Eric Shanower - Age of Bronze (Band 1, Band 2, Band 3.1, Band 3.2)
Der trojanische Krieg ist eine der ältesten und wirkmächtigsten Sagen der westlichen Welt. Hundertfach rezeipiert und durch die Jahrhunderte immer wieder neu adaptiert, fasziniert die Geschichte um den zehnjährigen Kampf um Troja noch heute. Wenn es dafür angesichts der Fülle von Projekten von Wolfgang Petersens filmischer Umsetzung über John Dolans/Gary Brechers Prosaversion (hier rezensiert) zu Jeff Wrights Podcast- und Vortragsreihe irgendwelche Belege braucht, so dürfte Eric Shanowers Comic-Epos "Age of Bronze" dafür ausreichen. Shanowers Projekt ist es, die gesamte Geschichte des Trojanischen Krieges zu erzählen, in all ihrer epischen Breite, den dutzenden von Figuren, den Idiosynkratien, den Seitenzweigen und den für moderne Lesende immer wieder merkwürdigen narrativen Konventionen. Sein Anspruch ist es dabei, die Bronzezeit auf Basis von archäologischen Kenntnissen historisch korrekt und die Geschichte selbst so umfassend und unverfälscht wie möglich darzustellen - und dabei trotzdem unterhaltsam zu bleiben. Sehen wir uns an, wie sehr ihm dies gelingt.
Zuvor allerdings noch ein Hinweis: der Epos ist noch nicht abgeschlossen, noch lange nicht. Die ersten drei Sammelbände sind mittlerweile in Vollfarbe erschienen; der letzte Sammelband liegt bisher nur in schwarz-weiß vor (wobei grundsätzlich eine Farbversion geplant ist). Bis wann die Geschichte abgeschlossen sein wird - und ob Shanower das je gelingt - steht in den Sternen. Fans von "Das Lied von Eis und Feuer" werden an der Stelle mitleidsvoll mit dem Kopf nicken, wobei man sich immerhin keine Sorgen um Spoiler zu machen braucht. Die Geschichte des Trojanischen Krieges lässt sich an vielen Stellen nachlesen, so man dies wünscht.
Wer auch immer diese Geschichte adaptiert, muss einige Grundsatzentscheidungen treffen. Die wohl wichtigste hierfür ist, welche Rolle man den Göttern zugestehen will. Behandelt man sie als eine Religion, deren Existenz ambivalent ist? Erzählt man eine säkularisierte Version, wie das Wolfgang Petersen unternahm? Oder verwandelt man den Trojanischen Krieg in eine Art Fantasy-Saga, analog zu Damon Lindeloffs Umsetzung der Genesis? Keiner dieser Ansätze ist einem anderen überlegen, aber um die Entscheidung kann sich kein Autor drücken.
Shanower entscheidet sich für den Ansatz, das Wirken der Götter ambivalent zu halten, wobei schwer impliziert ist, dass diese nicht existieren - gleichzeitig aber die Bedeutung der Rituale und den unzweifelhaft aufrichtigen Glauben der archaischen Griechen und Ionier vollkommen ernstzunehmen, ohne wie in Petersens Verfilmung nur Narren zu religiösen Menschen zu machen. Selbst ein Zyniker wie Odysseus argumentiert in Shanowers Erzählung in theologischen Kategorien, interpretiert Omen und Prophezeiungen. Ob dahinter wirklich eine metaphysische Kraft existiert oder nicht wird so zweitrangig: die Menschen glauben, dass dem so ist, und richten ihr Handeln danach. Alles andere ist letztlich irrelevant. Ich bevorzuge diesen Ansatz ehrlich gesagt, weil er weniger herablassend als Petersens Version ist (der einzig echte Kritikpunkt, den ich sonst mit seiner Verfilmung habe).
Die Umsetzung lässt sich exemplarisch an den Prophezeiungen Kalchas' oder der Opferung der Iphigenie zeigen. Ob Kalchas wirklich Prophezeiungen erhält ist unklar. Dass er manchmal welche auf politischem Opportunismus fälscht, ist offenkundig. Dass die Könige dies zumindest manchmal vermuten ebenfalls, nur, was hilft es? Niemand kann das Risiko eingehen, sich gegen die Götter zu stellen. Zu mächtig ist ihr Zorn. Auch der fehlende Wind, der sich nur durch das Opfer Iphigenies wiederbeschwören lässt, wird von allen tödlich ernst genommen - so dass Iphigenie genauso wenig eine Wahl bleibt wie Agamemnon oder Klytaimnestra. Ob Artemis sie dann wirklich in den Olymp entrückte, bleibt offen - das Opfer wird nur als Mauerschau erzählt. Möglicherweise lügen die Könige Agamemnon einfach nur an, um sein Leiden zu verringern; möglicherweise geschah es wirklich. Wer weiß das schon?
Deutlich weniger ambivalent sind die Moralvorstellungen der Zeit, und hier liegt eine der größten Stärken des Zyklus'. Shanower gelingt es hervorragend, die Weltsicht der Zeitgenossen einzufangen und ihr Handeln in ihren Wertesystemen zu verankern. Dazu gehört das Ehrverständnis, dem die Krieger folgen ebenso wie ihr Fokus auf Plündern, Versklaven und Mordbrennen. Die "Helden" haben keinerlei Probleme damit, massenhaft Unbewaffnete niederzumetzeln, ihre Häuser anzuzünden, Frauen in Sexsklaverei zu zwingen und die Beute stolz nach Hause zu schleppen, als Ausweis ihrer Fertigkeiten. Umgekehrt sind die immer wiederkehrenden Waffenpausen zur Bergung und Bestattung der Toten etwas, das uns heute weitgehend abgeht.
Auch das Ehrverständnis der Könige, ihre Rangfolgen, das Sich-Messen im Kampf, die Aggression die damit einhergeht - sie alle werden von Shanower mit distanziertem Blick eingefangen. Er lässt die Helden selbst sprechen. Achilles' Jähzorn, der immer wieder mit tödlicher Gewalt aus ihm herausbricht, gilt etwa nicht als Charakterschwäche. Vielmehr ist er etwas bewundernswertes, beinahe halbgöttliches. Die Sozialstrukturen, die den Mitgliedern des Adels zudem abgesehen von der Ablehnung ihrer Standesgenossen keine Grenzen auferlegen, fördern solches aggressives Verhalten noch weiter.
Diese Merkwürdigkeiten haben auch Einfluss auf die Diplomatie. So entsteht die Entführung Helenas überhaupt erst, weil Paris entsandt wird, um die Schwester Priamos', Hesione, die in ihrer Kindheit von Herakles als Sklavin geraubt wurde, zurückzurauben. Dass Hesione gar nicht mehr zurückwill, fiecht niemanden an: es geht um die Ehre Priamos'. Paris allerdings entscheidet sich zum Raub einer jüngeren Frau, Helena, die zwar nichts mit Hesione zu tun hat und in einem anderen Königreich ist, dessen Gastrecht er bricht. Ähnliche Verhältnisse gibt es allerorten. Klytaimnestra ist eine geraubte Ehefrau, Helenas Sklavin war einst Königin eines anderen Reiches, und so weiter. Die Finanzierung des Krieges durch Überfälle auf Unbeteiligte sicherzustellen, indem man sie in die Sklaverei verkauft - business as usual. Für moderne Lesende sind die Moralvorstellungen der archaischen Griechen (und, wenn wir ehrlich sind, der meisten Menschen bis vor sehr kurzer Zeit) komplett fremd.
Das betrifft auch die Frauenrollen. Obwohl Shanower den Frauen Trojas und Hellas' viel Raum gibt, widersteht er der Versuchung, sie zu modernisieren: von Cressida zu Helena, von Klytaimnestra zu Hekabe, die Frauen sind in einem rigiden Rollenschema gefangen, das sie klar den Männern unterordnet, deren Entscheidungen über Leben und Tod sie nicht zu kritisieren und denen sie zu folgen haben. Und diese Entscheidungen haben es in sich. Ob Helena zu den Griechen zurückkehrt, ist nicht Helenas Entscheidung, sondern die Priamos' und seiner Söhne. Cressidas Onkel findet wenig dabei, sie mit dem Prinzen Troilus zu verkuppeln, obwohl sie starke Bedenken hat. Iphigenie mag Agamemnons Tochter sein; gegenüber genug Wind für die Fahrt nach Troja muss ihr Leben allerdings hintenanstehen. Es ist eine Welt von Männern, und die Geschichte des Trojanischen Krieges zeigt all die furchtbaren Folgen, ohne dass Shanower das jemals thematisieren müsste. Es läuft schlicht als Subtext mit, ohne Wertung, ohne Anklage. Andere Lesende mögen zu anderen Schlüssen kommen. Diese Offenheit ist eine der großen Stärken des Comics.
Sicherlich besonders für Lesende ohne Vorkenntnisse dürfte sein, dass es keine Hauptfiguren im eigentlichen Sinne gibt. Selbst überragende Gestalten wie Achilles können für dutzende Seiten komplett aus der Geschichte verschwinden, wenn stattdessen plötzlich Troilus und Cressida flirten, oder wenn Agamemnon mit Palamedes streitet (ohne dass Palamedes Agamemnons Zorn bemerkt, eine Art running gag). Der riesige Cast an Figuren mit ihren für westliche Ohren eher fremden Namen ist schwer im Überblick zu behalten. Wenn dann auch noch irgendwelche Verbündete auf dem Schlachtfeld auftauchen und für einige Panels heroisch namenlose Soldaten niedermetzeln dürfen, bevor ein Held sie niederstreckt, ist der Klarheit auch nicht zuträglich.
Dass die Figuren sich auch recht ähnlich sehen, hilft da nicht großartig weiter. Hektor unterscheidet sich von seinen Brüdern vor allem durch einige Sommersprossen auf den Wangen; Deiphobus und Troilus zu unterscheiden ist ein fruchtloses Unterfangen, und man darf Aphrodite danken, dass Paris ständig ein albernes Löwenfell über der Schulter trägt. Im griechischen Lager ist die Situation etwas besser, weil die Griechen dankenswerterweise anders als die Trojaner große Bartfans sind und ihre Haarpracht ein zahlreichen Stilen zur Schau tragen. Die größere Altersspanne als unter Priamos' Söhnen hilft der Sache zusätzlich.
Ob man das als Vorteil empfindet - die volle Epik der Geschichte kommt schließlich nur so zum Tragen, und die Konzentration auf das edle Kriegervolk entspricht der Struktur des Epos - oder als Nachteil - es artet manchmal in Arbeit aus - ist dem jeweiligen Geschmack der Lesenden zu übertragen. Die Kleidungs- und Rüstungsstile der beteiligten Gruppen jedenfalls sind wenigstens klar unterscheidbar. Ob man einen Danaer oder einen Trojaner vor sich hat, ist jederzeit klar ersichtlich. Die trojanischen Männer tragen alle eine ähnliche Tunika, haben ihr langes Haupthaar zu einem Zopf geflochten und haben große, scheibenförmige Ohrringe (auf Makeup hat Shanower verzichtet). Die Danaer dagegen tragen alle Stirnbänder und oftmals nur einen Lendenschurz (viele nackte, muskulöse Oberkörper). Die Frauen dagegen sind hüben wir drüben in lange Kleider gehüllt und tragen Kopftuch. Immerhin haben sie alle dieselben dunklen Haare, man könnte sie sonst eventuell auseinanderhalten.
Die Zeichnungen sind in Tusche und in einem realistischen Stil gehalten, der wenig Ästhetisierungen aufweist. Die Gesichter sind kantig, aber die Schönheitsideale eher nicht an westlichen Geschmäckern ausgerichtet (kein Brad-Pitt-Achilles). Für einschlägig Interessierte besonders interessant dürfte der archäologische Genauigkeitsgrad sein; Troja etwa ist als Stadt zwar durchaus reich und groß, aber im Rahmen dessen, was in der Zeit möglich war (so sind etwa die Mauern nicht rund 20m hoch wie im Film, sondern eher 3-4m; eine Holzpalisade ist dem Tor vorgerückt usw.). Auch dass es keinerlei Kavallerie gibt (die Adeligen fahren alle Streitwagen, aber niemand kann reiten) ist ein schönes Detail.
Ich kann den Comiczyklus nur empfehlen. Ich habe die Hefte nun bereits zweimal gelesen und werde sie sicher erneut zur Hand nehmen. Sie sind eine schöne Ergänzung für Fans der Sage und bieten mir nun ein Lesevergnügen zusätzlich zu Petersens Verfilmung, Brechers/Dolans Prosa und Wrights Podcast.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: