Geoffrey Parker - Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century (Hörbuch)
Teil 1 hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier.
Der vierzehnte Teil, "Red Flag over Naples", wirft den Blick auf Italien. Die Halbinsel stand im 17. Jahrhundert zu großen Teilen unter spanischer Herrschaft, wie wir am Rande ja bereits im Kapitel über Spanien selbst gesehen haben. Dort kam Italien vor allem als Schauplatz zahlreicher Kriege vor, die die spanische Staatskasse belasteten. Nun sehen wir, was dort direkt vor sich geht - und die deutlichen Unterschiede zum "Mutterland". Diese sind in der Tat frappierend: wo in Spanien Bürgerkrieg und Aufstand durch staatliche Steuerpolitik wesentlich verschlimmert wurden, indem die spanischen Herrscher dem verbreiteten Muster der Steuererhöhung in Zeiten wirtschaftlicher Not folgten, reagierten die Herrscher in Italien völlig anders. Als in Palermo wegen der hohen Brotpreise ein Aufstand ausbrach (der wie die meisten Aufstände des 17. Jahrhunderts übrigens sinngemäß von dem Schlachtruf "Es lebe der König, nieder mit der Regierung" begleitet wurde, der eine Unschuld des Königs und eine Schuldigsprechung der "bösen Berater" postulierte, die für die menschliche Geschichte typisch ist), reagierten die dortigen Statthalter trotz ausdrücklichen Verbots sofort mit staatlichen Subventionen.
Dadurch gelang es ihnen, die Revolution einzuhegen. Zwar verhinderte das nicht ein Übergreifen auf Neapel (wo die titelgebende rote Flagge entrollt wurde, die "Krieg" bedeutete). Aber auch dort konnte die entstehende Revolution durch Zugeständnisse der Herrschenden (und, das sei nicht verschwiegen, punktuelle massive Gewalt gegenüber "Rädelsführern" zur Abschreckung) eingehegt werden. Diesem Muster folgte man einige Jahrzehnte später auch in Norditalien, wo die neben den Niederlanden am dichtesten besiedelte Region Europas, die Lombardei, ebenfalls gegen Spanien in den Aufstand ging.
Drei Muster sind in meinen Augen bei den italienischen Aufständen bemerkenswert. Einmal die Trennung zwischen den (bösen) Regierenden und dem (guten) König. Das spiegelt den firm monarchistischen Glauben wieder, der im ganzen 17. Jahrhundert zu beobachten ist - mit Ausnahme Großbritanniens gab es keine ernsthaften Alternativen zum Monarchismus, und selbst da war es nur ein kurzes Experiment. Zweitens das Problem, dass Aufstände ausländischer Hilfe bedurften. Die italienischen Städte hassten aber die Franzosen - die einzige Alternative - noch mehr als ihre spanischen Herren, weswegen die Aufstände nie einen grundsätzlichen Wechsel einleiten konnten. Und drittens profitierten die spanischen Statthalter in Italien von der Distanz zu Spanien: anstatt direkt den Anweisungen eines inkompetenten Monarchen unterworfen zu sein, besaßen die Statthalter mehr Spielraum und konnten viel sinnvollere Politiken wählen. Der entscheidende Punkt war dabei die Schaffung eines Buy-In: sie reformierten die Herrschaftsstrukturen, indem sie die örtliche Elite mit einbezogen, so dass diese ein wirtschaftliches wie soziales Interesse am Erhalt des Königreichs hatte. Durch Ämter und Würden von des Königs Gnaden war ihr Schicksal mit dem Spaniens verknüpft, was die Stabilität erhöhte und die Attraktivität ausländischer Interventionen drastisch verringerte.
Im fünfzehnten Teil, "The "dark continents": The Americas, Africa and Australia", befasst sich Parker mit eben jenen Weltregionen, deren Geschichte im Dunkeln liegt, weil wir praktisch keine schriftlichen und nur wenige natürliche Quellen besitzen.
Das betrifft einmal Nordamerika. Wir wissen zwar, dass die dortige Bevölkerung mit dem Eintreffen der Weißen massiv zurückging; die Gründe aber sind umstritten. Parker führt hier neben den verheerenden Vernichtungsfeldzügen der Kolonisatoren auch die kleine Eiszeit mit an. Die Lebensgrundlagen der Indianer wurden in einer Zeit übermäßig beansprucht, als sie zusätzliche Konkurrenz aus Europa erhielten. Wesentlich einschneidender aber waren die bereits erwähnten Vernichtungskriege einerseits und die Krankheiten andererseits; gegen Letztere besaßen die amerikanischen Ureinwohner*innen keinerlei Immunität und fielen ihnen daher in Massen zum Opfer, die Bevölkerungsrückgänge von bis zu 90% zur Folge hatten.
