Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Als Christopher Bayly 2004 sein Mammutwerk "Die Geburt der Modernen Welt: Eine Globalgeschichte von 1790 bis 1914" vorlegte, rief er damit ein großes Echo hervor. Die Idee einer Globalgeschichte selbst war für viele Jahrzehnte in der Geschichtswissenschaft außer Mode gekommen und in einer unseriösen Ecke verschwunden, nicht ganz bei kontrafaktischer Geschichtsschreibung, aber doch sehr nahe dran. Bayly allerdings ging mit solcher Sachkenntnis und methodischer Qualität vor, dass sein Werk kaum ignoriert werden konnte und viel diskutiert wurde. Ich habe es seinerzeit gelesen, aber ich muss zugeben, dass es mich damals überforderte. Seither steht es bei mir im Regal und verlangt vorwurfsvoll, noch einmal gelesen zu werden. Dieses Unterfangen ist mit dem Erscheinen von Jürgen Osterhammels ebenfalls nicht unbedingt schlanken Wälzer "Die Verwandlung der Welt" nicht eben nähergerückt. Denn Osterhammel hat 2020 sozusagen seine persönliche Antwort auf Bayly vorgelegt.
Von diesem grenzt er sich im Vorwort auch ab, in dem er auch die Unternehmung der Globalgeschichte selbst verteidigt. Jeder Historiker, jede Historikerin muss zwangsläufig an Grenzen stoßen, wenn ein solch umfrangreiches Werk unternommen wird. Keine Person kann je in einer solchen Tiefe Fachkenntnisse für alle Weltbereiche haben, um spezialisierteren Historiker*innen das Wasser reichen zu können; solche Werke werden daher immer eine Synthese bleiben müssen, deren Qualität in der Fähigkeit der jeweiligen Geschichtswissenschaftler*innen liegt, die Wissensbestände zusammenzuführen und zu vergleichen. In seinem Vorwort grenzt sich Osterhammel vor allem im Fokus von Bayly ab: er sieht sich als klassischer, da er die Rolle für Europas für das 19. Jahrhundert mehr betont als Bayly, und stellt bei außereuropäischen Schauplätzen China mehr ins Zentrum als Bayly, der vor allem von Indien ausging. Das ist hauptsächlich Produkt der jeweiligen Spezialgebiete. Zudem sieht Osterhammel den Ersten Weltkrieg weniger als sein Vorgänger als harten Bruch.
Mit diesem Vorwort beginnt Osterhammel in Kapitel 1 seine Betrachtung des 19. Jahrhunderts, indem er den Blick darauf wendet, wie es sich selbst sieht. So zeigt er etwa auf, dass die Oper - eine Kunstform, die in der Neuzeit in Europa wie in Asien (Pekinger Oper) gleichzeitig erfunden wurde - im 19. Jahrhundert ihre absolute Blüte erlebt. Bereits hier zeigt sich der Fokus auf China. Dieses empfindet das 19. Jahrhundert (nicht zu Unrecht) als Jahrhundert der Schmach und des Niedergangs; die Pekinger Oper ist deswegen heute praktisch verschwunden, während die westlichen Staaten diese Kunstform weiterhin großzügig subventionieren und am Leben halten (die etwas despektierliche Beschreibung dieses Subventionsvorgangs ist meine, nicht Osterhammels).
Auch das Erinnern in historiographischen Dimensionen selbst begann Anfang des 19. Jahrhunderts, indem die europäischen Staaten begannen, Archive einzurichten - etwas, das China bis in die 1930er Jahre nicht tun würde, weswegen die Quellenlage dort auch wesentlich schlechter ist. Dasselbe gilt für die Einrichtung von Bibliotheken, für die es etwa in Asien auch keinerlei Tradition gab und die in Europa und den USA vor allem als privat finanzierte Initiative mit hohen Repräsentationsansprüchen begannen, und ebenso für Museen. All diese Formen der Verewigung und Erinnerung wurden im 19. Jahrhundert in Europa und den USA begründet.
