Christopher Leonard - Kochland. The Secret History of Koch Industries and Corporate Power in America (Hörbuch)
Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier, Teil 4 hier.
Die Jobs selbst waren nicht besonders begehrenswert. Was sie trotz Ihrer Monotonie halbwegs erträglich machte, war die Kameradschaft unter den Arbeitern, die in diesem Milieu stark war. In den 1980er Jahren änderte sich das praktisch in allen Branchen. Die Gehälter reichten nicht mehr aus, um in die Mittelschicht vorzudringen, ja häufig nicht einmal, um überhaupt die Existenz zu sichern.
Mit dem Kauf von Georgia Pacific durch Koch Industries Carmen diese Änderungen im Eilverfahren auch in das Leben der dortigen Beschäftigten. Leonard wechselt zunächst die Perspektive: die Manager von Georgia Pacific erhielten die üblichen Seminare in Market Based Managment, die mittlerweile geradezu industriell durchgeführt wurden. Die Manager mussten Videokurse sehen, deren Einhaltung (natürlich als unbezahlte Zusatzzeit) akribisch überprüft wurde. Wer nicht das richtige Maß an Begeisterung über die Inhalte an den Tag legte, wurde gefeuert. Dieses System wurde dann von der Managerebene bis in die kleinsten Jobs hinunter weitergegeben, so dass alle Arbeiter mit den Prinzipien der Ideologie vertraut waren.
Gleichzeitig änderte sich der Arbeitsablauf in der Fabrik massiv. Immer mehr Mitarbeitende wurden entlassen, ohne dass je neue eingestellt werden würden. Dadurch verteilte sich die Arbeit auf immer weniger Schultern, was zu massiv steigenden Arbeitszeiten bei gleichem Lohn führte. Wem das nicht passte, wurde die Kündigung nahegelegt - was angesichts der katastrophalen Aussichten für niemanden praktikabel war.
Noch viel schlimmer aber war das elektronische Überwachungssystem, das titelgebende Labor Managment System. Dieses wurde benutzt, um die Arbeitenden im Warenhaus von A nach B schicken zu können, indem es ihnen sagte, wo etwas einzusammeln und Hinzubringen war. Unter Koch wurden nun Testfahrten zwischen verschiedenen Punkten ohne Ein- und Abladen durchgeführt und als Maßstab für alle anderen Fahrten in das System eingespeichert. Gleichzeitig stieg wie beschrieben die Arbeitslast massiv an.
Das System überprüfte jede Sekunde in Echtzeit, wo sich welche*r Arbeiter*in gerade befand und trieb die Menschen in eine beständige Konkurrenz untereinander, in dem die Ergebnisse veröffentlicht und das untere Drittel permanent mit Kündigung bedroht wurde. Der Stress stieg enorm an, die sozialen Kontakte brachen praktisch vollständig ab. Selbst die besten Performer litten unter Burnout.
Die Situation war eine absolute Dystopie des Kapitalismus. Ich finde vor allem die Parallelen zum real existierenden Sozialismus augenscheinlich. Da ist eine Ideologie, die mit massivem Aufwand eingedrillt und permanent überprüft wird, um absolute Linientreue zu erreichen. Der Anspruch totaler Kontrolle wird mit allen technologischen Mitteln und riesigem psychologischen Druck durchgesetzt. Das Ergebnis ist ein in sich schlüssiges System, den Menschen völlig egal sind und das kaum anders als totalitär zu beschreiben ist - mit den zwei zentralen unterschieden, dass jeder jederzeit gehen kann und dass es wenigstens unter seinen eigenen Prämissen funktioniert.
Der Staplerfahrer in unserer Erzählung beschließt jedenfalls, sich zur Wehr zu setzen und bewirbt sich bei der Gewerkschaft für eine Vollzeitstelle, um Veränderungen anzustoßen. Überraschend gewinnt er die Wahl und tritt sein Amt praktisch zeitgleich mit Beginn der Finanzkrise an - das wohl schlechtestmögliche Timing.
Die Finanzkrise spielt dann in Kapitel 17, "The Crash", die Hauptrolle. Leonard beginnt seine Erzählung hier mit David Koch, der rund 40% des Familienvermögens hält (weitere 40% hat Charles, der Rest verteilt sich auf diverse andere Personen). Anders als Charles arbeitet da wird nicht viel, sondern posiert als Bonvivant und Philanthrop. hierzu gab er Spenden an das MIT, wo er für das Normalmenschenäquivalent von Centbeträgen höchste Ehren einfuhr, an die New Yorker Bibliothek (dito) und vor allem an das Theater, dem er einhundert Millionen Dollar spendete, was sein Vermögen nicht um einen Dollar reduzierte, sondern nur den Zuwachs ganz leicht abbremste.
Mich macht dieser Teil der Erzählung ungemein wütend, schon allein, weil Leonard die Selbstdarstellung Kochs als großer Philanthrop direkt übernimmt. Dabei streckte David Koch seine Spenden über mehr als ein Jahrzehnt, so dass die Beträge in Wirklichkeit viel kleiner waren, arbeitete anders als Charles nicht einmal dafür, sondern stand dem jüngeren Bruder vor allem nicht im Weg (was ja Bills großer Verstoß gewesen war) und gab das Geld genau den Institutionen, in denen er sich ohnehin bewegte. Anstatt in das Theater New York zu gehen, um sich dort zu präsentieren, ging er nun zu einer Aufführung im David-Koch-Flügel der Eliteneinrichtung, die genau das spielte, was er wollte. Das ist keine Philanthropie, das ist einfach nur Hobby. Aber wie üblich sprengen Milliardäre sämtliche Maßstäbe.
Es folgt eine kurze Erklärung der Abläufe der Finanzkrise, die für einschlägig Interessierte und Gebildete keine Neuigkeiten enthält, aber als Auffrischer willkommen ist und angenehm kurz bleibt.
Auch Koch Industries wird von der Finanzkrise getroffen, aber nicht so hart wie die meisten anderen Unternehmen Amerikas. Zu verdanken ist dies vor allem der konservativen Unternehmensphilosophie Charles Kochs, die hier einmal mehr besonders hervorgehoben werden soll. Im Gegensatz zu Davids „Spenden“ hat sie es durchaus verdient. Konkret hatte Charles Koch seinen Tradern Grenzen für ihre Spekulationen gesetzt, die zwar potenzielle Gewinne beschränkt, aber auch potenzielle Verluste in Grenzen gehalten hatten. Das zahlte sich nun aus.
Charles Kochs Reaktion wird wieder einmal hagiographisch dargestellt: der Firmenpatriarch analysiert alles kühl und verfällt nicht in Panik. Stattdessen bekommen wir einmal mehr den Philosophenkönig Charles Koch vorgestellt, der angesichts des Crashs seine angebliche prinzipielle Abneigung gegen Staatseingriffe wiederentdeckt (sofern diese ihm nicht nützen) und angesichts der Wahl Obamas zum Präsidenten beschließt, seine Einmischungen in den politischen Prozess massiv zu steigern.
Damit beginnt Abschnitt 3, "Goliath".
In Kapitel 18, "Solidarity", geht Leonard erneut auf die große Rolle von MBM für Koch ein. Bereits bei der Einstellung wurde durch zahlreiche Stufe ideologische Eignung der Kandidat*innen rigoros überprüft. Wenn keine Gewähr bestand, dass die Neueingestellten Linientreu sein würden komme erfolgte keine Einstellung. Die eigene Sprache mit ihren Begrifflichkeiten, die im Rahmen diese Ideologie eintrainiert wurden und im alltäglichen Sprachgebrauch der Firma zur Anwendung kamen, schufen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl aller Angestellten. Auch hier sind die Parallelen zum Sozialismus mit seinen ideologischen Schlagworten und der Betonung ihrer permanenten Verwendung für mich offenkundig.
Leonard wendet sich dann einer in den 2000er Jahren neu gegründeten Arbeitsgruppe zu, die aus Wissenschaftler*innen bestand, deren Aufgabe es war, Strategien für den Umgang mit sogenannten Holdouts zu finden. Dies waren Landbesitzende, die ihr Land nicht verkaufen wollten, um Koch den Bau von Pipelines zu ermöglichen. Mit großem Aufwand betrieb Koch Industries wissenschaftliche Experimente, um hier die bestmögliche Strategie herauszufinden. Diese Bestand in der planmäßigen Zermürbung der Holdouts einerseits und in der gleichzeitigen Verhandlung mit allen möglichen Konkurrent*innen andererseits.
An dieser Stelle wird die Erzählung aus Kapitel 16 wieder aufgenommen. Für Charles Koch waren die Gewerkschaftler letztlich auch nur Holdouts. In Verhandlungen über insgesamt 9 Monate, die von den Koch-Unterhändlern unter Anwendungen aller Möglichkeiten in die Länge gezogen wurden, war das einzige Ergebnis, das die Gewerkschaftler erreichen konnten, dass sie ihren eigenen Krankenversicherungsschutz behalten durften, sofern sie künftig 25% mehr bezahlten. selbst dieses minimale Zugeständnis führte zur Entlassung des Chefunterhändlers von Koch. Sein Ersatz blockierte nun völlig offen und schrie den Gewerkschaftlern ins Gesicht, dass er sich niemals auch nur einen Zentimeter bewegen würde. Am Ende musste die Gewerkschaft das Diktat Kochs akzeptieren, wodurch - ein Zeichen der Zeit - die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen am Ende aber immer noch besser da standen als ihre nichtorganisierte Konkurrenz. Das Ausmaß, in dem die Löhne seit den 1980er Jahren gedrückt und die Arbeitsbedingungen verschlechtert worden waren, war schlicht gigantisch.
Doch das war alles nur Vorspiel. In Kapitel 19, "Warming", geht es um das größte politische Projekt Obamas aus Sicht von Koch: Cap and Trade. Nach Obama Care und dem Stimulus war dies die dritte Herausforderung durch den demokratischen Präsidenten und für Koch die Schlimmste. Er hatte seit 1991 massiv in organisierte Klimawandelleugnung investiert, genauso wie Exxon und die anderen fossilen Energiekonzerne auch. Als der wissenschaftliche Konsens zum menschengemachten Klimawandel nicht mehr ernsthaft zu leugnen war, waren alle Konzerne außer Koch aus der bezahlten Klimawandelleugnung ausgestiegen. Es war eine Art Alleinstellungsmerkmal.
Das von der Obama-Regierung favorisierte Cap and Trade wäre eigentlich eine marktwirtschaftliche Lösung für das Problem gewesen. Aber wie üblich war Marktwirtschaft für Charles Koch nur dann gut, wenn er die Regeln bestimmen und unzweifelhaft davon profitieren konnte. Seine angeblichen Prinzipien, die eine klare Trennung von Wirtschaft und Staat vorsehen würden, waren in dem Moment disponibel, in dem sie seinen Interessen zuwiderlaufen schienen.
Um diese Interessen durchzusetzen, beschäftigte Koch eine größere zweistellige Zahl hauptberuflicher Lobbyisten in Washington. Wie bereits bei der Deregulierung über ALEC in den 1990er Jahren besaß die Firma damit gegenüber den allermeisten anderen amerikanischen Firmen, die sich nicht einmal einen hauptberuflichen Lobbyisten leisten konnten, einen unschätzbaren Vorteil. Diesen nutzte Koch, um das Klimaschutzprojekt vollkommen zu zerstören.
Leonard erklärt hier kurz die Funktionsweise von Lobbyismus, die - auch dies ein Leitmotiv des Wirkens Kochs - vor allem auf überlegenen Informationen beruht. Diese erhält man vor allem durch ehemalige staffer, die die Seiten gewechselt haben und ihre Kontakte nun verkaufen.
Derart die theoretische Grundlage gelegt, berichtet Leonard von einem Lobbyisten, der seinen Job vor allem darin sieht, Chancen für Koch Industries zu ergreifen. Er erkannte, das Cap and Trade großes Potential für Koch Industries besaß, weil bereits vergleichsweise geringe Umstellungen im Produktionsprozess gewaltige Einsparungen an Treibhausgasemissionen bedeuten würden, die dann im lukrativen Verkauf von Zertifikaten münden würden. Er musste auf die harte Tour lernen, das Charles Koch den Planeten brennen sehen wollte.
Das Instrument dafür sehen wir in Kapitel 20, "Hotter". Anhand des Beispiels von Bob Inglis, einem Kongressabgeordneten aus South Carolina, der stets verlässlich die Agenda von Koch Industries gestützt hatte, zeigt Leonhard die neuen politischen Dynamiken auf. Inglis hat er in der Vergangenheit Wahlkampfspenden von Koch erhalten, weil er dessen Positionen zu steuern und vorteilhaften Regeln für das Unternehmen vollumfänglich teilte. Aber in einem Punkt war er ein Häretiker: er wollte nicht öffentlich verkünden, dass der Klimawandel nicht existiere. Für diesen Frevel entschloss Koch sich, ein Exempel zu statuieren (dieses traf auch einige weitere republikanische Abgeordnete).
Weiter geht's in Teil 6.
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