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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Auf einer gänzlich anderen Ebene verlief ein anderes Strukturmerkmal des 19. Jahrhunderts: die Abschaffung der Sklaverei. Beginnend im britischen Weltreich baute sie entgegen späterer Annahmen nicht auf den Ideen von Adam Smith, dass die Sklaverei wirtschaftlich der freien Lohnarbeit umzulegen sei. Das ist erwiesenermaßen nicht der Fall. Stattdessen war es die Schaffung eines neuen moralischen Bewusstseins und eines massiven moralischen Drucks einer Minderheit, die über einen jahrelangen Prozess ihre moralischen Vorstellungen mehrheitsfähig machte. Als die britische Regierung den Sklavenhandel abschaffte, tat sie dies also nicht aus ökonomischen, sondern moralischen Motiven. Die Royal Navy unterlegte diesen Moralismus mit einer handfesten Komponente und verhinderte durch ihre Politik der Überprüfungen von Schiffen auch von Drittnationen, dass das Vakuum wieder geschlossen werden konnte, dass durch das Ausscheiden der britischen Händler entstanden war.
Frankreich dagegen tat sich schwerer. Es unterwarf sich aus machtpolitischen Motiven offiziell dem britischen Regime, unterlief dies jedoch wo immer möglich. Erst mit ironischer Weise dem reaktionärsten französischen Monarchen, Karl X., bewegte sich das Land ab den 1820er Jahren langsam auf die Abolition zu, die 1848 gesetzt wurde. Noch später war die Abschaffung in Brasilien, das als letztes Land der westlichen Hemisphäre 1888 die Sklaverei für illegal erklärte, nach dem sie in einem jahrelangen Prozess wirtschaftlich irrelevanter geworden war und so die Widerstände gegen ihre Abschaffung abgeschliffen waren. Ein ähnlicher Prozess hätte möglicherweise auch in den Vereinigten Staaten stattgefunden, hätten die Südstaaten nicht auf so aggressive Art und Weise dem Norden ihr eigenes Normensystem aufzwängen wollen. Nur in den USA lebten Sklavenhalter und Sklaven nebeneinander, weswegen die Sklaverei für das Selbstverständnis der Südstaatler elementar war. Spiegelbildlich radikal war der Abolitionismus der Aktivisten, die sich ausschließlich im Norden fanden, dort allerdings eine Minderheit darstellen. Es war letztlich die Radikalität des Südens, die das Land in den Bürgerkrieg und Lincoln zur Abschaffung der Sklaverei trieb.
Wesentlich schwerer als ihre Abschaffung war die Überwindung der Strukturen der Sklaverei. In den USA und Südafrika führte sie zur Einrichtung eines umso schärferen rassistischen Regimes, dessen oberstes Ziel die Diskriminierung der vorher versklavten Bevölkerung war. Zusammen mit Nazi-Deutschland bildeten diese beiden Staaten die einzigen, die offiziell auf Rassismus gegründete Staatswesen und Rechtswesen kannten. Rassistische Strömungen waren zwar zahlreichen anderen Staaten auch nicht fremd, fanden dort aber keinen so radikalen und kodifizierten Niederschlag. Das 19. Jahrhundert war bedauerlicherweise auch das Jahrhundert der Erfindungen des Rassismus. Ab ungefähr 1860 wie kann vor allem in Europa und Amerika, letztlich aber weltweit ein radikaler Rassismus hoffähig zu werden, wie er vorher und nachher undenkbar war. Osterhammel setzt den Endpunkt dieser Entwicklung ins Jahr 1960, als die rassistischen Strukturen in den USA fielen und ihre Aufrechterhaltung in der Öffentlichkeit zunehmend unhaltbar wurde, auch wenn es in Südafrika bis zur Abschaffung der Apartheid noch bis 1994 dauern sollte.
In anderen Regionen fand sich ein solcher Rassismus nicht. Die Briten sprangen in osterhammel Erzählung auf den kontinentaleuropäischen Rassismuszug unter anderem deswegen nicht so begeistert auf, weil ihnen die Vorstellung, als Teil der arischen Rasse irgendetwas mit ihren indischen Untertanen gemeinsam zu haben, unerträglich war. In China dagegen besaß man zwar eine tief verwurzelte Ablehnung gegenüber „barbarischen“ Ausländern, begründete diese aber kulturell und nicht rassistisch. Zudem hatte das Land anders als etwa die USA durch den Verlust seiner Souveränität keine Möglichkeit, Ausländer aus dem Land zu halten.
Der bösartige Cousin des Rassismus ist selbstverständlich der Antisemitismus. Er war bereits jahrhundertealt, als er im späten 19. Jahrhundert durch den Rassismus ergänzt wurde. Zwar breitete er sich in diesen Jahrzehnten deutlich aus - wohl auch als Reaktion auf die Judenemanzipation im früheren 19. Jahrhundert, eine auffällige Parallele zum Aufstieg von Jim Crow als Reaktion auf die Abschaffung der Sklaverei in den USA -, tat dies allerdings nicht zeitlich und räumlich einheitlich. Der gefährlichste Ort für Juden bis weit ins 20. Jahrhundert war das westliche Zarenreich beziehungsweise Osteuropa. Auch Frankreich kannte einen aggressiven Antisemitismus, wie er sich etwa in der Dreyfus-Affäre Bahn brach. Dass ausgerechnet in Deutschland die tödlichste, exterminatorische Form des Antisemitismus entstehen würde, war im 19. Jahrhundert noch nicht absehbar.
Die Problematik von Kapitel 18, „Religion“, beginnt bereits bei der Definition dessen, was Religion eigentlich ist. Ja Generationen von Wissenschaftler*innen haben sich darüber den Kopf zerbrochen und sind zu keinem vernünftigen Konzept gekommen. Ein Problem ist etwa, dass hinter dem Begriff Religion häufig ein europäisches beziehungsweise westliches Verständnis von Glauben steckt, das sich nur schwer auf andere Erdteile übertragen lässt. Bis heute etwa hält sich das Konzept der Weltreligionen, mit dem die Länder der Welt quasi religiös kartographiert werden sollen und in dem alle nicht monotheistischen und nicht organisierten Religionen oftmals als Naturreligionen verbrämt werden.
Das 19. Jahrhundert war davon unbenommen eine Zeit, in der revolutionär der Atheismus vorangetrieben wurde. Gerade in Frankreich litt die Rolle der organisierten Religion stark unter den Nachwirkungen der Französischen Revolution. Auch in anderen Teilen Europas nahmen zumindest die äußeren Formen großer Frömmigkeit wie regelmäßige Gottesdienstbesuche und einen befolgen liturgischer Feiertage immer weiter ab. Dieses Phänomen war jedoch nicht einheitlich. So stellten etwa die USA einen deutlichen Gegenpart dar, wo eine organisierte Religion, noch dazu eine staatlich verfasste, ohnehin nicht existierten und die verschiedenen Revivalbewegungen immer neue Wellen religiöser Frömmigkeit in zahlreichen Formen hervorbrachten. Diese Toleranz und Pluralismus zumindest innerhalb des Christentums war nicht allein auf die USA beschränkt, wenngleich sie dort ihren Höhepunkt fand. Im 19. Jahrhundert nahm die Toleranz generell zu.
Einen strukturellen Sonderweg beschritten die Länder Westeuropas darin, die Religion direkt mit dem Nationalismus zu verknüpfen und auf diese Art und Weise Staatsreligionen zu schaffen, die direkt mit der Nation verbunden waren. Die orthodoxe Kirche Russlands etwa war genauso wenig auf diese Art angebunden wie die zahllosen Sekten Amerikas. In Asien fand sich dieses Muster nur in Japan, das einmal mehr ein Musterschüler Europas war: der Shintoismus wurde zu einer künstlichen, geradezu orthopraktischen Staatsreligion und verdrängte den Buddhismus durchorganisierte Religionspolitik. Der Kontrast zu China, wo Religion und Staat klar getrennt waren, könnte größer nicht sein.
Gerade in Europa fällt zudem die Rolle der organisierten Religionen als Gegner des Fortschritts und der Modernisierung auf. Ganz besonders die katholische Kirche, die bis 1929 noch das Amt des Großinquisitors besetzte und mit der Stärkung des Papsttums stark zentralisierende Tendenzen aufwies, sticht hier hervor, aber auch die protestantischen Landeskirchen waren nicht eben Bannerträger des Fortschritts.
Es ist hier auffällig, dass die Imperien notwendigerweise einen lockeren Ansatz in Richtung Pluralismus und Toleranz aufweisen mussten als die homogeneren Nationalstaaten. Queen Victoria etwa beherrschte mehr Muslime UND mehr Hindus als jeder andere Herrscher des 19. Jahrhunderts. Die französischen Regierungen hatten Millionen buddhistischer Untertanen. Umgekehrt erlebte der Islam im Osmanischen Reich eine immer stärkere und immer zentralere Rolle, weil der Verlust der Territorien in Europa und in Teilen Nordafrikas und des Mittleren Ostens zu dem Verlust genau derjenigen Bevölkerungsteile führte, die nicht muslimisch waren. Dementsprechend gab es immer weniger Notwendigkeit für die Hohe Pforte, sich in Toleranz gegenüber anderen Gruppen zu üben und sie zu integrieren.
Ein Element des 19. Jahrhunderts war auch das Missionarswesen. Nie zuvor hatten so viele Missionare versucht, ihren Glauben in alle Welt zu verbreiten. Ihr Verhältnis zu den Imperien, in deren Fahrwasser sie üblicherweise in die Welt hinaus kamen, ist dabei ambivalent. Sie waren häufig nicht in die jeweilige Kolonialgesellschaft integriert und nur dann gern gesehen, wenn sie Entwicklungsaufgaben im Sinne der Kolonialmacht erfüllten. Durch ihre globale, nationale Grenzen durchbrechende Mission standen sie den nationalstaatlichen Zielen der Kolonialmächte häufig entgegen oder identifizierten sich zumindest nicht mit ihnen. Sie waren zudem international angelegt; in China etwa waren mehr als 10% aller tätigen Missionare keine Briten und hatten dementsprechend auch kein Interesse, der Kolonialmacht zu Diensten zu sein. Gleichwohl fällt auf, wie schlecht vorbereitet und qualifiziert die Missionare für ihre Aufgabe waren und mit welcher aus heutiger Sicht erschreckend paternalistischer und arroganter Attitüde sie sich an ihre Arbeit machten.
Ihre Bilanz fällt gemischt aus. In Indien und China etwa hatten sie praktisch keinen Erfolg; in Afrika dagegen gelang in weiten Teilen der Aufbau indigener Kirchen, die sich gleichwohl schnell von ihren jeweiligen Mutter Kirchen und -Religionen emanzipierten. Am erfolgreichsten waren Missionare, wo sie nicht als Gehilfen der Kolonialmacht auftraten. In jedem Fall waren sie disruptive Kräfte, die marginalisierte Bevölkerungsgruppen ansprachen, bestehende Hierarchien infragestellten (die Missionare waren etwa eifrige Befreier der Sklav*innen) und die Autorität bestehender Herrschaftsfiguren untergruben. Durch ihre Unkenntnis der traditionellen Gewohnheiten durchbrachen sie sämtliche Muster und stießen oft auf Unverständnis, das einer tiefen Unsicherheit über den Umgang mit ihnen Platz machte. Die Kehrseite dieser spezifischen Medaille waren manchmal gewalttätige Gegenreaktionen, die Märtyrer schaffen konnten, etwa in China während des Boxeraufstands.
Im 19. Jahrhundert gab es mehrere charismatische Religionsführer, denen die Bildung eigener Staaten gelang. Dazu gehören Muhammad Ali, Brigham Young, die Mahdi-Bewegung, die Geistertänzer oder Sayyid Shirazi. Gleichzeitig fand in vielen Bereichen und eine religiöse Modernisierung statt. So etwa gab es im 19. Jahrhundert eine islamische Modernisierungsbewegung, der jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden war (ein faszinierendes kontrafaktisches Szenario), während umgekehrt die christlichen Kirchen, vor allem die katholische, klar als Bremser und Blockierer und Gegner jeglicher Modernisierung auftraten. Gerade die katholische Kirche jedoch war die wohl globalste, der ausgerechnet und ihrem Rom effektiv nie verlassenen Papst Pius XI. eine weltweite Struktur mit einem ausgefeilten Kommunikationssystem und zentralistischer Lenkung entwickeln konnte.
Weiter geht es in Teil 13.
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