Besonders relevant war auch die Einführung der Statistik: beginnend von Europa, von den Kolonisierern aber auch in andere Erdteile getragen, wurde alles mögliche vermessen und wurden erstmals brauchbare Volkszählungen durchgeführt. Die Zählung hatte allerlei Nebeneffekte, denn das Zählen schuf einerseits staatliche Zugriffsgebiete, die vorher unbekannt gewesen waren, und schuf Klassen, wo vorher keine existierten (das indische Kastenwesen ist das augenfälligste Beispiel dafür). Auch andere Kategorien entstanden erst durch die staatliche Zählung; Osterhammel nennt "Armut", die überhaupt erst durch die Messung bekannt wurde und dann als moralische Kategorie Handlungsdruck erzeugte.
Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Zeitungen. Das Musterland waren hier die USA, wo die Pressefreiheit bereits das ganze Jahrhundert hindurch einen beständigen Siegeszug antrat. Demgegenüber hing Großbritannien deutlich hinterher, während für Deutschland oder Frankreich erst ab den 1890er Jahren eine Pressefreiheit, die ihren Namen wert war, begann, während Russland nie eine hatte. Osterhammel verwahrt sich daher gegenüber der Idee, dass die Pressefreiheit ein europäisches Charakteristikum sei. In Asien und Afrika indessen gelangten Druckerpresse und Zeitungen häufig zeitgleich ins Land und lösten dort unter den gebildeten Eliten eine Revolution aus, wo es nicht bereits eine Tradition von Druckerzeugnissen gab, wie etwa in China oder Indien. Im späteren 19. Jahrhundert begann auch der Aufstieg der billigen Massenblätter, mitsamt der Erfindung des Boulevards (in Großbritannien ironischerweise sehr spät, dafür dann aber mit umso mehr Wucht).
Eine gänzlich neue Technologie war die Fotografie. Sie trat im 19. Jahrhundert ihren Siegeszug an; erstaunlicherweise, wie Osterhammel feststellt, vor allem in den USA und Europa. Der Rest der Welt, geführt vom Osmanischen Reich, adaptierte die neue Technik erst sehr viel später. Fotos veränderten den kompletten Blick auf die Welt. Nicht nur ermöglichten sie akkurate Selbstdarstellungen - zunehmend auch für die Mittel- und später die Unterschicht -, sie schufen auch neue Wahrnehmungen. So entzauberten Darstellungen des Elends den "Orient" oder schufen überhaupt erst ein Bewusstsein für die "soziale Frage", das ohne Fotos kaum denkbar wäre. Eine Randnotiz dagegen ist der Film. Überraschend ist vor allem, dass er von Anfang an "serienreif" und anders als die Fotografie nicht Jahrzehnte zur Durchsetzun brauchte, sondern quasi ab Erfindung zu Kinos führte.
In Kapitel 2 unternimmt Osterhammel eine historiograpghische Verortung des 19. Jahrhunderts. Denn eine Epoche an Jahreszahlen festzumachen, ist ja kein natürlicher Prozess, es ist eine intellektuelle Konstruktion, die erst vor kurzer Zeit begann und vor allem außerhalb Europas häufig erst im 20. Jahrhundert vorgenommen wurde - was unsere Quellenlage bis heute maßgeblich beeinflusst. Osterhammel wendet sich gegen eine genaue Datierung des 19. Jahrhunderts und versucht, Dynamiken nachzuzeichnen - je nach Themengebiet beginnt oder endet das 19. Jahrhundert demnach früher oder später, und so oder so handelt es sich mehr um Übergänge als um Brüche, selbst bei Revolutionen und Erstem Weltkrieg. Deswegen fällt es auch schwer, eine Art politischen Beginn zu markieren: die französische Revolution etwa berührt die wenigsten Weltgegenden.
Osterhammel legt besonderes Augenmerk auf den "fin de siecle", jene Epoche kurz vor Ende des 19. und nach Beginn des 20. Jahrhunderts, für die er exemplarisch einige Beispiele bringt. Anhand dieser Beispiele spricht er von Überlappungen von Brüchen: dort, wo viele Brüche auf vielen Themenfeldern sich konzentrieren, kann man sinnvoll von einem Epochenbruch sprechen; das Jahrhundert selbst ist nur eine ziemlich schlechte Krücke.
Ebenso spannend ist die Frage der Zeitmessung. Im 19. Jahrhundert wurde einerseits durch Anwendungspraxis - etwa bei den Eisenbahngesellschaften - und andererseits durch internationale Abkommen die Einteilung der Welt in Zeitzonen vorgenommen. Es dauerte zwar Jahrzehnte, bis sich der neue Standard durchsetzte (Frankreich etwa weigerte sich lange, Greenwich anzuerkennen), was Osterhammel in einen gleichzeitigen Prozess der Nationalisierung - bis spät ins 19. Jahrhundert galten in Städten noch unterschiedliche Zeiten - und der Globalisierung - der Anpassung der Zeiten in Zeitzonen - beschreibt. Diese Prozesse liefen nicht parallel. So nationalisierte Frankreich zwar seine Zeit (und richtete sie, natürlich, an Paris aus), aber globalisierte sie nicht, so dass die Uhren in Frankreich immer ca. neun Minuten hinter der restlichen Zeitzone liefen, bis das Land sich 1911 endlich zur Angleichung an den GMT-Standard durchrang.
Doch Zeiten spielen nur eine Rolle, wenn man sie auch messen kann. Entsprechend fand das 19. Jahrhundert auch eine Verbreitung von immer genaueren und, vor allem, billigeren Uhren. Diese Erfindung breitete sich weltweit aus, viel stärker als viele industrielle Produkte. Osterhammel erklärt, dass zahlreiche Weltregionen nie eine Dampfmaschine sahen, wohl aber Uhren, weswegen man behaupten kann, dass es in globalem Maßstab die einschneidenste Erfindung der Industriellen Revolution war.
In Kapitel 3 verortet Osterhammel das 19. Jahrhundert dann im Raum. Auf den ersten Blick mag es ein wenig widersinnig erscheinen, die Frage zu stellen, wo das 19. Jahrhundert stattfand. Aber bereits seine anfängliche Diskussion der Tatsache, dass Raum außerhalb der Mathematik nicht abstrakt denkbar ist, zeigt, in welche Richtung er geht. Das 19. Jahrhundert war auch eine Zeit der Raummessung: die Geografie entstand als eigene Wissenschaft, und ihre europäische Prägung bedeutete die Benennung und Beansprachung großer Räume durch die europäischen Geografen.
Europa selbst wurde im 19. Jahrhundert vor allem als konkurrierende Großmächte gesehen. Kleine Staaten waren eher Unruheherde oder "im Weg". Ein gemeinsames Europagefühl will Osterhammel nicht erkennen. Umtritten war auch - damals wie heute - die Frage, wer dazugehört. Das betrifft besonders Russland, das im 19. Jahrhundert durch den Autoritarismus Nikolaus I. und seine Wendung nach Sibirien eher eine Absetzbewegung von Europa vollführte, als auch der "Türkei in Europa" in Frage ihrer Balkanbesitzungen.
Die Flut von Vermessungen war ein europäisches Phänomen. Japan wie China taten sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein sehr schwer mit der Kartografie und wussten nur sehr wenig über die Welt - und oft genug selbst über ihr unmittelbares Umfeld. Demgegenüber war der "Mittelmeerraum" einer, der immerhin integriert genug war, um sich selbst als übergreifende Einheit zu begreifen; seine Bedeutung nahm besonders mit der Vollendung des Suez-Kanals massiv zu. Anders gelagert war der Pazifik: er wandelte sich erst im 19. Jahrhundert zu einem wirklich aktiven Raum. Der Atlantik dagegen war seit mehreren Jahrhunderten viel befahren und vermessen und verband Europa und Nordamerika auf eine Weise, die der Pazifik für die USA und Ostasien bis weit ins 20. Jahrhundert nicht erreichte.
Diese Fortschritte in der Landvermessung ermöglichten auch eine staatliche Beanspruchung des Raumes (über Kataster), die vorher undenkbar war (allerdings auch wegen der feudalen Regierungssysteme). Nur für China und die USA sieht Osterhammel eine vergleichbare Landnahme (in den Provinzen beziehungsweise dem Gridsystem) auch schon vorher. Generell hebt Osterhammel in diesem Kapitel die Bedeutung der Vermessung der Welt für die staatliche Kontrolle hervor, sowohl in den eigenen Gebieten als auch in den Bereichen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu Kolonien werden würden.
Weiter geht's in Teil 2.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: