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Jürgen Osterhammel - Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts
Osterhammel macht für den Westen im 19. Jahrhundert einen generellen Trend aus, den er als „Durchstaatlichung“ bezeichnet. Damit meinte er die Übernahme von immer mehr Aufgaben durch den Staat, der für die Erledigung dieser Aufgaben immer leistungsfähigere Verwaltungen aufstellen muss, die ihrerseits die Grundlage für die Übernahme neuer Aufgaben bilden können. Ein zentrales Element allerdings fehlt im 19. Jahrhundert und muss auf das 20. warten: ein modernes Steuersystem. Im 19. Jahrhundert blieb der Umfang des Staates trotz allem sehr begrenzt und diente vor allem der Aufstellung eines möglichst schlagkräftigen Militärs. Das Steuersystem diente der Finanzierung eben dieses Militärs und der Verwaltungsstrukturen, die hierfür notwendig waren. Steuern im Sinne von Steuerung und ihre planmäßige Erhebung was mit den heute bekannten Instrumenten gab es im 19. Jahrhundert effektiv nicht.
Beim Stichpunkt Militär zerstört Osterhammel den Mythos der angeblichen demokratischen Wehrpflicht: anders als oft behauptet, gibt es eine wirklich demokratische Wehrpflicht nicht etwa mit der levée en masse in der französischen Revolution, sondern erstmals Ende des Jahrhunderts in Deutschland (ich möchte an dieser Stelle auch auf Wilsons Magnum Opus zu deutschen Militärgeschichte verweisen, das ich hier rezensiert habe). üblicherweise zog das Militär im 19. Jahrhundert Rekruten aus der Peripherie ein und zwang diese überwiegend zu langen Dienstzeiten. Es herrschte eine klare Trennung von den Offizieren und zum Militär eingezogen zu werden bedeutete häufig ein Dauerschicksal für die Betroffenen. Gleichzeitig traf dieses Schicksal die Menschen im jeweiligen Land sehr unterschiedlich und eher willkürlich, keinesfalls aber demokratisch und egalitär.
Eine andere Entwicklung, die zum Machtgewinn des Staates gehört, war der Aufbau moderner Polizeien ab Mitte des 19 Jahrhunderts. Stilbildend war hierfür die französische Gendarmerie. Sie war im 19. Jahrhundert das modernste und am häufigsten als Vorbild gehandelte Polizeiwesen. Auffällig ist ebenfalls, welche Wechselwirkungen zwischen kolonialen Praktiken und der Polizeiarbeit zu Hause es gab (man Vergleiche hier einmal mehr mit Caroline Elkins (hier rezensiert)). die USA nahmen hier eine Sonderstellung ein, weil die Polizeigewalt dort stark fragmentiert und vor allem privatisiert war, eine Pfadentscheidung, die bis heute deutlich nachwirkt.
Auffällig ist für Osterhammel auch der deutliche Moralismus dieser zunehmenden Staatstätigkeit: Er steckt ein klare, moralisch legitimierte Erziehungsziele gegenüber der Bevölkerung dahinter, die gegebenenfalls brutal durchgesetzt wurden. Ein Musterbeispiel hierfür sind die Gefängnisreformen des 19. Jahrhunderts: das Gefängnis wandelte sich von einem Ort der Bestrafung, Folter und des Todes hinzu einem Ort der Resozialisierung, wo die auf Abwege geratenen Staatsbürger*innen zum rechten Lebensweg erzogen werden sollten. Die europäischen und amerikanischen Gefängnisse galten in vielen anderen an Modernisierung interessierten Ländern wie Japan als große Vorbilder - nichts, was heute noch Geltung haben würde.
Was demgegenüber in der Staatstätigkeit praktisch überhaupt nicht vorkam, war die Schaffung eines Sozialstaats. Auch dies war ein Phänomen des 20. Jahrhunderts; die Anfänge desselben im kaiserlichen Deutschland sollten davon nicht ablenken. Sie stellten bei weitem nicht den universalen Anspruch bereit, den wir heute mit sozialstaatlichen Leistungen verbinden.
Der Verweis auf die Vorbildwirkung all diese Reformen und Modernisierungen ist nicht aus der Luft gegriffen. Osterhammel postuliert einen Reformdruck an der Peripherie, die eine Wahrnehmung eigener Rückständigkeit besaß. So waren sich Staatsgebilde wie das Osmanische Reich oder das chinesische Kaiserreich ihrer relativen Rückständigkeit bei der modernen Staatsgestaltung schmerzhaft bewusst. Das Problem war, dass entsprechende Reformen ein Gefahrenpotenzial für interne Umstürze boten. Es waren nur sehr wenige Experten verfügbar, die solche Reformen umsetzen konnten, weswegen sie immer auch Zentralisierungsprozesse waren (wie man musterhaft ähm osmanischen Reich feststellen kann). Gleichzeitig ermöglichten allerdings die verschobenen Zeiträume der Modernisierungen einen gegenseitigen Lernprozess.
Ein allgemeingültiges Phänomen des 19. Jahrhunderts dagegen, egal ob an der Peripherie oder im Zentrum, war das Ende der Ideologie eines starken Staats. Anders als während des Absolutismus‘ galt ein starker Staat nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Gefahr. Zumindest auf dem Papier bekannten sich alle Staaten, die diese Art von Modernisierung nacheiferten, zu liberalen Werten und damit zu einer Einhegung staatlicher Gewalt.
Der mit der Modernisierung verbundene Machtgewinn - ein zentrales Motiv all derjenigen Komma die sie anstrebten - geriet in Verbindung mit dem Imperialismus zum Nullsummenspiel: alle diejenigen, die darin scheiterten, diese Modernisierung durchzuführen, vielen in den Einflussbereich derjenigen, denen es gelang. Der Nationalismus, die beherrschende Ideologie des 19. Jahrhunderts, war für diese Verlierer der Modernisierung ein defensiver Schachzug, der es ihnen ermöglichte, Abwehrkräfte für einen asymmetrischen Verteidigungskampf zu mobilisieren. Obwohl um die Jahrhundertwende überall über nationale Identität diskutiert wurde, gab es keinen Staat und kein Reich weltweit, das eine farbenblinde Staatsbürgerschaft auf dem Plan gehabt hätte. Die Gleichheit aller Bürger und schon gar nicht die Gleichheit aller Bürger*innen vor dem Gesetz ist ebenfalls eine Idee des 20. Jahrhunderts - und wenn wir ehrlich sind eine, die ihre Erfüllung immer noch harrt.
Damit beginnt der letzte Abschnitt des Buches, der mit dem umfassenden Titel "Themen" überschrieben ist.
Das erste davon wird in Kapitel 12, "Energie und Industrie", behandelt. Osterhammel befasst sich hier mit den verschiedenen Kontroversen um den Begriff der Industrialisierung. Vorrangig geht es um die Frage, ob es eine Art Urknall der Industrialisierung (natürlich in England) gibt oder ob es stattdessen nur Teil einer viel längeren, mindestens bis in die Frühe Neuzeit zurückreichenden Entwicklung ist. Diese Frage ist gar nicht so abwegig, wie sie scheint. Die Wachstumsraten während der Phase, die wir im Allgemeinen als industrielle Revolution identifizieren, waren relativ gering. Es ist der zeitliche Abstand, der es uns ermöglicht, hier von rasanten Entwicklungen auszugehen. Weitere Forschungsfragen sind die Verbindung von quantitativen und qualitativen Aspekten der Analyse und das weitgehende Fehlen einer Meistererzählung zur industriellen Revolution, die alte Frage, warum sie ausgerechnet in Europa stattfand und schließlich die ebenfalls nicht nur akademische Fragestellung, ob sie sich musterhaft weltweit wiederholte oder ob jedes Land seinen eigenen Weg ging.
Im Folgenden stellt Osterhammel einige der wichtigsten Theorien zur Industrialisierung vor (Marx, Kandrat'ev, Polyanyi, Rostow, Gerschenkorn, Bairoch, Landes, North/Thomas). Es ist auffällig, dass diese Auflistung effektiv in den 1970er Jahren endet. Dies liegt laut Osterhammel daran, das seither praktisch keine neuen Theorien zu industriellen Revolutionen mehr aufgestellt wurden; sie sei gewissermaßen „austheorisiert“.
Nach dieser theoretischen Grundlagenarbeit geht es zurück zur englischen industriellen Revolution. Für Osterhammel fällt ohnehin nur der Zeitraum zwischen 1750 und 1850 in Großbritannien unter diesen Begriff; alles andere will er lieber mit „Industrialisierung“ umgeschrieben wissen. Die vielen Faktoren, die für den Beginn der Industriellen Revolution in Großbritannien relevant und ausschlaggebend waren, sind den meisten wohl noch aus dem Geschichtsunterricht geläufig. Osterhammel konzentriert sich auf drei: die in Europa einzigartige Binnennachfrage durch eine Frühform des Konsumentenmarkts; intensiver Überseehandel dank einer beherrschenden Stellung auf den Weltmeeren; und zuletzt die Annäherung der Milieus von Theoretikern (also Wissenschaftlern verschiedener Couleur) und Praktikern (Handwerkern und Unternehmern).