Dadurch öffnete sich den weißen Siedlern ein kultiviertes, aber weitgehend leeres Land, das sie für ihre Zwecke nutzen konnten. Anders als in Europa heiratete man in Amerika früher und bekam mehr Kinder, wodurch die Bevölkerung der Weißen massiv wuchs; zudem wurden schwarze Sklaven importiert. Der Bevölkerungsrückgang in absoluten Zahlen ist daher nicht so hoch wie man angesichts des indianischen Massensterbens vermuten könnte, was natürlich für diese nur ein kleiner Trost ist.
In Südamerika galt faszinierenderweise eine ähnliche Dynamik wie in Italien. Die Entfernung von den inkompetenten Königshöfen in Madrid und Lissabon erlaubte es den örtlichen Statthaltern, klüger auf die Nahrungsmittelkrisen zu reagieren und gleichzeitig die lokalen Eliten zu kooptieren. Anders als in Südasien gelang es außerdem den Portugiesen, mit wesentlich größerer Kompetenz gegen die Niederländer vorzugehen und deren kurzfristigen Gewinne wieder rückgängig zu machen, so dass Südamerika eine spanisch/portugiesische Domäne blieb.
Für Afrika ist die Quellenlage wegen der geringen Besiedlung schlecht. Am besten ist sie in Südafrika, wo niederländische Siedler die einzigen moderaten Klimazonen und schiffbaren Flüsse Afrikas vorfanden und deswegen relativ weit ins Landesinnere vorstießen. Dabei ermordeten sie große Teile der einheimischen Bevölkerung, brachten neue Krankheiten mit und verschleppten sie. Ihre geringe Zahl machte diesen Einfluss jedoch (noch) überschaubar; relevanter ist, dass die Niederländer Aufzeichnungen führten und wir so die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit auch in Südafrika beobachten können, wo die Nahrungsgrundlagen weniger wurden.
Praktisch keine Quellen gibt es aus Ostafrika, wo reine Vermutungen bleiben, was dadurch, dass die Einheimischen ein anderes Zeitverständnis haben (Parker nennt es eine "Kultur des Vergessens") noch weiter erschwert wird. Mit dieser Region hält sich Parker daher auch kaum auf. Genaueres kann man dagegen für Westafrika sagen: die Kleine Eiszeit verschob die klimatischen Grenzen; die Wüste dehnte sich nach Süden aus und drängte entsprechend die nomadischen Viehzüchter nach Süden, wo diese ihrerseits die Bauern dieser Region vertrieben und damit eine wahre Völkerwanderung nach Süden in Gang setzten, die sich in großen Bürgerkriegen niederschlug, weil zur gleichen Zeit in der Region vergleichsweise große, fähige Staatswesen entstanden waren, die in größerem Maßstab Krieg führen konnten. In diesen Kriegen fielen viele Gefangene an, die als Sklaven verkauft wurden und so den demographischen Druck linderten - sehr nachhaltig, zu nachhaltig, sogar, denn da auch Kinder und Frauen verkauft wurden, fehlten auch die Nachkommen der Besiegten; Westafrika würde noch lange unter den Folgen leiden.
Für Australien gilt Ähnliches wie für Ostafrika: es gibt praktisch keine Quellen. Bekannt ist, dass die Aborigines untereinander Krieg führten - es gibt sowohl archöologische Beweise als auch mündlich überlieferte Geschichten -, aber nicht viel mehr als das. Naturwissenschaftliche Untersuchungen bestätigen zudem wenig überraschend, dass sich das Klima auch in Australien abkühlte; welche Konsequenzen das für die Menschen hatte, ist aber völlig unklar.
Der sechzehnte Teil, "Getting it right: Early Tokugawa Japan", erzählt die einzige echte Erfolgsstory des 17. Jahrhunderts. Obwohl Japan besonders anfällig für Klimawandel ist und wegen seiner geografischen Lage viele aktive Vulkane hat, obwohl die Japaner*innen die Insel weitgehend abgeholzt hatten und sie so für die für das 17. Jahrhundert typischen Sturmfluten noch anfälliger war, erlebte Japan in dieser Zeit eine Urbanisierung und Bevölkerungswachstum.
Ein Grund hierfür war die Periode der "warring states" im 16. Jahrhundert: Japan war, anders als die meisten anderen Weltregionen, nicht über-, sondern unterbevölkert, weil die Bürgerkriege so hohe Opferzahlen gekostet und so viel Gegenden verheert hatten. Dadurch stand trotz der Abkühlung der Kleinen Eiszeit genügend Land zur Verfügung, um die Bevölkerung zu ernähren. Doch hätte das kaum ausgereicht, wenn Japan ähnliche Politiken betrieben hätte wie etwa Europa. Danach sah es eingangs des Jahrhunderts aus: ein kurzer, aber blutiger Bürgerkrieg führte zur Vernichtung der katholischen Konvertiten. Doch die einsetzende Tokugawa-Herrschaft läutete einen Kurswechsel auf allen Ebenen ein.
Die neuen Shogun erzwangen religiöse Konformität im ganzen Land und verbannten die ausländischen Missionare. Die komplette Abschottung des Landes hielt es aus den Konflikten mit anderen Mächten, wie sie die Politik anderer Staaten im 17. Jahrhundert prägten, komplett heraus. Auch innenpolitisch erzwangen die Shogun einen Frieden, der fast zwei Jahrhunderte wären sollte. Fehden und Privatkriege zwischen den Daimyo wurden verboten. Die Shogun erzwangen die Anwesenheit der Daimyo am Hof in Edo in voller Pracht, was deren Ressourcen und Aufmerksamkeit band und sie gleichzeitig der Kontrolle des Shogun unterstellte.
Zugleich wuchs die Produktivität der japanischen Landwirtschaft sprunghaft an. Parker bezeichnet dies als "Industrious Revolution", im Gegensatz zur "Industrial Revolution": es wurde Kapital gespart, indem mehr Arbeit investiert wurde, statt wie im 19. Jahrhundert Kapital zu investieren, um Arbeit zu sparen. Die japanischen Bauern wurden zur "Selbstausbeutung" (Parker) getrieben und arbeiteten wesentlich härter als zuvor.
Das letzte Puzzlestück war die aktive Politik gegen Hungersnöte. Die Shogun bauten in ihren Ländereien Suppenküchen auf und verteilten Ressourcen um, um die Bevölkerung zu stützen. Dieses Modell, das als Verantwortung gegenüber den Vasallen geframed wurde, setzten sie auch gegenüber den Daimyo durch. Solche Herrscher, auf deren Gebieten Aufstände ausbrachen, wurden mit Entzug des Lehens und häufig dem Tod bestraft, so dass sie starke Anreize hatten, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Gleichzeitig erzwangen die Shogun einen bescheidenen Lebensstil, indem sie harsche Regulierungen in jeden Lebensbereich (bis zum Stoff der Unterhosen) herausgaben und drakonisch kontrollierten.
Die Tokugawa hegten außerdem die Samurai ein, die im 16. Jahrhundert eine so dominierende Stellung innegehabt hatten. Um diese Kriegerkaste zu neutralisieren, reglementierten sie ihre Anstellungen an den Höfen der Daimyos (die gezwungen waren, eine gewisse Entourage zu unterhalten und regelmäßig in Edo zu präsentieren) und gaben ihnen neue Tätigkeitsfelder: die Samurai wurden zu Dichtern, Beamten, Lehrern und anderen kulturellen, wenig kriegerischen Professionen. Ein letzter Rebellionsversuch wurde mit großer Leichtigkeit für die Tokugawa zerschlagen, was diesen Bestrebungen half. Die Daimyo indessen mussten riesige Summen ausgeben, um die (nutzlosen) Samurai zu unterhalten und den Hofstaat in Edo zu betreiben, Summen, die ihnen fehlten, um Rebellionen zu organisieren.
Die absolute Herrschaft der Tokugawa kontrollierte außerdem die Herstellung von Waffen - nur für die Truppen des Shogunats - und führte eine strenge Zensur ein, die sich vor allem auf religiöse Texte bezog. Das Christentum wurde komplett aus Japan verbannt, alle westlichen Texte harsch verfolgt. Stattdessen wurde eine Fokussierung auf buddhistische und japanische Literatur durchgesetzt, die in einer beispiellosen Alphabetisierungskampagne mündete: im 17. Jahrhundert lernten breite Schichten der japanischen Bevölkerung Lesen, während im Westen die Analphabetenrate unverändert hoch blieb.
Japan erlebte keine Rebellionen und keine Kriege. Allein, diese Erfolge, die Japan 220 Jahre Frieden brachten, kamen mit einem hohen Preis. Einerseits wurde die Bevölkerung zu rigoroser und unbedinger Unterwerfung gezwungen (wenngleich die Tokugawa gerissenerweise eine Reihe von Ventilen durch formalisierte Kritik zuließen). Die Isolation vom Rest der Welt brachte zwar Frieden. Sie brachte aber auch Stagnation. Als die "Schwarzen Schiffe" 1853 im Hafen von Edo auftauchten, war Japan immer noch auf dem technologischen Stand von 1640. Man kann glaube ich berechtigt die Frage stellen, inwieweit es das wert war. Zumindest die Menschen im 17. und 18. Jahrhundert dürften diese Frage, wenn sie den Vergleich mit dem Rest der Welt gehabt hätten, wohl affirmativ beantwortet haben.
Weiter geht's in Teil 5.
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