Teil 1 hier, Teil 2 hier.

Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts

Die Nahrungsaufnahme veränderte sich im 19. Jahrhundert aber auch jenseits des Verschwindens von Hungersnot. Während manche Einflüsse bereits abgeschlossen waren - etwa die Verbreitung von Erdnuss und Maniok in Afrika, der Kartoffel in Europa oder weißen Reis', Zuckers und Weizens in China - verbreiteten sich andere Ideen durch Einwanderung vor allem in den USA, von denen sie dann wieder ausstrahlten. Dazu gehörte auch das Restaurant, das im 19. Jahrhundert gleich mehrfach erfunden wurde (unter anderem, wenig überraschend, in Paris). Neue Technologie wie Kühlschiffe erlaubte völlig andere Konsumformen. Auch das Aufkommen von Warenhäusern gegen Ende des 19. Jahrhunderts globalisierte den Konsum zunehmend.

Zusammenfassend kommt Osterhammel für das Kapitel zu dem Schluss, dass Erfahrungen von Reichtum und Armut, Gesundheit und Krankheit im 19. Jahrhundert noch anders gelagert waren als heute. Reisbauern hätten andere Begriffe als Beduinen, und die andere als Industriearbeiter. Krankheiten indessen waren noch bei weitem nicht so sozial geschichtet wie heute und trafen klassenübergreifend alle.

In seinem sechsten Kapitel beschäftigt sich Osterhammel dann mit Städten. Die obligatorische Feststellung, dass es "die" Stadt nicht gibt (schon gar nicht in kulturellen Stereotypen), wird von der Globalisierung des Phänomens gefolgt. Regionen, die keine Städte kannten, wie Teile Afrikas (Äthiopien und Marokko), Asiens (Bhutan) oder Australien erhielten nun Städte, die als Zeichen von Zivilisiertheit gesehen wurden. Ebensolche zeichen war der Wandel des Baumaterials von Holz zu Stein. Sowohl die Entflammbarkeit als auch die Erschöpfung der Holzressourcen beschleunigten diesen kulturellen Wandel zusätzlich.

Das 19. Jahrhundert sah aber auch eine Entgrenzung der Stadt: die früher klare Trennung zwischen Stadt und Umland löste sich auf, und besonders in den USA verloren auch Stadtkerne ihre ordnende Funktion. Dazu kam, dass die Städte global zunehmend vernetzt waren und ein Weltstädtenetz bildeten. Dies korrespondierte mit ihrer steigenden ökonomischen Bedeutung: zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war die Stadt produktiver als das Land. Entsprechend verschoben sich die Eliten: die ländliche Elite wurde konservativer bis reaktionärer, während die neuen Eliten in den Städten zu finden waren.

Die Definition von "Stadt" und "Verstädterung" ist dabei schwieriger als man annehmen könnte. Weite Teile der Welt kannten gar keine Städte; in anderen war die Bevölkerungsdichte jahrhundertelang mit Europa vergleichbar. Das antike Rom sieht Osterhammel als Produkt sui generis. Auffällig ist, dass erst im 19. Jahrhundert eine Divergenz zu Ostasien einsetzte: in Westeuropa wuchsen die Städte rasant, und immer mehr Menschen wurden Städter. Die Ursachen sind nicht ganz eindeutig bestimmtbar; die Industrielle Revolution jedenfalls sieht Osterhammel nicht als Grund, denn die Städte waren überwiegend KEINE Zentren der Industrie. Vielmehr seien sie Zentren des Handels und der Dienstleistungen.

Im weiteren Verlauf beschreibt Osterhammel verschiedene Typen von Städten, etwa Hafenstädte, Minenstädte (die schnell wachsen und ebenso schnell wieder vergehen) und Hauptstädte, die Zentren administrativen Handelns waren (und sind). Einige dieser Städte entwickelten sich zu Megastädten und vernetzten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts global, wodurch der Typus der Weltstadt entstand (wenngleich für das 19. Jahrhundert nur London und New York diese Kategorie besetzen). Kolonialstädte auf der anderen Seite enthalten einen Stadtkern der Kolonialmacht, der aber je nach Entwicklung individuell aufgebaut sein kann und dienen häufig der Administration und Repression der Kolonie. Der letzte Stadttypus, den er hier bespricht, ist die imperiale Stadt, die die Peripherie dominiert und ein Zentrum des ganzen Reichs darstellt. Deutschland hatte nie eine solche, während Frankreichs Paris oder Großbritanniens London offensichtliche Archetypen darstellen.

