient er uralte Narrative: der König ist gut, er hat nur böse Berater.
Stattdessen bekommen wir eine Geschichte, in der Koch effektiv alles richtig gemacht hat: die Fehler in der Raffinerie beruhten auf übereifrigen Angestellten, nicht auf einer fehlgeleiteten Unternehmenskultur. Diese stattdessen sei ein Quell versteckter Stärke Komma wie es sich in der Folgezeit der 1990er Jahre dann niederschlug. Die gemeinsame Sprache mit ihrem für Außenseiter unverständlichem Jargon hätte ein großes Gemeinschaftsgefühl geschaffen, das auch auf neu gekaufte Unternehmen übergestülpt werden konnte und so die Integration des Konzerns in einem Zeitalter der Expansion deutlich erleichterte. Von dem scheinbaren „Versagen“ Kochs aus dem Kapiteltitel bleibt so nichts übrig, man ist beinahe versucht, im metaphorisch über den Kopf zu streicheln und ihn zu trösten.
Natürlich zog Koch auch noch andere Konsequenzen aus dem Desaster. Von nun an würde ein wesentlich undurchdringlicherer Schutzwall aus Vernebelungen legalistischer Art um sämtliche Akquisen herum gebaut werden, damit Koch Industries vor jeglichen Ansprüchen durch geplatzte Unternehmungen geschützt sein könnte. Dies bedeutete zwangsläufig den Erhalt von Redundanzen, weil einer der größten Vorteile von Unternehmenszusammenlegungen, die Eliminierung von Bürokratien und Entscheidungsprozessen, so nicht möglich war. Angesichts der zu erwartenden Gesetzesverstöße und bankrotte, vor denen man sich so zu schützen wusste, war dies aber eine kluge Investition in die Zukunft. Al Capone hätte die Schmiergelder für Polizisten und Richter schließlich auch als kluge Investition abgeschrieben.
Leonard beendet das Kapitel für seinen Hagiographischen Stiltypisch: Charles Koch entschied sich, künftig noch härter zu arbeiten. Vermutlich war das Klischee-Phrasenschwein noch nicht voll.
Damit beginnt Abschnitt 2, "The Black Box Economy".
Kapitel 11, "Rise of the Texans",
Bringt die Langzeitfolgen der um Regulierung unter Carter und Reagan deutlicher in den Blick. die titelgebenden Texaner sind natürlich auf der einen Seite George Bush und sein Team, das 1989 ins Weiße Haus einzog. Auf der anderen Seite ist es aber auch eine Schicht aus diesem Bundesstaat, die wieder aus Kansas stammende Koch ihr Geld mit Spekulationen in der Energiewirtschaft verdiente und seit der Ölkrise kontinuierlich an Macht und Einfluss gewonnen hatte. Sie schickten ihre Lobbyisten mit Bush nach Washington, wo sie die Gewichte im Spiel des Einflusses auf die US-Regierungsapparate deutlich veränderten. Die Trends, die Leonard hier skizziert, wurden bereits einmal angedeutet: eine Konzentration zu Großunternehmen, immer ausufernde Regulierungen in immer größerer Komplexität und ein unglaublicher Bedeutungsgewinn der Finanzindustrie nahmen alle unter der Regierung Bush deutlich zu und würden in gleichem Maße auch für die Regierung Clinton bedeutsam bleiben.
Für Koch Industries brachen goldene Zeiten an. Die Entwicklungen des Finanzsektors, in dem sich das Gewicht deutlich in Richtung von Spekulationen, Handel mit Futures und Derivaten sowie dem Aufstieg von Private Equity verschob, betrafen sein Kerngeschäft direkt. Warum dies gerade Koch so half, wird in Kapitel 12, "Information Asymmetries", deutlich.
Es war vor allem der Bedeutungsgewinn des Derivatehandels, der hier eine entscheidende Rolle spielte. Da es sich effektiv um Wetten auf die zukünftige Entwicklung des jeweiligen Sektors handelte, hatte derjenige einen gigantischen Vorteil, der über mehr Informationen verfügte. Anders als die Spekulanten des Finanzsektors, die mit großen finanziellen Möglichkeiten, aber ohne Hintergrund in der fossilen Energieindustrie ihre Tätigkeit nachgingen, war Koch Industries eine solche Firma, die außerdem Derivatehandel betrieb. Allein dadurch gewann sie einen gigantischen Informationsvorteil, der kombiniert mit dem langfristigen Blick Kochs in Leonards Erzählung eine einzigartige Position für den Konzern bot. Was der Autor dagegen nicht betont ist, das wird dann auf die Zukunft natürlich umso leichter sind, wenn man die Zukunft selbst bestimmen kann. Da Koch Industries mittlerweile eine Größe erreicht hatte, in der es die Rohstoffpreise durch Drosselung oder Ankurbelung der Produktion direkt mitbestimmen konnte, waren solche Wetten natürlich letzten Endes ein Insidergeschäft. Die Handelssektion des Konzerns begann, Profite in ungeahnter Höhe einzustreichen.
Gerade in diesem Bereich wurde die ohnehin hoch geschriebene Geheimhaltung noch einmal in ungeahnte Höhen getrieben. Niemand sollte er auch nur annähernd erfahren können, wieviel Geld Koch Industries tatsächlich verdiente. In Leonards treuherziger Erzählung diente dies natürlich der Aufrechterhaltung der Kontrolle durch Charles und David Koch und den Behalten der Handlungsfähigkeit, was mit Sicherheit auch relevante und legitime Gründe waren. dass hier mit Sicherheit auch in großem Stil Steuern hinterzogen wurden, ist Leonard keine Silbe wert.
Ein Problem für Koch wurde zunehmend, das seine Händler verglichen mit dem Hauptkonkurrenten Enron und der Wall Street nur sehr wenig Geld verdienten. Dies lag an der Unternehmensphilosophie Kochs, der Bescheidenheit für einen relevanten moralischen Wert hielt und überzeugt war, dass große Bonizahlungen die Loyalität zur Firma erodierten und eine Maverickkultur etablierten. Damit hatte er sicher vollständig recht, konnte sich aber gegen den Zeitgeist nicht halten und musste auch seinen eigenen Händlern Millionenboni bezahlen. Dass Koch hier auf verlorenem Posten stand, führt Leonard auf eine neue Schicht des oberen Managements zurück, das an den Eliteuniversitäten mit den Werten der Wall Street aufgewachsen war und nicht Kochs Arbeitsethik des mittleren Westens teilte. Mir scheint das einmal mehr eine übertriebene Personalisierung zu sein - Koch hätte sicherlich auch ohne diese Leute dieselben Schritte ergriffen. Ein weiteres Detail am Rande: gemeinsame Nennungen von Koch Industries und Enron komme nun häufiger vor und sind ein Vorbote auf das, was kommen sollte, denn mit Enron will man eigentlich nie gemeinsam genannt werden.
Eine weitere riesige Lukrativität Steigerung ergab der Derivatehandel ab dem Jahr 2000 mit einem weiteren Texaner: George W. Bush brachte einen weiteren Schwung von Lobbyisten und eine Agenda mit ins Weiße Haus, die um Umregulierungen zugunsten der Rohstoffhändler mit sich brachte. die Folge war eine neue Volatilität, die die Methoden Kochs noch aggressiver werden und seine Profite in noch größere Höhen steigen ließ.
Weiter geht's in Teil 4.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: