Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)
Gründungsmythen gehören zu jeder Nation. Es sind Geschichten, die erzählt und ständig wieder erzählt werden, oftmals in geradezu ritueller Form, um eine gemeinsame Identität zu schaffen. Mit historischen Realitäten haben sie häufig wenig zu tun; sie ssagen mehr über die Selbstwahrnehmung der Gegenwart, was man als wichtig empfindet. So erfinden die Franzosen Jahr für Jahr einen Aufstand des gesamten Volkes gegen den korrupten Adel, imaginieren die Briten einen die gesamte Bevölkerung umfassenden Stolz auf das die Wellen beherrschende Britannia, sind die Deutschen stolz auf auf den Fleiß, mit dem sie sich selbst und ohne Hilfe aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet haben und feiern die Amerikaner ihre Unabhängigkeit als demokratisches Urereignis. Die USA, als einer der ältestens Staaten der Erde, haben erwartbar mehr Mythen als die meisten anderen Länder, und die polarisierte Gesellschaft sorgt dafür, dass es umso mehr werden. Die Herausgeber Kevin Kruse und Julian Zelizer haben 20 Beiträge amerikanischer Historiker*innen gesammelt, die diesen Mythen auf den Grund gehen.
Im Vorwort etablieren die beiden Herausgeber die Menge dieser Mythen, die ihre Gestalt über die Zeit auch immer wieder gewandelt haben und die Kenntnis der realen Situation längst hinter sich gelassen haben. Die beiden kommen eindeutig von liberaler Seite her, weswegen viele der hier kritisierten Mythen und der sie umgebenden "Fake News" sich eher gegen die Rechte richten; gleichwohl erklären sie, dass die hartnäckisten und dauerhaftesten Mythen von beiden Seiten des Spektrums geteilt werden.
Anmerkung: Ich gebe ersteinmal nur die Inhalte der Kapitel wieder; eine Stellungnahme erfolgt gesammelt und nach Essays gegliedert am Ende der Rezension.
Der erste Mythos in Kapitel 1, "American Exceptionalism", von David A. Bell, geht den wohl fundamentalsten und berühmtesten Mythos an: den des amerikanischen Exzeptionalismus, also dass die USA eine besondere Nation seien, klar abgehoben von allen anderen. Bell stellt fest, dass grundsätzlich jede Nation sich als exzeptionell sieht - und das grundsätzlich auch zu Recht, denn jede unterscheidet sich irgendwie von anderen. Die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus ist, wohl wenig kontrovers, dass die USA auch besser seien als alle anderen Länder. Bell findet die Genese des Begriffs bei den amerikanischen Kommunisten, die damit zu erklären versuchten, warum in den USA keine Arbeiterbewegung entstand. In den späten 1920er Jahren verbot Stalin die Verwendung des Begriffs. In der Folgezeit wurde er von rechts aufgegriffen, aber immer mehr zu einem allgemein genutzten Konzept. Erst Reagan begann es dann spezifisch zu einem rechten talking point zu machen. Als Waffe gegen links instrumentalisierte es dann Newt Gingrich; seither gehört es zum Standardrepertoire der GOP, den Democrats mangelnden Patriotismus vorzuwerfen, weil sie nicht an den Exzeptionalismus glaubten. Dass diese sich beständig dazu bekennen, hat wenig daran geändert. In jüngster Zeit hat sich der Begriff weiter enthöhlt, weil Trump selbst offen erklärte, wenig damit anfangen zu können, was die weitere Verwendung als Angriff aber nicht gestört hat.
Wesentlich akademischer wird es Kapitel 2, "Founding Myths", in dem Akhil Reed Hamar auf Madison und seinen berühmten "Federalist No°10" eingeht. In diesem konstruierte Madison einen Gegensatz des Konzepts der Republik und der Demokratie. Oft wird auch die Behauptung abgeleitet, dass Demokratien nur in kleinen Entitäten funktionierten, während große die Minderheitenrechte untergrüben (während die Staaten diese schützen könnten). Hamar weist nach, dass der Federalist °10 seinerzeit keine große Rolle spielte; die Zeitgenossen rezipierten weitgehend die Argumente aus °2 bis °8, die außenpolitische Überlegungen voranstellten. Der Federalist °14, dem eine Zusammenfassung von 2-8 vorangestellt war, war der meistgelesene aus der Feder Madisons.
Genauso widerlegt Hamar die Vorstellung, dass die verfassungsgebende Versammlung ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie die Articles of Confederation verwarf; dies sei von Beginn an akzeptiert gewesen. Er hebt auch Washingtons Rolle bei dem Prozedere hervor, der wesentlich aktiver und gestaltender war, als dies oft zugestanden wird; die mächtige Rolle des Präsidenten etwa sei vor allem auf seine Person zurückzuführen. Gefährdungen für Minderheitenrechte, das kann kaum bestritten werden, entstanden zudem in den Einzelstaaten nicht im Bund. Man erkennt dies zweifelsfrei nach 1865, als diese vorher rein theoretische Betrachtung Gegenstand konkreter Auseinandersetzungen wurde.
Einem ganz anderen Mythos geht Ari Kelman in Kapitel 3, "Vanishing Indians", auf die Spur. Die oft gehörte Behauptung, die Ureinwohner*innen hätten nichts Bleibendes hinterlassen - entweder weil sie keine nennenswerte eigene Kultur besessen hätten oder weil sie von den Weißen komplett erledigt wurden - sei weder haltbar noch harmlos. Der Mythos war im 18. und 19. Jahrhundert hauptsächlich einer, der zur Rechtfertigung der Landnahme benutzt wurde: demzufolge war es das gottgegebene Schicksal der Natives, zu verschwinden. Das enthob gleichzeitig die Weißen selbst von ihrer Schuld an diesem Verschwinden, das ein merkwürdig passives Phänomen wurde. Einen Wandel in der Wahrnehmung erhielt dieses Verschwinden in den 1960er Jahren durch die New-Age-Bewegung und den Bestseller "Bury my heart at Wounded Knee", der das Thema identitätspolitisch veränderte (weil von links der "Imperialismus" der USA gegen die Natives kritisiert wurde, während dies von rechts emphatisch geleugnet wurde), aber ebenfalls die "verschwindenden" Natives thematisierte, wenngleich nun nostalgisch verklärt. Dieser Verschwinden-Mythos, der von beiden Seiten gepflegt wird, schadet aber den Natives, die immer noch existieren und ihre Anliegen deutlich machen wollen.
Der ständig beschworenen Horrorvision einer Flut von Immigrant*innen, die die amerikanische Kultur zerstören, spürt Erika Lee in Kapitel 4, "Immigration", nach. Überraschend ist vor allem das Alter dieses Narrativs bei gleichzeitiger struktureller Konsistenz. Immer geht es um eine Gruppe von Einwandernden, die sich anders als die vorherigen Gruppen nicht amerikanisieren und drohen, die USA zu zerstören. Im 18. Jahrhundert, noch vor der Gründung des Landes, waren es die Deutschen, danach allgemeiner katholische Einwanderende, dann die Iren, dann die Chinesen, bevor plötzlich Mexikaner*innen und schließlich andere Südamerikaner*innen der große Feind wurden, der das Gefüge der USA bedrohte. Lee betont, dass die Einwanderung zwar stets narrativ als Invasion oder Welle gefasst wurde, aber stets auch massive Pull-Faktoren eine Rolle spielen: die Wirtschaft hat Bedarf an undokumentierten und leicht ausbeutbaren Arbeitskräften, die in Flauten einfach abgeschoben werden können. Die amerikanische Wirtschaftstätigkeit sei daher maßgeblich für die Wanderungsströme. Zudem sei der Mythos der Realität hinterher: seit Jahren ist die Einwanderung aus Mexiko leicht negativ, aber das Land bleibt der viel beschworene Ursprungspunkt.
In Kapitel 5, "America First", beschreibt Sarah Churchwell die Herkunft von Trumps Leitspruch. Bereits 2015/16 gab es eine große Debatte über dessen rechtsradikale Ursprünge in der amerikanischen faschisten Bewegung der 1930er Jahre, die von den Republicans rundheraus geleugnet wurden, die stattdessen betonen, dass es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sei: welche Nation stelle nicht die eigenen Interessen vorne an? Lee weist nach, dass der Spruch wesentlich älter ist als die 1930er Jahre. Erstmals wurde er in den 1850er Jahren von den Know-Nothings benutzt, die damit gegen Immigrierende mobil machten. Eine Renaissance erlebte er um 1915, als der zweite Ku-Klux-Klan gegründet wurde. Woodrow Wilson verwendete den Begriff, um eine rassistische Kampagne gegen "Bindestrich-Amerikaner" zu unterfüttern, und der Klan adoptierte den Slogan in den 1920er Jahren selbst. Die Neutralität der USA bis 1917 wurde mit "America First" ebenso begründet wie der Red Scare von 1919. Der prominenteste Vertreter des Slogans war Henry Ford, der ihn massiv antisemitisch auflud. In den 1930er Jahren nutzten ihn dann die Faschisten für ihre dog whistles, ehe Charles Lindbergh den Subtext zum Text machte und damit direkten Widerspruch herausforderte. Der Angriff auf Pearl Harbor erlaubte es Roosevelt, gegen die Extremisten vorzugehen, und der Krieg sorgte für eine 180°-Wende der öffentlichen Wahrnehmung, der nun mit Faschistenfreundschaft gleichgesetzt wurde. Bereits in den 1950er Jahren wurde er aber im zweiten Red Scare wieder von rechts übernommen, dann von George Wallace, David Duke und Pat Buchanan benutzt und schließlich prominent von Trump vorgebracht. Stets war er mit nativistischen, rassistischen Untertönen versehen, nie ein allgemeiner Slogan.
Ein überparteilicher Klassiker wird in Kapitel 6, "The United States is an Empire", von Daniel Immerwahr besprochen. Es gehört praktisch seit der Gründung der USA zum Selbstbild, kein Imperium zu sein, sondern solche zu bekämpfen (zweimal das britische, zweimal das deutsche, einmal das japanische, einmal das sowjetische) und ein "Leuchtfeuer der Hoffnung" für die Welt darzustellen. Das allerdings sei Unfug. Bereits kurz nach ihrer Gründung inkorporierten die USA große Territorien, die zwar die Möglichkeit hatten, Staaten zu werden, dies aber (nach rassistischen Kriterien) lange nicht wurden. Oklahoma etwa war über 100 Jahre Territorium, länger als viele Kolonialreiche bestanden. Immerwahr hebt auch die karibischen und pazifischen Besitzungen der USA hervor, die heute noch Territorien und deutlich ärmer als die kontinentalen USA sind. Zudem stellt er die Reservate und Tribal Nations in den kolonialen Kontext und verweist auf das ausgeprägte Netz von Basen, das die USA unterhalten. Informeller Einfluss statt direkter Landnahme sei immer US-Politik gewesen, weswegen die Existenz des Imperiums auch meist nicht anerkannt werde.
Eher zurück in den Bereich rechter Mythen geht es in Kapitel 7, "The Border", in dem Geraldo Caralva die Idee zurückweist, dass die Grenze seit jeher eine Markierung zwischen den reichen, höherstehenden USA auf der einen und den gefährlichen Ursprüngen von Kriminalität und Immigration auf der anderen Seite sei. So weist er darauf hin, dass für viele Natives und Schwarze das Land südlich der Grenze das Land der Freiheit war und das Vordringen der Grenze etwa im Krieg von 1846-1848 einen empfindlichen Perspektivverlust bedeutete. Für die Natives war weder das amerikanische Vordringen noch die mexikanischen Unabhängigkeit eine gute Nachricht; sie wurden von beiden Seiten bekämpft. Die Grenzregion sei für Jahrzehnte eine Zone interkulturellen Austauschs geblieben, frei Grenzübergänge waren die Norm. Die Immigrationsbeschränkungen Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts galten explizit nicht für Mexiko. Erst mit der Weltwirtschaftskrise habe sich das geändert und das Narrativ von der Grenze zu Mexiko als Hort von Migration und Kriminalität, den es durch verstärkte Restriktionen zu kontrollieren gelte, übernahm. Caralva schließt mit einem Plädoyer, die diverse Geschichte der Grenzregion und ihr interkulturelles Potenzial mehr zu sehen.
Weiter geht es in Teil 2.
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