Karl J. Mayer - Napoleons Soldaten. Alltag in der Grande Armée (Hörbuch)
Die napoleonischen Kriege wirken bis heute nach. Waterloo ist geradezu sprichwörtlich für eine entscheidende Niederlage, den Ort, an dem sich letzte Hoffnungen verlieren und man durch und durch geschlagen wird. Napoleon selbst ist eine Ikone; ob auf einem Pferd in Feldherrenpose bei Überquerung der Alpen oder die Hand in die Weste gesteckt, der Korse - der im Übrigen gar nicht so klein war, wie das gerne behauptet wird - thront über einer ganzen Epoche, der er mit seiner "Grande Armée" den Stempel aufdrückte. Wesentlich weniger als über den Kaiser der Franzosen weiß man häufig über diejenigen, die in dieser Armee marschierten. Sie war ein multinationaler Haufen, zusammengesetzt nicht nur aus Franzosen, sondern aus Mitgliedern all jener Staaten, die mehr oder minder freiwillig mit dem französischen Imperium verbündet waren. Karl J. Mayer schöpft aus den Aufzeichnungen dreier Veteranen der Grande Armée aus Deutschland, die er im ersten Kapitel kurz vorstellt: einem pfälzischen Barbier, einem Lehrer aus dem Hunsrück und einem schwäbischen Maurer, die alle an den Feldzügen teilnahmen.
Diese Auswahl bedingt natürlich gleich zwei schwere Caveats für die Schilderungen: einerseits sind es deutsche Soldaten, die für Napoleon kämpfen; das heißt, dass sie auch nur eingeschränkt repräsentativ sein können. Napoleons Kernarmee schließlich bestand aus Franzosen; die Deutschen waren in unterschiedlichen Freiwilligkeitsgraden ihrer Landesherren dabei (die Soldaten selbst wollten häufig dieseits wie jenseits der Grenze nicht zum Kommiss). Andererseits aber ist natürlich ein Survivor's Bias in den Schilderungen; die Betroffenen gehören zu den wenigen Überlebenden der Armee. Die allermeisten ihrer Mitglieder fanden den Tod. Zudem wurden die Aufzeichnungen erst viele Jahre nach den Geschehnissen erstellt und sind dementsprechend noch unzuverlässiger, als man das für Augenzeugenberichte ohnehin stets einberechnen muss. Da uns aber ohnehin nur wenig Quellen zum Leben der normalen Menschen aus dieser Epoche zur Verfügung stehen, kommt man um die Nutzung dieses Materials kaum herum.
Im zweiten Kapitel wendet sich Mayer dann "Wehrpflicht, Disziplin und Motivation" zu. Die meisten Soldaten waren schließlich nicht freiwillig in Napoleons Diensten (der Lehrer aus dem Hunsrück ist hier das Gegenbeispiel; bis 1814 diente er in der Armee und behielt stets seinen Stolz, "dem Kaiser dienen" zu dürfen. Er war Überzeugungstäter), sondern wurden gezogen. Das funktionierte damals im Losverfahren. Napoleon legte je nach seinem Bedarf für Kriegführung für jeden Jahrgang fest, wie viele Männer gezogen werden sollten. Diese Zahlen gingen an die untergeordneten Gliederungen, die dann die Namen aller Betroffenen in eine Lostrommel warfen und so lange zogen, bis sie die notwendige Zahl erreicht hatten. Da es zahlreiche Ausnahmen gab und mit entsprechender Barschaft Ersatzmänner gestellt werden konnten, traf die Wehrpflicht vor allem arme Männer - die Grande Armée war also mitnichten ein Abbild der gesamten Bevölkerung, weswegen das vollmundige Versprechen, dass mit entsprechender Leistung auch die Offizierslaufbahn winken könnte ("jeder Soldat trägt den Marschallsstab im Tornister"), für die meisten mangels basaler Kenntnisse im Lesen und Schreiben nie in Frage kam.
Entsprechend hoch waren die Desertationsraten, was angesichts der harten Disziplin in der Armee noch verschärft wurde. Endlose Drills, lange Märsche und Gewalt durch Höhergestellte waren Alltag. Vor allem Letzteres unterscheidet die Armeen der Epoche von den heutigen: sowohl Offiziere als auch Angehörige von Einheiten höheren Rangs - etwa Grenadiere oder Napoleons Garde - konnten die einfachen Soldaten ohne Konsequenzen misshandeln und machten davon auch reichlich Gebrauch. Die Gepflogenheiten der Epoche waren hier noch deutlich anders, als sie das heute sind. Und bedenkt man, wie oft das selbst in modernen Armeen noch vorkommt und selbst in der Bundeswehr noch vor wenigen Jahren normalisiert wurde, nimmt das auch nicht wunders.
Im dritten Kapitel, "Grundbedürfnisse: Essen, Trinken, Kleidung", nimmt uns Mayer auf eine Reise durch den Magen der Soldaten - und das, was ihn verdeckt. Anders als die Soldaten des Ancien Régime, die eine Versorgung durch ein ausgeklügeltes Magazinsystem bekamen, lebten die Soldaten der levée en masse "aus dem Lande", wie man so schön sagt. Das hatte eine Ursache in der Strategie, da es wesentlich höhere Mobilität erlaubte, aber auch schlicht in den Begrenzungen der Logistik: der Staat des frühen 19. Jahrhunderts konnte die Masse der Grande Armée überhaupt nicht versorgen, selbst wenn er gewollt hätte.
So plünderten die Soldaten regelmäßig die Landstriche aus, durch die kamen. Handelte es sich um Verbündete, lief das Ganze im Idealfall organisiert durch die örtlichen Behörden, die bestimmte Kontributionen lieferten und Quartier bereitstellten. Letzteres war eine häufige Unterbringungsmöglichkeit für Soldaten: genauso wie Magazine gab es viel zu wenige Kasernen (und die, die es gab, waren furchtbare Löcher), weswegen die Soldaten direkt bei Zivilisten einquartiert wurden, die auch die Versorgung zu leisten hatten. Angesichts betrunkener und verwildeter Soldaten war das bei den Zivilisten wenig überraschend sehr unbeliebt und hatte für die Kommandeure den Nachteil, dass das Zusammensammeln der Truppen aus zig Quartieren lange dauerte.
Deswegen übernachteten die Soldaten auf dem Marsch meist im Biwak: in selbstgebauten Hütten aus allem, was gerade zur Hand war (gerne auch bei den Zivilisten geplündert) oder direkt unter freiem Himmel. Die schweren Zelte, die die Armeen des Ancin Régime noch hatte, waren zugunsten höherer Mobilität abgeschafft worden; stattdessen erhielten die Soldaten einen Mantel, um sich zuzudecken. Dass das bei nur der kleinsten Witterung kaum ausreichend war, liegt auf der Hand, weswegen die Männer praktisch dauerkrank waren. Das Leben als Soldat war von Hunger, Kälte, Nässe und Krankheit geprägt.
Nicht leichter gemacht wurde es durch die Kleidung: die Uniformen waren ebenfalls Überbleibsel des Ancien Régime, unbequem und vor allem auf Repräsentation ausgelegt und dazu noch unpraktisch. Im Verlauf der napoleonischen Kriege verbesserte sich das immer weiter. So verschwanden etwa die langen Rockschöße und bedeckte die Weste endlich auch den Bauch (eine der Hauptquellen für Krankheiten bei Soldaten des 18. Jahrhunderts). Der Zweispitz, der sich bei Regen in eine formlose Masse verwandelte, wurde durch das Tschako ersetzt (das allerdings furchtbar unbequem gewesen sein muss).
Zu trinken gab es für die Soldaten überwiegend Alkohol. Das lag einerseits an der Schwierigkeit, an sauberes Wasser zu kommen; verdrecktes Wasser war schließlich eine weitere Hauptquelle für Krankheiten aller Art. Aber andererseits gehörte Alkohol zu den wenigen Annehmlichkeiten des Berufs, mit denen sich die Schwernisse etwas leichter ertragen ließen. Entsprechend waren die Soldaten häufig betrunken, was nicht eben dazu beitrug, dass sie sich zivilisierter verhielten.
