Jason Lipshutz - It starts with One (Hörbuch)

Als Ende der 1990er Jahre die musikalische Landschaft zwischen Alternative Rock, Nu Metal und elektronischen Einflüssen schwankte, formierte sich in Südkalifornien eine Band, die später zu einer der prägenden Stimmen dieser Ära werden sollte: Linkin Park. Ihr Aufstieg, ihre Umbrüche und ihre anhaltende Wirkung sind eng mit dem kulturellen Klima jener Zeit verbunden und spiegeln die Suche einer Generation nach Ausdruck, Halt und Identität wider. Die Ursprünge reichen ins Jahr 1996 zurück, als die Highschool-Freunde Mike Shinoda, Brad Delson und Rob Bourdon in Agoura Hills eine Band gründeten, die zunächst „Xero“ hieß. Schnell schlossen sich weitere Musiker an, darunter DJ Joe Hahn und Bassist Dave „Phoenix“ Farrell. Xero versuchte, eine Balance zwischen aggressiven Gitarrenriffs, Hip-Hop-Rhythmen und elektronischen Samples zu finden. Doch trotz des Engagements blieb der Erfolg aus – vor allem, weil es an einem charismatischen Sänger mangelte, der das experimentelle Klangbild tragen konnte.

Dieser entscheidende Impuls kam 1999, als Chester Bennington aus Arizona zur Band stieß. Seine Fähigkeit, von verletzlichen, fast flüsternden Tönen in markerschütternde Schreie zu wechseln, machte ihn zur perfekten Ergänzung für Shinodas Rap-Vocals. Zugleich verlieh Benningtons persönliche Biografie, die von Kämpfen mit Depressionen, Sucht und Missbrauchserfahrungen geprägt war, den Texten eine Echtheit, die vielen Fans unmittelbar unter die Haut ging. Mit Bennington an Bord wurde aus „Xero“ schließlich „Hybrid Theory“ – ein Name, der die Mischung aus Stilen betonte. Da es rechtliche Probleme mit gleichnamigen Projekten gab, entschied man sich bald für „Linkin Park“, angelehnt an den Lincoln Park in Santa Monica. Das leicht veränderte Schreibbild sollte auch den Internetauftritt leichter auffindbar machen.
Im Jahr 2000 veröffentlichten Linkin Park ihr Debütalbum Hybrid Theory – und landeten damit einen der größten Überraschungserfolge des Jahrzehnts. Songs wie „In the End“, „Crawling“ oder „One Step Closer“ verbanden harte Riffs mit elektronischen Samples und Rap-Elementen zu einem Sound, der später als „Nu Metal“ bezeichnet wurde, den die Band jedoch stets als ihr eigenes Hybrid verstand. Das Album traf den Nerv einer jungen Generation, die zwischen der Euphorie des Internetzeitalters und den Unsicherheiten der globalisierten Welt nach Ausdrucksmöglichkeiten suchte. Die Texte, die von inneren Kämpfen, Entfremdung und Selbstzweifeln handelten, gaben Millionen Jugendlichen eine Stimme. Hybrid Theory verkaufte sich weltweit über 25 Millionen Mal und gehört bis heute zu den meistverkauften Debüts aller Zeiten.
Der Nachfolger Meteora erschien 2003 und führte den Erfolg fort. Die Band verfeinerte ihren Sound, ohne die Grundelemente zu verlassen. Songs wie „Numb“, „Faint“ oder „Breaking the Habit“ wurden weltweite Hits. Besonders „Numb“ avancierte zu einer Art Hymne für all jene, die sich missverstanden fühlten. Parallel festigte Linkin Park ihren Ruf als eine der intensivsten Live-Bands. Die Konzerte verbanden rohe Energie mit visueller Inszenierung, wobei die beiden Frontmänner Bennington und Shinoda das Publikum zwischen Aggression und Introspektion mitrissen. Die 2000er Jahre waren auch von Experimentierfreude geprägt. 2004 erschien Collision Course, eine Kollaboration mit Jay-Z, bei der Rock und Rap noch stärker verschmolzen. Besonders der Track „Numb/Encore“ brachte der Band einen Grammy ein und zeigte, wie genreübergreifend Linkin Park funktionieren konnte.
2007 folgte mit Minutes to Midnight ein Bruch: Die Band entfernte sich vom Nu-Metal-Sound und suchte nach einer breiteren Palette. Produziert von Rick Rubin, enthielt das Album politischere Texte („Hands Held High“, „No More Sorrow“) und Songs wie „What I’ve Done“, die auch in Soundtracks wie Transformers eine Rolle spielten. Die Fans waren gespalten, doch Linkin Park demonstrierte, dass sie sich nicht auf ein Genre beschränken wollten. Mit A Thousand Suns (2010) wagte die Band einen weiteren Schritt. Das Album war stark elektronisch geprägt und konzeptionell angelegt, was zu kontroversen Reaktionen führte. Manche feierten die künstlerische Ambition, andere vermissten den „alten“ Sound. Dennoch zeigte sich, dass Linkin Park nicht bereit waren, sich selbst zu wiederholen. 2012 erschien Living Things, das Elemente ihrer bisherigen Stile miteinander verknüpfte. The Hunting Party (2014) wiederum führte zurück zu einem härteren Klangbild, mit Gastbeiträgen von Musikern wie Tom Morello. 2017 schließlich veröffentlichten sie One More Light, ein Album, das poppiger und melodiöser wirkte, jedoch auch tiefe Traurigkeit in den Texten trug. Gerade die Ballade „One More Light“ wurde nachträglich als erschütternd prophetisch wahrgenommen.
Am 20. Juli 2017 erschütterte die Nachricht die Welt: Chester Bennington hatte sich das Leben genommen. Sein Tod fiel auf den Geburtstag seines engen Freundes Chris Cornell, der wenige Monate zuvor ebenfalls Suizid begangen hatte. Für Fans und Bandmitglieder war es ein Schock, der tiefe Wunden hinterließ. Millionen von Menschen weltweit trauerten – nicht nur um einen außergewöhnlichen Sänger, sondern auch um eine Stimme, die ihre innersten Gefühle artikuliert hatte. Das Gedenkkonzert „Linkin Park and Friends: Celebrate Life in Honor of Chester Bennington“ brachte zahlreiche Musiker zusammen, von Blink-182 über Alanis Morissette bis zu System of a Down. Die Band selbst zog sich nach diesem Ereignis weitgehend zurück und kündigte an, sich Zeit zu nehmen, um über ihre Zukunft nachzudenken.
Seit 2017 steht die Band vor der Frage, wie es ohne Chester weitergehen soll. Mike Shinoda veröffentlichte 2018 sein Soloalbum Post Traumatic, in dem er seine Trauer und den Verlust verarbeitete. Live trat er solo und mit wechselnden Gästen auf, während die übrigen Mitglieder größtenteils im Hintergrund blieben. Linkin Park als Einheit hat seitdem keine neuen Alben veröffentlicht, doch die Erinnerung an ihr Werk bleibt lebendig. 2020 wurde zum 20-jährigen Jubiläum von Hybrid Theory eine umfangreiche Jubiläumsedition veröffentlicht, die unveröffentlichte Demos und seltene Aufnahmen enthielt. Für viele Fans war es ein bittersüßes Wiedersehen mit der Energie der Anfangsjahre.
Sieben Jahre nach Chester Benningtons Tod wagte Linkin Park einen Schritt, den viele für unmöglich hielten. Mit dem 2024 erschienenen Album From Zero kehrte die Band auf die große Bühne zurück – nicht als bloße Erinnerungstruppe, sondern als Formation, die ihre eigene Zukunft neu entwarf. Der Titel spielte bewusst auf die frühen Anfänge als „Xero“ an und signalisierte zugleich ein Bekenntnis: Alles beginnt von vorne. Mit der Sängerin Emily Armstrong und Schlagzeuger Colin Brittain traten zwei neue Mitglieder hinzu, die das Klangbild erweiterten, ohne die DNA der Band zu verwässern. Musikalisch knüpfte From Zero an die Wucht von Hybrid Theory und Meteora an, verband aber auch elektronische und melodische Elemente der späteren Jahre. Kritiker sprachen von einer „Rückkehr zu den Wurzeln mit frischem Atem“. Die Fans nahmen das Album begeistert auf, es eroberte internationale Charts und brachte die Diskussion zurück, wie Linkin Park in neuer Besetzung ihr Vermächtnis mit zeitgenössischer Relevanz verbinden können.
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Meine eigene Geschichte mit Linkin Park geht auf die Zeit nach Meteora zurück. Ich erinnere mich noch daran, um 2004 eine CD mit Songs gehabt zu haben (natürlich Original und nicht gebrannt, mit krakeligem Fineliner beschriftet). Ich habe immer wieder gerne Songs der Band in meiner Playlist gehabt, aber ich war nie ein echter Fan in dem Sinne dass ich ganze Alben gehört oder die Band auf einem sonderlich hervorgehobenen Platz gehabt hätte. Sie kam erst wieder mit den Soundtracks der Transformer-Filme auf meinen Radar, als Songs wie "What I've Done" oder "Castle of Glass" (mit der grausigen Medal-of-Honor-Kooperation, die mit ihrer jingoistischen Message für mich einen moralischen Tiefpunkt der Band darstellt) regelmäßig mein Zimmer beschallten. Der Tod Chester Benningtons registrierte für mich nicht als großer Einschnitt; zu gering war meine emotionale Bindung.
Das änderte sich erst 2023/24. Ich hatte in den Jahren zuvor vor allem durch meinen Unterricht, in dem ich Popsongs als Mittel genutzt hatte, um Lyrik etwas schüler*innennäher zu präsentieren, selbst wesentlich genauer auf Songtexte zu achten begann. Aber vor allem seit ich begonnen hatte, Spaß an Karaoke zu finden und daher mehr auf Texte achtete, änderte sich mein Zugang zu Musik. Als dann die Nachricht kam, dass Linkin Park mit einer neuen Lead-Sängerin zurückkommen würde, war mein Interesse geweckt. Als ich "The Emptiness Machine" gehört hatte, war ich begeistert. Von da an grub ich mich in die Discography und begann auch, die Geschichte der Band etwas näher zu untersuchen. Da lag es nahe, ein Buch zu lesen.
Bücher wie dieses sind natürlich nie kritische Werke. Sie werden von Fans geschrieben, und die Nähe zu der Band - Lipshutz ist als Chartautor naturgemäß im Gewerbe verankert - sorgt auch nicht eben dafür, dass da eine analytische Distanz entstehen würde. Aber das ist für das Genre auch nicht nötig und auch nicht das, was man von solchen Werken will; zumindest wollte ich das nicht. Ich wollte Informationen zur Band und den Songs, die mir helfen, das ganze Oevre besser wertschätzen zu können.
Und das gelingt Lipshutz hervorragend. Neben den biografischen Erklärungen vor allem zu Chester Bennington und Mike Shinoda (der Rest der Band kommt wie so oft in der Außenwahrnehmung deutlich kürzer) nimmt der kreative Prozess bei der Erstellung der Songs viel Raum ein. Lipshutz geht über die anstrengenden und oft frustrierenden kreativen Prozesse nicht schnell hinweg, sondern macht sie zum zentralen Gegenstand des Buchs. Auch die Wechselwirkung mit den Plattenlabels und verschiedenen Produzenten, die Frustrationen mit den Anforderungen und Limitationen des Gewerbes und auch der Öffentlichkeit, die Linkin Park in ihren Songs ja auch verarbeiten, wird ausführlich gewürdigt. Weggefährt*innen und Kooperationspartner*innen der Band kommen in kurzen Einschüben auch immer wieder zu Wort und sorgen so für einen multiperspektivischen Zugang.
Das Buch ist natürlich nur dann interessant, wenn man sich wirklich für die Band interessiert und die ganzen Hintergrunddetails haben will. Das Hörbuch, auf dem diese Rezension fußt, ist immerhin fast 12 Stunden lang. Aber für mich hat es genau das gegeben, was ich gesucht habe, und hat neben meiner ohnehin vorhandenen Wertschätzung und Freude an Linkin Park, die zu meinen Top-3-Bands gehören, auch meine Wertschätzung für andere Genres und ihre bislang von mir weniger geliebten Titel vertieft. Wer also zu den Sounds auch sofort mit dem Kopf zu nicken anfängt und Chesters Stimme im Ohr hat, dem sei das Buch sehr ans Herz gelegt.
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