Christopher Leonard - Kochland. The Secret History of Koch Industries and Corporate Power in America (Hörbuch)
Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
In Kapitel 13, "Attack of the Killer Electrons!", geht es nach Kalifornien. Nach den Erfahrungen im Derivatehandel mit fossilen Energieträgern wandte sich Koch Industries dem Markt zu, auf dem das richtig große Geld zu machen war: dem Stromhandel. Koch hatte hier bisher keine große Präsenz gehabt, besaß allerdings die Marktmacht und finanziellen Mittel, um sich neu zu engagieren. Das von Leonard beschriebene Schlachtfeld war Kalifornien. Dort wurde er ab 1996 der Energiemarkt radikal dereguliert – oder, wie es in diesen Fällen treffend eigentlich immer besser genannt wäre, umreguliert.
Treibende Kraft hinter diesen Bestrebungen war der konservative Thinktank ALEC, der den Lesenden eventuell aus einigen investigativen Stücken John Olivers und Co bekannt ist. Diverse Unternehmen finanzierten diesen Thinktank, der Gesetzestexte schrieb und diese quasi unterschriftenreif von einschlägig „überzeugten“ Politiker*innen der Republicans durchsetzen ließ. Unter dem Einfluss der großen Energiekonzerne änderte sich die Struktur ALECs nachhaltig: Enron und Koch Industries bezahlten so viel Geld, dass in dem Pay-to-Play-System ALECs niemand anderes mehr eine Chance hatte, ihre einseitige Position infrage zu stellen. Dies betraf vor allem die Kraftwerksbetreiber, die nur nicht eben sozialistische Umtriebe verdächtig waren und kein Interesse an den von ALEC neuerdings vorangetriebenen Umregulierungen hatten.
es zeigt sich hier eine typische Dynamik sämtlicher Deregulierungsprozesse: außer den Lobbyisten interessiert sich praktisch niemand für die Vorgänge, so dass diese sie ganz in ihrem Sinne beeinflussen können. Im Falle der kalifornischen Umregulierung ist das schon alleine deswegen besonders auffällig, weil die Verbraucher*innen keinerlei Nutzen davon hatten: ihre Kosten stiegen während die Qualität der Leistungen sank. Die Profiteure waren die Energieunternehmen.
Das hing mit der neuen Volatilität zusammen. Bis 1978 war der Strompreis ungeheuer stabil gewesen und hatte sich nur in sehr kleinen Bahnen bewegt. Diese Volatilität wurde durch Sicherheitsmechanismen ausgeglichen: so kauften die Kraftwerke gegebenenfalls Notreserven zu sehr hohen Preisen zu, falls dies in seltenen Fällen notwendig war. Mit der neuen Privatisierungswelle ab 1996 wurden die Netze und die Betreiber voneinander getrennt. Das Vorhersehbare geschah: niemand investierte mehr in das Netz, stattdessen wurde die Finanzkapitalisierung das System ist vorangetrieben, indem starke Anreize für Wetten gesetzt wurden.
Genauso wie Enron wettete Koch auf einen Zusammenbruch des Marktes. Das lohnt sich natürlich, den genau dieser Zusammenbruch wurde ja von Enron und Koch selbst betrieben. Einmal mehr zeigte sich das Problem, dass die Macht über real existierende Infrastruktur und Ressourcen seitens Koch der Firma nicht nur einen riesigen Informationsvorsprung gegenüber Finanzinvestoren, sondern auch die reale Möglichkeit der Gestaltung des Marktes nach den eigenen Vorhersagen in die Hand gab. Natürlich wäre keine Erwähnung im Zusammenhang mit Enron vollständig, wenn nicht und massenhaft illegale Geschäfte getätigt werden würden. In diesem Fall wurde Strom auf dem Papier an andere Bundesstaaten verkauft, in der Realität verließ er allerdings nie Kalifornien. Durch diese Papierkäufe wurden allerdings künstliche Knappheiten geschaffen, die die Kraftwerke dazu zwangen, völlig überteuerte „Notreserven“ zu kaufen und so gigantische Profite für Enron und Koch bereitstellten. Eine Reihe von aus den ausbleibenden Investitionen, den gestiegenen Nutzendenzahlen und diesen Geschäften resultierenden Stromausfällen Anfang der 2000er Jahre zerstörte die Legitimität des kalifornischen Staates nachhaltig.
Den unvermeidlichen Nachforschungen entkam Koch Industries weitgehend ungeschoren, weil sie nicht zu Unrecht darauf hinweisen konnten, in viel geringerem Ausmaß als Enron kriminelle Handlungen begangen zu haben. Dazu half Koch einmal mehr, dass die Unternehmensstruktur komplett undurchsichtig war und Nachweise extrem schwer zu erbringen. Es ist wieder einmal auffällig, wie hohl die Marktwirtschaftsrhetorik Charles Kochs immer bleibt. Er macht sein Geld, indem er monopolistische Stellungen schafft und Gesetze in seinem Sinn schreiben lässt. Mit realer Konkurrenz hat dies wenig zu tun.
Doch die gewaltige Spekulationswelle beschränkte sich beileibe nicht auf den Energiemarkt. Wie Kapitel 14, "Trading the Real World", zeigt, begann ab 2003 eine riesige Akquisewelle. Wie bereits bei der ersten solchen Welle war die von Charles Koch ausgegebene Regel, dass die einschlägig im Sinne der MBM ideologisierten Mitarbeitenden Chancen zu erkennen hatten, wo sich diese boten. Um ähnliche Desaster wie beim Futtermittelhersteller Purina zu vermeiden, hatte Koch ein Board eingerichtet, das diese Ideen und Möglichkeiten auf Herz und Nieren prüfte. auch dies ist ein Leitmotiv der Entwicklung von Koch Industries: die zugrundeliegenden Strukturen sind sauber, gut strukturiert und verhältnismäßig krisensicher. Man kann sich einer gewissen Bewunderung für das Unternehmen nicht verschließen.
Auch die Strategie hierfür atmet diesen Geist: einer großen Investition ging immer ein kleiner Versuchsballon voraus, der die Validität des Investments überprüfen sollte. Zumindest ist das die Erzählung Leonards. Es bleibt in der Struktur des Buches unklar, inwiefern es sich dabei tatsächlich um eine Regel handelt oder nur um eine retrospektive Rechtfertigung, die im Nachhinein ein System konstruiert, wo keines war. Im eigentlichen Narrativ jedenfalls haben wir einen einzigen solchen Fall beschrieben, ohne dass klar wäre, das immer so vorgegangen worden wäre. Solche Ambivalenzen durchziehen leider das gesamte Buch.
In jedem Falle betrafen all diese Expansionen nur solche Bereiche, die die Expertise Kochs berührten. Das bedeutete vor allem Raffinerien, Energie, Infrastruktur. Sämtliche neuen Akquisen wurden durch aufwendige Schutzkonstruktionen vom Hauptkonzern getrennt, um Koch von möglichen Konsequenzen von Fehlinvestitionen zulasten der Banken und natürlich von der Möglichkeit der Regulierung und angemessenen Besteuerung durch den Staat zu schützen.
Gleichwohl hatte man vom Desaster von Pine Bent gelernt: die neue, beinahe fanatisch durchgesetzte Regel, die nun auch ordentlich Personal mit vernünftiger Macht dahinter hatte, war 100% Compliance 100% der Zeit (für die mathematisch etwas unsaubere Faustformel von 10000% Compliance). Die durchaus lobenswürdige Erkenntnis Kochs, dass Compliance im Interesse der Firma lag, gegen den meisten seiner Mitbewerbenden ab. Was Leonard gleichwohl nicht sagt, ist, das Koch dies natürlich nun umso leichter fiel, als er mittlerweile so viel politischen Einfluss gekauft hatte, dass er die Regeln, für die er 100% Compliance ausgab, ja zu großen Teilen selbst geschrieben hatte.
Dieser Theorie folgt in Kapitel 15, "Seizing Georgia-Pacific", nun ein Praxisbeispiel. Die größte Akquise in der Firmengeschichte von Koch Industries war die von Georgia Pacific. Sie war eher ungewöhnlich. Georgia Pacific war ein Holzunternehmen, was auf den ersten Blick nicht zu Koch Industries zu passen schien. Doch die Prozesse innerhalb der Firma ähnelten denen einer Raffinerie. Wesentlich attraktiver als diese Ähnlichkeit der Geschäftsmodelle jedoch war etwas, das sich Koch gerne zunutze machte: Die dämliche Quartalsmentalität der Wall Street. Kochs langfristiges Denken erlaubte es ihm, unterbewertete Unternehmen zu identifizieren und aufzukaufen.
Hier ist Leonard einmal mehr sehr unklar: er lobt die agent theory des CEO, nach der dieser allein der Profitmaximierung seiner Shareholder verpflichtet ist, im Falle von Koch Industries und kritisiert sie im selben Atemzug beim Rest der Unternehmen. Bei diesen nämlich führt sie zu einer Diffusion von Verantwortung und damit strategischer Kompetenz, während sie bei Koch zu einer Fokussierung genau desselben führten. Jedoch ist das eigentlich Unfug: Koch hatte genau zwei Shareholder, von denen einer gleichzeitig der CEO war. Unter diesen Bedingungen ist es natürlich leicht, strategisches Denken und ein Gehorchen der Interessen der Shareholder in Einklang zu bringen. Dass macht die Schlussfolgerung, das Kochs langfristiges Denken sehr ertragreich und dem kurzfristigen Maximieren des Shareholder Value an der Wall Street deutlich überlegen war natürlich nicht falsch, es scheint mir allerdings eine Theorie über etwas zu stülpen, das mit „ wenn du ein Milliardär mit einer eigenen Firma bist lässt sich diese leichter leiten denn als Angestellter“ deutlich unkomplizierter umschrieben wäre.
Aber zurück zu Georgia Pacific. Koch befand sich voll im Private-Equity-Modus. Zuerst kaufte er als den bereits im vorangegangenen Kapitel genannten Versuchsballon einen Teil der Firma für vier Milliarden Dollar, bevor er dann für weitere acht Milliarden die komplette Firma übernahm. Anders als in den 1980er Jahren investierte er hierfür kaum eigenes Geld: Koch war mittlerweile so groß geworden, dass er das Geld problemlos an den Kapitalmärkten eintreiben konnte.
Wie die anderen Heuschrecken lud er die Kosten für diese Kredite der aufgekauften Firma auf, deren Bilanzen nun massiv belastet waren. Im Austausch dafür hatte Koch praktisch keinerlei Risiko, weil die Firewall aus juristischen Winkelzügen gut jeden von jeder Haftung schützte. Nun klingt das in solchen Darstellungen immer alles sehr simpel, und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, das auf die leichte Schulter zu nehmen. Die beschriebenen Verfahren wurden von sehr vielen Firmen angewandt und flogen dem Großteil von ihnen in der Finanzkrise um die Ohren. Koch indessen kam nicht nur ziemlich gut durch die Finanzkrise, sondern konnte in dieser sogar weitere Akquise vornehmen. Das spricht schon für ziemliche Kompetenz.
Koch machte sich nun daran, Georgia Pacific zu modernisieren. Anders als viele Heuschrecken wollte er das Unternehmen nicht nur zerlegen, sondern tatsächlich langfristig gewinnträchtig gestalten. Ein großes Problem von Georgia Pacific war das Ersticken in Unternehmensbürokratie, das unter anderem zu einem Unterinvestment ja in die firmeneigene Infrastruktur geführt hatte. Koch indessen, der die grundsätzliche Gesundheit der Firma ja erkannt und sie deswegen gekauft hatte, investierte in viel zu lang aufgeschobene Bereiche. Was in Leonards Erzählung wieder einmal unklar bleibt, ist, ob das eine Besonderheit von Georgia Pacific war oder auch auf andere Akquisen zutrifft, weil gerade in Pine Bent damals ja das komplette Gegenteil der Fall gewesen war, mit dramatischen Konsequenzen. Weder wird dieser offensichtliche Widerspruch thematisiert noch eine Art Lektion herausgearbeitet. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier wieder einmal Einzelfälle nachträglich zu irgendwelchen Regeln aufgebauscht werden, um Koch als noch größeres Genie darzustellen.
Die Auswirkungen von Kochs Übernahme zeigen sich deutlicher in Kapitel 16, "The Dawn of the Labor Managment System". Leonard beginnt mit einer Erzählung über einen Staplerfahrer im Lagerhaus von Georgia Pacific. Dieser hat sich aus kleinen Verhältnissen in die Mittelschicht vorgearbeitet, als er zu Beginn der 1980er Jahre das Glück hatte, diesen Job zu ergattern. Diese Jobs wurden auch viel von Menschen mit Collegeabschluss angenommen, weil sie mehr Geld einbrachten als etwa einen Job als Lehrer. Der Grund dafür war nicht die Großzügigkeit von Georgia Pacific, sondern die starke Stellung der Gewerkschaft. Dies erlaubte es Arbeitern, einen Mittelschichtenlebensstil zu verdienen.
Weiter geht's in Teil 5.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: