Francis Fukuyama - Liberalism and its discontents (Hörbuch)
Francis Fukuyama hat für seine These von 1991 vom "Ende der Geschichte" durch den Zusammenbruch des Ostblocks viel Häme geerntet. Man könnte ihm also angesichts eines neuen Buchs über die Überlegenheit des Liberalismus zurufen "when you're in a hole, stop digging", aber das wäre unfair. Denn das "Ende der Geschichte" wird oft missverstanden, vor allem, weil viele Kritiker*innen der These sie gar nicht vollständig, sondern nur in einer stark verkürzten Version kennen. Tatsächlich trifft Fukuyamas Argument, dass es seit 1991 keine ideologische Alternative zum Liberalismus gibt, auch noch über 30 Jahre später zu. Dass es mittlerweile eine ganze Zahl von Ländern und Fraktionen gibt, die dem Liberalismus feindselig gegenübersteht, ändert daran erst einmal wenig. In seinem 2022 veröffentlichten Essay versucht sich Fukuyama an einer Verteidigung des Liberalismus gegenüber den "discontents" von links wie rechts.
In seinem ersten Kapitel unternimmt Fukuyama es, die Kernthese seines Werkes zu formulieren. Demnach ist der Liberalismus von rechts und links bedroht, wenngleich der Autor von Beginn an und immer wieder klarmacht, dass die Bedrohung von rechts wesentlich direkter und präsenter und kurzfristig gefährlicher ist als die von links. Er unterscheidet dabei grundlegend zwischen jenen, die unzufrieden mit ihm sind und ihn zu ändern versuchen - darunter fallen etwa Konservative von rechts und Progressive von links - und jenen, die ihn offen bekämpfen. Hier finden sich so illustre Zeitgenossen wie Putin und Orban, Xi Jinping und Bolsonaro, aber auch Linksradikale.
Die Fronten derart geklärt geht Fukuyama daran, den Liberalismus erst einmal überhaupt zu definieren. Das ist mehr als notwendig, denn wie er selbst aufzeigt, verstehen unterschiedliche Menschen sehr unterschiedliche Dinge darunter. Er eröffnet eine vorwiegend politische Definition, die er deutlich sowohl vom amerikanischen "liberal" abgrenzt (das in Europa einfach nur als "links" verstanden werden dürfte) als auch von seiner extremistischen Version im amerikanischen Libertarismus. Interessant ist er hier, dass er auch explizit das Liberalismus-Verständnis der FDP verwirft.
Stattdessen definiert er den Liberalismus als durch die rule of law, den Rechtsstaat, markiert, und macht direkt deutlich, dass Demokratie dazu nicht grundsätzlich erforderlich ist. Orbans Modell der illiberalen Demokratie wie auch Xis China könnten grundsätzlich liberale Gesellschaften sein (sind es aber natürlich nicht, aus Gründen, die in seiner weiteren Definition deutlich werden). Die Hauptaufgabe des Liberalismus ist demzufolge die Verteidigung der Individualrechte, vorrangig des Rechts auf Leben und des Rechts auf Besitz, gegenüber dem Staat. Fukuyamas Ziel mit dieser Definition ist es erklärtermaßen, ein möglichst breites Zelt aufzuspannen, das möglichst viele mögliche Liberale zulässt.
Ich bin hier völlig bei ihm und kann verstehen, dass er an dieser Stelle den eingeengten Liberalismus-Begriff etwa der FDP verwirft. Wir hatten die Diskussion hier im Blog ja bereits auch, ob etwa die Grünen als liberal gelten dürfen (für Fukuyama sicherlich) oder ob ich mich etwa als Liberaler einordnen könnte (dito). Andere Autoren hier sind da ja anderer Meinung und vertreten einen wesentlich exklusiveren Begriff. Der hat sicherlich auch seine Berechtigung, ist aber emphatisch von Fukuyama nicht gemeint.
Zuletzt betont er, dass eine wesentliche Aufgabe des Liberalismus das "Senken der Betriebstemperatur" innerhalb des Gemeinwesens sei, indem Glaubenskonflikte auf den privaten Bereich reduziert werden. An dieser Stelle kann ich gleich die beiden Probleme, die ich mit Fukuyamas Definition habe, deutlich machen. Problem eins betrifft die Idee der Toleranz, denn Fukuyama ignoriert, dass der Glaube der Elite bereits institutionalisiert ist und deswegen einen völlig anderen Stellenwert genießt. So etwa sind wir in Deutschland ungeheuer tolerant bei der Frage, ob jemand katholisch oder evangelisch ist, weil da die beiden durch die Elite über Jahrzehnte institutionalisierten Glaubensrichtungen sind. Bereits bei christlichen Splittergruppen findet die Toleranz schnell Grenzen; wo es aber etwa um den Islam geht, ist es mit der viel gerühmten Toleranz sehr schnell vorbei.
Problem Nummer zwei finde ich aber viel bedeutender, denn das liegt in der Definition selbst, die t
autologisch ist: Fukuyama erklärt letztlich seine eigenen Werte, befindet diese wenig überraschend gut, zieht einen Kreis darum, nennt alles innerhalb des Kreises Liberalismus und erkennt dann, dass Abweichungen von diesem Werteset nicht gut sind. Das ist aber letztlich nur das Sagen mit vielen Worten, dass man seine eigenen Werte gut findet, was nicht eben eine rasend aufregende Erkenntnis ist. Das Problem damit wird in den folgenden Kapiteln deutlich.
Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Fukuyama mit der Abweichung des Liberalismus nach rechts, die er für eine Fehlentwicklung hält: den Neoliberalismus. Er skizziert kurz die sattsam bekannte Geschichte (Reaktion auf Keynesianismus, Hayek, Chicago-Boys, Thatcher, Reagan, Clinton, Finanzkrise), um dann festzustellen, dass es sich hier um eine Perversion des Liberalismus handelt, die Staatsskepsis in offene Staatsverachtung und Staatsfeindlichkeit verwandelt hat und damit eine (abzulehende) Radikalversion darstellt. So sehr ich inhaltlich bei Fukuyama bin, so sehr zeigt sich hier doch, dass er letztlich einen Strohmann aufbaut, den er dann leicht niederreißen kann, um sich und seine Position als besonders moderat und vernünftig zu präsentieren.
In Kapitel 3 wird es dann etwas philosophischer. Er spricht über den Eigennutz beziehungsweise den Egoismus des Individuums, der letztlich den Kern des Liberalismus ausmacht. Denn ohne den Willen und die Möglichkeit des Individuums, seinen eigenen Interessen und Neigungen nachzugehen, kann der Liberalismus im Guten wie im Schlechten nicht funktionieren. Auch hier findet sich das Leitmotiv der Moderation erneut: in gewissem Maß ist dieser Eigennutz gut, aber wenn es zu viel wird, reißt er den Liberalismus in die Tiefe. An Beispielen für solche Fälle mangelt es wahrlich nicht.
Dem stellt Fukuyama in Kapitel 4 die andere Seite der Medaille entgegen, die "Souveränität des Individuums". Hier diskutiert er die eher für Linksliberale wichtigen Eigenschaften des Liberalismus in ihrer Ermächtigung des Einzelnen gegenüber der Gruppe, im Ausleben von eigenen Identitäten und Interessen, die im Extrem die Gesellschaft so weit fragmentieren, dass sich diese auflöst und die außerdem zur Konstruktion von Gruppen anregt, die sich dann feindlich in einem Nullsummenspiel gegenüberstehen.
Solcherart die wichtigsten liberalen Eigenschaften und ihre Extreme definiert, spricht Fukuyama im Kapitel 5 die aktuell wohl größte Debatte an, die Identitäspolitik. Er packt das unter "liberalism turns against itself", wonach ein zu Viel an Freiheit letztlich dazu führt, dass alle ihre Freiheit verlieren. Diese Kritik dürfte allen bekannt vorkommen, wenngleich naturgemäß eine Seite dieser Kritik wesentlich stärker betont wird als die andere: treibt man etwa das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit zu weit, entstehen mächtige Individuen, die die Freiheit aller anderen beschränken - eine beliebte wie zutreffende Kritik aller eher linksstehender Menschen am liberal-kapitalistischen System. Umgekehrt führt eine zu starke Konzentration auf Eigenschaften, die per Geburt vorgegeben sind - wie Geschlecht und Rasse - zu einer unüberwindbaren Gruppenbildung, die die Gesellschaft zerstört - eine ebenso zutreffende wie häufige Kritik von rechts. Fukuyama macht es sich hier sehr einfach, indem er von beiden Seiten letztlich Strohmannargumente aufbaut, um diese umso effektiver niederzureißen und sich in der moderat-rationalen Mitte zu positionieren.
Das sechste Kapitel befasst sich mit der Bedrohung der Rationalität der Wissenschaft durch illiberales Gedankengut. Die Bedrohung von rechter Seite haben wir nicht nur in der Corona-Pandemie, sondern auch bei der Klimawandelleugnung in letzter Zeit sattsam vorgeführt bekommen. Die Ursprünge sind hier mehr psychologischer Natur. Etwas Fundamentaler wird es bei der linksradikalen Wissenschaftskritik, die Fukuyama auf diverse linke Intellektuelle zurückführt, deren Konstruktion der Wissenschaft als "bourgeois" diese als Feindbild verortet und dadurch zu einer Ablehnung führt. Er macht diese Tendenz etwa bei den radikalen Vertreter*innen des woke aus.
Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit dem Aufschwung von Technologie und der Gefährdung der Privatsphäre und Redefreiheit dadurch. Das empfand ich als das schwächste Kapitel, weil Fukuyama hier offensichtlich aus der Rolle eines Außenseiters schreibt. Seine Vorstellung, dass durch Videospiele eine völlig entgrenzte Welt erschaffen werde, die es "jungen Menschen" (ein Klischee, das endlich beerdingt gehört; der durchschnittliche Gamer ist weit über 30) erlaube, praktisch ohne Verankerung in der realen Welt auszukommen und ein rein simuliertes Leben zu leben, ist aus der Mottenkiste der Diskussionen der 1990er Jahre entnommen, und seine Abhandlungen so Sozialen Netzwerken nichts als eine Aneinanderreihung an Klischees von Filterblasen bis zu "Anonymität sorgt für mehr Hass". Hier wäre der Schuster besser bei seinen Leisten geblieben; Substanzielles sagt er praktisch nicht aus.
Das achte Kapitel stellt die Frage nach Alternativen zum Liberalismus, die Fukuyama wenig überraschend mit "nein" beantwortet. Wie eingangs bereits diskutiert bieten weder Russland noch China, Ungarn oder Indien ein Alternativmodell an. Sie sind zwar klar antiliberal, versuchen aber nicht, weltweit ihr System zu verbreiten. Das ist natürlich für Fukuyama zur Verteidigung seiner eigenen Thesen recht wichtig, aber eigentlich auch keine großartig neue Erkenntnis.
Das neunte Kapitel dagegen fand ich in seiner Beschäftigung mit der Frage nach nationaler Identität hochinteressant. Erneut wendet sich Fukuyama gegen die Extreme - Nationalismus auf der einen, eine völlig Nationalitäten ignorierende, open-borders feiernde Internationale auf der anderen Seite - und diskutiert die Rolle der Nation. Diese ist sehr ambivalent. Nicht nur braucht es die Nation, um den Liberalismus überhaupt zu errichten und zu erhalten (an dieser Stelle erfolgt auch noch einmal eine emphatische Bestätigung der Legitimität staatlicher Eingriffe von skandinavischen Wohlfahrtsstaaten bis zu angelsächsischen laissez-faire-Regimen), sondern nationale Identitäten schaffen auch Gemeinsamkeit.
Denn hier sieht Fukuyama die größte Schwäche des Liberalismus: in seiner Ermächtigung des Individuums fehlt ihm eine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Ziel. Ich glaube zwar, dass Fukuyama ein wenig die Chancen einer affirmativen Bekräftigung liberaler Werte unterschätzt - an denen es in meinen Augen deutlich mangelt -, aber grundsätzlich hat er sicherlich Recht. Er versucht deswegen, eine Art Zweckheirat zwischen nationaler Identität und liberalen Werten zu schaffen, die sich so gegenseitig moderieren und in Balance halten. Das ist sicherlich ein gutes Gedankenkonstrukt, das weitere Ausarbeitung lohnt.
Im zehnten und letzten Kapitel fasst Fukuyama das Gesagte dann noch einmal als "Principles of a Liberal Society" zusammen. Hier wird die Schwäche des Ansatzes auch noch einmal deutlich, vor allem die eigenen Präferenzen als "Liberalismus" zu definieren und dann auf einen Sockel zu erheben. Das ist wie gesagt nichts, was alle anderen Menschen nicht auch tun würden, aber es wäre manchmal schön, wenn intellektuell ehrlicher damit umgegangen würde.
Der Essay ist insgesamt recht kurzweilig zu lesen und beansprucht auch die Geduld des Publikums nicht über die Gebühr. Das Hörbuch ist in rund acht Stunden durch, die Kapitel mit jeweils etwa 30-40 Minuten in angenehme Häppchen unterteilt. Wie immer lohnt sich die Lektüre Fukuyamas auch und gerade dann, wenn man nicht mit ihm übereinstimmt, und sei es nur, um die eigene Position zu schärfen.
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