Von dieser Typologisierung geht Osterhammel zu Merkmalen der Stadt über. Sein erstes Augenmerk gilt dem für Europa typischen Mauerwerk: im 19. Jahrhundert fallen überall die Stadtmauern, die ihren Sinn überkommen haben und nun nur die Stadtentwicklung hemmen (weswegen es sie etwa in Neugründungen und den ganzen USA überhaupt nicht gibt). Beibehalten werden Mauern nur, wo soziale Distinktion in konservativen Gegenden aufrechterhalten werden soll (etwa in Bern) oder wo Kolonialmächte ihre Enklaven schützen wollen.

Städtebauliche Veränderungen ergaben sich auch durch die Verkehrsrevolution. Die Eisenbahnen erforderten Gleise und Bahnhofsanlagen, die oft ohne große Planung gebaut wurden (wie Stadtplanung generell in vielen Ländern praktisch nicht stattfand; Deutschland war hier eine positive Ausnahme) und die Städte in Moloche verwandelten.

Im siebten Kapitel bewegt sich Osterhammel dann von den Städten zu ihrem Gegenteil: der Frontier. Damit bezeichnet er nicht nur die amerikanische Frontier, sondern generell Grenzregionen, die ungesichert und tendenziell gewalttätig waren. In diesem Kontext stellt etwa die Nordwestgrenze Britisch-Indiens eine Frontier dar, die Nordgrenze aber nicht, weil zwar beide sehr undefiniert und in unerschlossenem Gebiet lagen, aber nur im Nordwesten permanente Gewalt herrschte. Er verwendet dann einige Zeit auf die Betrachtung der US-Frontier, die als Sonderfall gesehen werden müsse. Die hervorragenden Katasterämter der USA sowie die Politik der Bundesregierung, neues Land für kleine Siedler*innen verfügbar zu machen, sorgten für eine solide mittelständische Erschließung des Landes, die Grundlage der amerikanischen Gesellschaft des Mittleren Westens werden würde.

Den Natives dürfte das nur ein geringer Trost gewesen sein. Spätestens ab den 1820er Jahren waren sie östlich des Misssissippi in einer unhaltbaren Position und wurden mit geradezu genozidaler Konsequenz (die sich auch in der Rhetorik der Beteiligten wie etwa Andrew Jackson zeigt) in den Westen abgedrängt, nur um von dort in den Folgejahrzehnten auch weiter vertrieben und in Reservate abgedrängt zu werden. Dabei half ihnen das Meistern eines Frontier-Lebensstils - nomadisch auf Pferden den Bisonherden folgend - auch nicht, die überhaupt erst durch die Entstehung der Frontier möglich war und nicht den "natürlichen" Lebenswandel der Natives vor Eintreffen der Europäer darstellte, sondern vielmehr eine Anpassung daran war.

In Argentinien derweil entstand mit den Gauchos der ursprüngliche "Cowboy", der aber den Mythos des US-Nachfolgers nicht erreichte und von der Regierung aggressiv bekämpft wurde, die die Pampa ähnlich der Prärie den Ureinwohnenden entriss, aber anders als die USA nicht richtig erschloss und stattdessen über Nepotismus an Großgrundbesitzer verschenkte, wodurch Argentinien nie die soziale Mobilität der USA entwickelte. In Brasilien dagegen wurde nur die Küste erschlossen; der Raubbau des Regenwalds und die Vertreibung der Indios ist eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts.