Für den Prozess der Industrialisierung schlägt er gleich ein ganz alternatives Konzept vor, das der so genannten „Industrious Revolution“, also einer „Revolution des Fleißes“. Möglicherweise waren die Briten Ende des 18. Jahrhunderts auch schlicht das fleißigste Volk der Welt; die Anklänge an Max Weber und seine protestantische Arbeitsethik sind unüberhörbar.
Das Bild ist verkompliziert sich aber weiter durch zahlreiche Kontinuitäten zur frühen Neuzeit. Die Fragestellung hier lautet, ob es eine Protoindustrialisierung gab. Das Problem an der Sache ist, dass sich solche Kontinuitäten zwar für die meisten sich industrialisierenden Länder nachweisen lassen, in denen die Bauern Nebentätigkeiten in der Industrie übernahmen und so graduell eine Industrialisierung vonstattenging. aber gerade in Großbritannien geschah das nicht. Dazu kommt, das ist Wachstumstrends in Höhe der industriellen Revolution - wir sprechen von etwa 2% Wachstum im Jahr - bereits vorher gegeben hatte; neu war „lediglich“ die Dauer dieser Wachstumsentwicklung. Der wirtschaftliche Normalfall bisher waren Phasen des Wachstums und der Kontraktion in stetigem Wechsel gewesen. In jedem Falle allerdings blieb die sogenannte Industrialisierung ein Phänomen einzelner Branchen und Regionen; die größten Teile der betroffenen Länder blieben noch lange Zeit rückständig.
Umso auffälliger ist auch, dass gerade Großbritannien sehr lange brauchte, um institutionelle Bremsen zu entfernen, die in anderen Ländern zu einer wesentlich schnelleren Industrialisierung führen würden. Was dem Land letztlich half war sein großer zeitlicher Vorsprung. Osterhammel verwirft deswegen an dieser Stelle auch endgültig die Metapher vom sogenannten „take-off“, wie er bedauerlicherweise heute noch in den Bildungsplänen der Schulen zu finden ist. Der Wert eines zeitlichen Vorsprungs sollte nicht überschätzt werden: Innovationen, beispielsweise die Dampfmaschine, verbreiteten sich sehr, sehr schnell. eine der institutionellen Bremsen, die sich in allen Ländern feststellen lässt, ist im Übrigen die Landreform. Nur wo eine solche nachhaltig durchgeführt wurde, also die Bauern befreit wurden, entstand das Proletariat, das für die Industrialisierung so notwendig war.
Osterhammel verwirft sogar den Begriff der industriellen Revolution weitgehend, weil er die industrielle Produktion als gerade nicht revolutionär betrachtet, da sie bestehende Produktionssysteme erhielt und integrierte. Der Wandel hinzu dem, was wir als industrialisierte Wirtschaft betrachten, war sehr langfristig und graduell. Viel bedeutender als die erste industrielle Revolution mit ihren Dampfmaschinen und dem Abbau von Kohle war die sogenannte zweite Industrielle Revolution mit ihrem Fokus auf Stahl, Chemie und Elektrizität. Diese Technologien verbreiteten sich anders als die der ersten industriellen Revolution quasi sofort über den gesamten Erdball. Dabei half auch eine weitere Revolution, die wirtschaftliche Revolution, nämlich die Erfindung des multinationalen Konzerns gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Das große ungelöste Rätsel der Industrialisierungszeit bleibt die sogenannte „große Gabelung“ (great divergence) zwischen Europa und Asien im 19. Jahrhundert. Beide waren um 1800 wirtschaftlich sehr ähnlich entwickelt, divergierten dann aber drastisch. Osterhammel postuliert, dass das starke Wachstum in China und in etwas abgeschwächter Maße den meisten anderen Ländern Südostasiens im Endeffekt das Schließen diese Gabel bedeutet und letztlich als eine Art Abschlusspunkt eine fast 200jährigen Trennung gesehen werden muss. China und Indien seien daher nicht Phänomene einer globalisierten Wirtschaft, wieso oft behauptet wird, sondern vielmehr Produkte einer Industrialisierung.
Weiter geht's in Teil 9.
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