Dieses Thema wird im vierten Kapitel, "Die Schrecken des Krieges: Verwundung und Gefangenschaft", etwas mehr ausgestaltet. Oft genug waren nicht feindliche Soldaten diejenigen, die den Truppen mit besonderem Hass gegenüberstanden und sie im Falle einer Aufgabe ermordeten, sondern die Zivilbevölkerung. Besonders in Russland und Spanien sind zahlreiche Fälle überliefert, in denen Zivilisten gefangene Soldaten massakrierten - oft genug als Repressalie für zuvor erlittene Gewalt durch die Soldaten selbst, deren Plünderungen ohnehin schon schwer genug zu ertragen kamen, ohne dass eigene Massaker, Vergewaltigungen und Ähnliches dazu kamen.
Die Gefangennahme selbst war ein sehr ambivalentes Unterfangen. Unter normalen Umständen galten Soldaten, die die Waffen streckten, nicht mehr als Kombattanten und wurden inhaftiert, meist um nach Kriegsende freigelassen zu werden. Allein, die napoleonischen Kriege zogen sich, besonders mit Großbritannien, so dass die Gefangenen hier sehr lange inhaftiert waren. Dazu kam, dass in vielen Situationen keine Gefangenen gemacht wurden, weil man sie weder bewachen noch versorgen konnte. In diesen Fällen wurden sie meist ermordet. Die Quellen geben furchtbare Berichte aus Russland, in denen etwa Verwundete mit Knüppeln totgeschlagen werden, als ihr Tross sich von der Hauptarmee entfernte und vom Feind aufgebracht wurde.
Verwundungen gehörten zum Alltag der Soldaten. Der Stand der medizinischen Versorgung war erbärmlich: die Zahl des medizinischen Personals war völlig unzureichend, die Behandlungsmethoden primitiv (wenngleich besser als man manchmal annimmt). War der Verwundete einer von wenigen, so hatte er tatsächlich halbwegs gute Chancen, wie die Augenzeugenberichte eines Glücklichen demonstrieren. Doch in den großen Schlachten fielen zehntausende Verwundete an, eine Zahl, die Mayer auch als für moderne Systeme nicht verkraftbar beurteilt - und für das napoleonische System gleich dreimal nicht. Entsprechend schlecht waren die Überlebenschancen vieler Verwundeter. Ohne Betäubung und ohne Kenntnisse blieb oft nur die Amputation. Die Ursachen des gefürchteten Wundfiebers waren zudem mangels Bakteriologie völlig unbekannt.
Im fünften Kapitel, "Ausklang: Heimkehr", sehen wir dann das Ende des Krieges für die Glücklichen, die ihn überlebt hatten. Sie wurden aus den Armeen entlassen, in der Hand einen Schuldschein für den wie stets ausstehenden Sold und Gutscheine für Transport nach Hause. Die drei Männer, auf denen Mayer seine Erzählung fußt, integrierten sich wieder gut in ihre Gemeinden - aber sonst hätten sie auch kaum später die Muße gefunden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben.
Mayers Erzählung ließt sich flüssig und interessant genug, wenngleich sie natürlich unter den bereits angedeuteten Problemen leidet. Einerseits ist die Auswahl der Quellen eine, die den Anspruch des Titels, einen Einblick in den Alltag von "Napoleons Soldaten" zu geben, schwer einlösbar macht. Die drei Schicksale repräsentieren eher die Verfügbarkeit deutschsprachiger Quellen als Repräsentierbarkeit, egal wie viel Mühe sich Mayer gibt, alles zu kontextualisieren. Die Knappheit des Werks erzwingt auch ein Zeichnen mit dem groben Pinsel, das starke Verallgemeinerungen zum Standard macht und immer wieder Probleme hat, die Distanz zum Gegenstand zu wahren.
So verweist Mayer zwar immer wieder darauf, dass Napoleon die Nähe zu den einfachen Soldaten vor allem als Propagandainstrument nutzte und etwa den von ihm gestifteten Ehrenorden für Hokuspokus hielt. Gleichzeitig aber verfällt er immer wieder in Napoleonfolklore, bedingen die Verallgemeinerungen eine zu große Nähe zum Gegenstand. Solange man sich klarmacht, dass das letztlich in einer solchen Darstellung unvermeidbar ist, ist das hier auch kein großes Problem. Mayer gibt sich alle Mühe, so viel Differenzierung wie möglich unterzubringen, und letztlich gelingt ihm das auch. Wer sich für die Thematik interessiert, sei das Büchlein daher rundheraus ans Herz gelegt.
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