Größere Aufmerksamkeit gibt Osterhammel den "Frontiers" des Osmanischen Reichs, Chinas und Russlands. Das Osmanische Reich versuchte im 19. Jahrhundert, seine Ostgrenze zu befestigen, was vor allem eine Unterdrückung der Kurden bedeutete, die bis dato eine gewisse Autonomie bewahrt hatten. Anders als in den USA fand aber keine große Siedlerbewegung statt, weswegen der Konflikt nicht durch die dortige Dynamik erledigt wurde. Anders sah es in Russland und China aus. In Russland hatten im 18. Jahrhundert einige wenige Siedler den Weg nach Sibirien gefunden, ähnlich den Trappern in den USA, doch im 19. Jahrhundert folgte eine massive Einwanderungsbewegung und Erschließung des Landes, die die Lebensräume und Lebensweise der indigenen Bevölkerung völlig zerstörte. Genauso lief es in China, das endgültig die Mongolei unterwarf. In allen Bereichen - ob USA, Kurdistan, Mongolei, Xinjiang oder Sibirien - hatte die nomadische Lebensweise gegen das Vordringen der "Zivilisation" keine Chance. Nur in den USA und Australien allerdings wurden diese Gruppen so marginalisiert wie die Indianer; in allen anderen Frontierschließungsprozessen gelang es ihnen, wenigstens eine gündlegende Nützlichkeit für die Eroberer zu bewahren. Das sieht man etwa gut in Südafrika, wo die örtliche Bevölkerung weiterhin als Arbeitskräfte benötigt wurde und daher auf der niedrigsten Stufe der dortigen Gesellschaft eine Rolle innehatte. Man muss vorsichtig sein, die Zustände des 20. Jahrhunderts anzunehmen; die Apartheid begann erst mit der Unabhängigkeit des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.

Osterhammel wendet sich nun dem Siedlungskolonialismus zu. Nur in den USA und Australien führte dieser zu einer kompletten Verdrängung der indigenen Bevölkerung durch Neueinwandernde; in den anderen Frontiergebieten blieben die Sielder üblicherweise abhängig von den Bajonetten der Kolonialmacht, was diese Siedlungskolonien auch trotz ihres langen Bestehens stets prekär und revidierbar machte - Algerien ist hier ein gutes Beispiel.

Die Siedler waren für die Imperialmächte stets ein zweischneidiges Schwert. Einerseits leisteten sie unermessliche Dienste bei der Erschließung des Landes; andererseits waren sie schwer kontrollierbar und sorgten stets für Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung, mit der die Imperialmacht sich vielleicht lieber arrangiert hätte. Zudem zeichneten sie oft seperatistische Bestrebungen, die eine permanente Gewaltausübung (oder deren Drohung) in diesen Regionen bedeuteten.

Zuletzt spricht Osterhammel über die Natureroberung. Sichtbarstes Element im 19. Jahrhundert war der Raubbau an den Holzressourcen. Wälder wurden in den Frontierregionen massenhaft geschlagen; der Holzhunger der Epoche war unermesslich. Der Eisenbahnbau verschlang Unmengen an Holz, ebenso der Schiffsbau (mit ein Hauptgrund für den Wechsel zu eisernen Schiffen im 19. Jahrhundert: in Großbritannien war Eisen billiger als Holz!), und Holz blieb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hauptenergiequelle, bevor es von Kohle abgelöst wurde (Öl ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts).

Auch die Tierwelt blieb von dieser Natureroberung nicht unberührt. Die Großwildjagd etwa sorgte für die nahezuhe Ausrottung ganzer Arten. Sie stellte einen europäischen Import dar: die Tigerjagd etwa existierte vor Ankunft der Briten als aristokratisches Vergnügen nicht, wurde aber von der einheimischen Elite übernommen. Gleiches galt für das Ausstopfen der Tiere und die Verwertung von Trophäen. Was in Asien die Tiger waren, betraf in Afrika die Elefanten, deren Bestände dramatisch zurückgingen (ebenso wie die des Nashorns, das aber vor allem nach Asien exportiert wurde). Auf dem Meer geschah dasselbe mit den Walen. Diese wurden überhaupt erst nennenswert seit dem 18. Jahrhundert gejagt, und das 19. Jahrhundert sah eine riesige Industrie, die innerhalb kürzester Zeit die Tierart an den Rand der Ausrottung brachte. Dieses Kapitel kommt natürlich nicht ohne einen Bezug zu Moby Dick aus; die Zeit aber, in der die Wale auch nur eine minimale Chance gegen ihre Jäger hatten, endete rasch. Vermutlich wären die Wale bereits im 19. Jahrhundert ausgestorben, wenn nicht andere Technologien die Walprodukte schnell überflüssig gemacht hätten. Erst im 20. Jahrhundert begannen erste Ansätze zum Schutz der bedrohten Arten; für die Tiere war das 19. verheerender als das 20., das ganz andere Arten der Umweltzerstörung, aber eben auch mehr Sensibilität dafür mit sich bringen würde.

Weiter geht's in Teil 3.

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