Geoffrey Parker - Global Crisis. War, Climate Change and Catastrophe in the Seventeenth Century (Hörbuch)
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Das Geld ging auch in die, wenngleich langsame, Ausbreitung von Getreidesilos. Solche hatte es schon vor der Krise des 17. Jahrhunderts gegeben, um Hungersnöte abzufedern, aber die Kosten der Kriegführung und die Katastrophen der Kleinen Eiszeit hatten deren Infrastruktur praktisch völlig zerstört. Unter dem Eindruck der Not wurden die Systeme allerorten neu aufgebaut und stellten eine Art Proto-Sozialstaat dar, der wesentlich dazu beitrug, Katastrophen wie im 17. Jahrhundert künftig zu vermeiden. Wenig verwunderlich, dass die Zeitgenoss*innen angesichts der Ergebnisse die Idee einer absoluten Monarchie deutlich anderen Systemen vorzuziehen begannen.
Trotz der eindeutigen Effektivität von Migration beim Wiederaufbau der verheerten Gebiete gab es nur sehr kurz eine staatliche Förderpolitik von Migration; stattdessen wurden bald neue Restriktionen erlassen, die die wirtschaftliche Erholung stark ausbremsten. Ähnlich wirkte der neue Boom für die Zünfte, die zwar eine sichere Erholung für alle Mitglieder bedeuteten, aber gleichzeitig die Geschwindigkeit derselben deutlich abbremsten. Parker bedient sich hier der Schumpeter'schen Analogie von "low pressure policies" wie in Kontinentaleuropa, wo versucht wurde, die Erholung möglichst reibungsfrei zu gestalten und "high pressurce policies" wie in Großbritannien, wo der Konkurrenzdruck ungleich höher war.
Im zweiundzwanzigsten Kapitel, "The Great Divergence", zeigt Parker dann auf, wie genau diese Unterschiede in den Reaktionen auf die Krise zu einer merklichen Differenz zwischen den Staaten der Welt führten. Unter dem Stichwort "The Great Divergence", das von Kenneth Pomeranz popularisiert wurde, diskutiert er die Frage, warum Europa - und auch hier nur manche Gebiete - im 18. Jahrhundert so deutlich vom Rest der Welt davonzogen. Besonders wichtig ist das in Bezug auf China und Japan: waren die Unterschiede in Produktivität, Technologie und Lebensstandard zwischen Europa und China um 1700 noch vernachlässigbar, waren sie bereits 100 Jahre später kaum mehr zu übersehen und erreichten 150 Jahre später ihren Höhepunkt.
Die Frage, warum das so ist, ist kontrovers. Denn im 17. Jahrhundert selbst lassen sich noch global gemeinsame Trends ausmachen. So erlebte die grundlegende Schulbildung - Rechnen, Lesen, Schreiben - eine Blüte und wurde viel mehr als früher gefördert, weil sie als Grundlage für besseres Wirtschaften erkannt wurde. Gleichzeitig aber erlebten die Universitäten eine über 100 Jahre dauernde Krise: die Finanzierung wurde fast halbiert, zahlreiche Lehr- und Forschverbote ausgesprochen und die Zahl der Absolventen bewusst niedrig gehalten. Dahinter steckte die (richtige) Erkenntnis der Herrschenden, dass Revolutionen von Studierten ausgingen. Die damit einhergehende Unterdrückung von Forschung und Innovation allerdings sollte einer der größten Hemmschuhe in Zukunft werden.
Zwar waren selbst die größten Intellektuellen des 17. Jahrhunderts noch von Aberglauben durchdrungen (Newton selbst besaß diverse Bücher über Magie), zwar wurden sie noch verfolgt (Descartes und Spinoza in Amsterdam, Galilei in Italien), aber der Trend ist für Parker dennoch für den Nordwesten Europas eindeutig: die Nationalisierung, die aus dem 17. Jahrhundert resultierte einerseits und der Empirismus andererseits legten die Grundlage für die wissenschaftliche Revolution über in Jahrhundert später. Die Nationalisierung ist ihm wichtig, weil sie wissenschaftliche Erfolge in einen nationalen Wettlauf verwandelte; der Empirismus schuf die moderne Wissenschaft (wenngleich gegen massive Widerstände) überhaupt erst.
Andere Teile der Welt, sowohl Europas Süden wie etwa auch China, verpassten diese Entwicklungen. Inquisition und Zensurbehörde unterdrückten über mindestens zwei Jahrhunderte genau die Entwicklungen, die vor allem Englands führende Rolle später möglich machen sollten. In Chinas Fall war es der große Einheitsstaat, der die Entwicklung von "Vielfachem" verhinderte, also die mehrfachte Entdeckung des gleichen Sachverhalts, die für Europas wissenschaftliche Szene so bedeutend sein sollte: unterdrückte die Inquisition eine Entdeckung in Spanien, setzte sie sich eben in Frankreich durch. Das spricht übrigens auch einmal mehr gegen die "Great Man Theory", denn die wissenschaftliche Entdeckungen auch eines Newton waren nur im Austausch und in Kooperation möglich, und zahlreiche solche Entdeckungen wurden von vielen Menschen gleichzeitig gemacht.
Im dreiundzwanzigsten Kapitel, "Conclusions", versucht sich Parker dann an einer Synthese. Noch einmal beschreibt er den allgemeinen Bevölkerungsrückgang des 17. Jahrhunderts (mit der Ausnahme Japans) und seine Ursachen, vor allem in den Kriegen und damit einhergehenden Verwerfungen sowie der Klimakrise. El Nino, Vulkanaktivitäten und Sonnenflecken kommen noch einmal ebenso zu ihrem Recht wie die damit einhergehende Häufigkeit von Rebellionen. Indirekt gibt Parker wohl den absolutistischen Herrschern und konservativen Eliten der damaligen Zeit Recht, denn einmal mehr zeigt sich, dass Rebellionen überwiegend von der intellektuellen Elite ausgingen, von ihr geführt wurden und dort, wo sie beteiligt war, tiefgehender und schwieriger zu unterdrücken waren. Auch religiöse Differenzen spielen eine tragende Rolle. Ebenfalls ein Grund für die Zunahme von Rebellionen waren die jeweils gegnerischen Herrschenden; beständig versuchten sie, Revolutionen bei ihren Feinden anzuzetteln - und dann im Erfolgsfalle zu verraten, denn wer will schließlich erfolgreiche Aufständische im eigenen Hinterhof?
Im letzten Kapitel, "Epilogue: "It's the climate, stupid!"", kehrt Parker einmal mehr zur Bedeutung des Klimawandels zurück und verbindet ihn mit unserer Gegenwart. 1979 fand die erste Klimakonferenz - gesponsert unter anderem von Shell und BP! - statt, bei der über 250 Historiker*innen aufgefordert wurden, Klimageschichte zu erforschen (was Parker hier ja zum Teil auch unternimmt). Das geschah vor dem Hintergrund, man ahnt es, von Unruhen, wenig Sonnenflecken, El Nino, Vulkanaktivität und einbrechenden Ernteerträgen. Kurz darauf machte die "grüne" Revolution der 1980er mit massiv steigenden Ernteerträgen diese Sorgen obsolet. Als die IPCC 1990 einen Report veröffentlichte, standen BP und Shell schon auf der anderen Seite, und seither gibt es zumindest in den USA eine Hälfte des politischen Spektrums, die den Klimawandel direkt leugnet und aktiv an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen arbeitet. Obwohl Historiker*innen in den Jahrzehnten seit 1979 riesige Datenmengen herbeigeschafft haben, werden sie wesentlich weniger ernst genommen als 1979.
Ich habe natürlich auch ein eigenes Fazit zum Buch. Das Thema selbst ist gut gewählt und relevant. Historische Erfahrungen mit Klimawandel dürften in den kommenden Jahren mehr und mehr auf die Agenda kommen; der Verweis auf die El-Nino-Episode 1979 kann hierfür als ein Beispiel dienen, das im Stile von Parkers Buch eine Neubewertung der Carter-Präsidentschaft (und generell Teile der Malaise der 1970er Jahre) nötig machen dürfte. So wie die Corona-Pandemie die verschüttete Erinnerung an frühere Grippeepidemien wie die Spanische Grippe freigelegt hat, nur um zu zeigen, dass die Debatten um Maskenmandate älter als 2020 sind, so dürften die Reaktionen auf die Klimakrise, worin sie dann auch immer bestehen werden, einen ähnlichen Effekt für frühere Epochen mit sich bringen, wenngleich es sich vermutlich wie im vorliegenden Band dann eher um Kälteepisoden denn um Hitzewellen handeln dürfte (wobei die Geschichte der Hitzewelle von 2003 noch geschrieben werden muss). Insofern ist Parkers Buch mehr als aktuell.
Leider beschäftigt es sich wesentlich weniger mit dem Klimawandel, als der Titel und die selbstgewählte Themensetzung dies vermuten ließe. Das ist denke ich zu guten Teilen der Struktur geschuldet: dadurch, dass seine Hauptakteure die Fürsten im Speziellen und der Adel im Allgemeinen ist, konzentriert sich Parker viel auf die Politikgeschichte, die quasi die peripheren Folgen der Klimakrise abfedert, deren Struktur selbst darüber aber immer wieder in den Hintergrund tritt. Natürlich kann Parker da nur wenig dafür: die Akteure des 17. Jahrhunderts verstanden die Auswirkungen schlicht noch nicht gut genug, aber ich vermisse etwa eine Übersichtsdarstellung, quasi eine analytische Synthese, weshalb die Rolle des Klimas von den Herrschenden so unterschätzt wurde und wie man darauf reagierte. Stattdessen verweist Parker zwar gerne darauf, dass die Hungersnot natürlich durch die Klimakrise verschärft wurde oder dass die kleine Eiszeit die Lage verschärfte, weil etwa ins Freie gejagte irische Lokalgrößen erfroren statt wie sonst bei diesen Aktionen einfach nur eine unangenehme Nacht im Freien verbrachten. Aber es wäre besser, wenn das in einen klareren analytischen Rahmen gepackt werden würde.
Und das führt mich zu meinem grundsätzlichen Problem mit Parkers Werk. Während ich sehr viel gelernt habe, kann ich mich des Eindrucks nicht erwahren, dass das ganze Buch (wie auch meine Rezension) deutlich länger ist, als nötig gewesen wäre. Hier steht sich die gewählte Struktur wieder im Weg. Dadurch, dass jedes Reich, jede politische Großregion ihr eigenes Kapitel bekommt und Parker zudem dem angelsächsischen Stil der Geschichtsschreibung mit ihrem starken Fokus auf dem Geschichtenerzählen treu ist, wiederholen sich die Muster immer wieder (ich habe das ja im Lauf der Rezension immer mal wieder kommentiert) und ziehen das Ganze in die Länge.
An vielerlei Stellen hätte ich mir gewünscht, dass er eher analytisch Muster herausarbeiten würde, die dann anhand von konkreten Beispielen belegt werden. Stattdessen werden die einzelnen Kapitel erzählt, während größere Muster hauptsächlich implizit wirken (man muss schon ziemlich unaufmerksam lesen, um zu übersehen, dass die Kombination der gesunkenen Erträge durch die Klimakrise und der Mehrausgaben der Fürsten für Krieg beständig die Lage der Mehrheitsbevölkerung drastisch verschlimmert. Ob man diese Geschichte beständig aufs Neue erzählen muss, als ob das anderswo nicht passiert ist, und darüber genau die Synthese weglässt, die eine strukturelle Gestaltung erlaubt hätte? Klar, es geht auf Kosten der Lesbarkeit (der Vergleich mit Jürgen Osterhammels Mammutwerk "Die Verwandlung der Welt" drängt sich auf).
Daher geht die Betrachtung von Faktoren, die sich nicht direkt aus den Quellen ableiten lassen, vergleichsweise etwas unter. Das liegt natürlich auch an den Quellen selbst: währen das 19. Jahrhundert dank der Fortschritte in der Statistik bereits ordentliches Datenmaterial bereitstellt, gibt es für das 17. Jahrhundert bestenfalls grobe Schätzungen. Dafür kann natürlich Parker nichts, und das wird in den Debatten der Epoche auch reflektiert.
Diese Kritik sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Parker mit großem Sachverstand und einem echten Talent für das historische Erzählen und Forschen (die Masse der Quellen, auf die hier zurückgegriffen wird, ist wahrlich beeindruckend!) an die Arbeit herangeht und die Lektüre unbedingt empfehlenswert ist. Ich hätte sie mir nur ein wenig anders gewünscht.
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