Kevin M. Kruse/Julian Zelizer - Myth America: Historians Take On the Biggest Legends and Lies About Our Past (Hörbuch)
Ein in letzter Zeit hauptsächlich rezipierter Anlass für den in Kapitel 14 besprochenen white backlash folgt in Kapitel 16, "Police Violence", von Elizabeth Hinton. Sie zeigt anhand von Ausschreitungen in den 1960er Jahren, dass Polizeigewalt oft die Ursache, nicht die Folge von Ausschreitungen war. Dieses Muster, das sich in Ferguson, bei George Floyd und in vielen anderen Fällen in den 2010er und 2020er Jahren beobachten ließ (#BlackLivesMatter), hat seinen Ursprung bereits wesentlich früher. In den 1960er Jahren wurde die systemische Polizeigewalt nur erstmals überhaupt wahrgenommen, wenngleich die weiße Mehrheit sie überwiegend begrüßte. Das galt auch für die Proteste Martin Luther Kings (siehe Kapitel 13), die ebenfalls massiver und unprovozierter Polizeigewalt ausgesetzt waren, die die Zeitgenossen nicht etwa den rassistischen Terrorregimen der Südstaaten, sondern den Protestierenden zuschrieben.
Gleiches gilt für die Militarisierung der Polizei. Sie hatte ihren Ursprung nicht in den 2000er Jahren (wo sie gleichwohl einen Schub erlebte, wie ich hier beschrieben habe), sondern in den 1960er Jahren, als das US-Militär erstmals seine Restbestände aus einem abgewickelten Krieg an die Polizeibehörden weitergab, die es benutzten, um die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken. Hinton beschreibt als Fallbeispiel die exzessive Nutzung von Tränengas, das 1925 in der Genfer Konvention verboten wurde, zur Auflösung friedlicher Proteste. Ein letzter Abschnitt beschäftigt sich mit ihrer Kriminalisierung in jüngster Zeit; in vielen südlichen Bundesstaaten drohen für einen Protest bis zu 15 Jahre Gefängnis (!), während es gleichzeitig straffrei gestellt wurde, Protestierende versehentlich mit dem Auto zu töten.
Diese staatliche Freundlichkeit gegenüber Gewalt von Rechts ist auch Thema von Kapitel 17, "Insurrection". Ausgehend von der viel gehörten Behauptung, der Putschversuch vom 6. Januar sei nicht "wer wir sind", weist Kathleen Belew nach, dass Aufstände gegen den Staat vielmehr schon lange in der amerikanischen DNA stecken. Rechtsextreme Aufstände gegen den Staat und ein Netzwerk von Terroristen habe es viel mehr immer wieder gegeben. Im Zentrum stehen in ihrem Kapitel die "Turner Diaries", eine Art als Roman getarnten politischen Programms, das einen Rassekrieg mit vollständiger Vernichtung aller Nicht-Weißen weltweit voraussieht und das seit den 1970er Jahren immer wieder mit Terroristen in Verbindung steht. Diese Terroristen werden von Politik und Medien stets als Einzeltäter angesehen, wogegen Belew die Existenz eines verbindenden Netzwerks postuliert.
Sie erklärt, dass in den 1960er Jahren die Mitgliedszahlen in radikalen rechten Organisationen deutlich absanken, was aber gleichzeitig einen Radikalisierungsprozess mit sich gebracht hätte. Um der Verfolgung zu entgehen, verschrieben die Rechtsextremisten sich der Idee der leaderless resistance - einer Vernetzung ohne klare Strukturen. Dazu nutzten sie bereits 1984 das Internet. Sie sammelten Spenden, kauften davon Computer und verteilten diese zusammen mit Kursen unter den Zellen, die sich dann in passwortgeschützten Foren austauschten. Heutige Netzwerke wie Stormfront seien daher nur Evolutionen eines mittlerweile 40 Jahre alten Trends.
Besonders bedrückend ist, wie viele der Prozesse gegen rechtsextreme Terroristen mit deren Freispruch endeten, weil die Jurys der Prozesse in den Einzelstaaten selten überhaupt schwarze Mitglieder besaßen und meist sehr empathisch gegenüber den Anliegen der Rechtsextremisten waren. Die Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge ist wahrlich kein deutsches Problem.
Eine gänzlich andere Richtung schlägt Kapitel 18, "Family Values Feminism", von Natalia Mehlman Petrzela, ein. Sie wendet sich gegen die konservative Behauptung, der Feminismus wolle die Familie zerstören und stellt dem die These gegenüber, dass er in Wahrheit die Familie unterstütze. Treibende Kraft hinter der Etablierung der Idee war Phyllis Schlaefli, die konservative Aktivistin, die das Equal Rights Amendment verhinderte und eine wichtige Unterstützerin Reagans war. Viele der frühen Feminstinnen, allen voran Betty Friedan, hatten aber die heterosexuelle Familie ausdrücklich verteidigt und neue Formen wie die gleichgeschlechtliche Ehe abgelehnt. Erst in den späten 1970er Jahren gelang die Anerkennung von Lesben als Bestandteil der feministischen Bewegung (was dann wiederum zu backlash führte).
Petrzela führt ihren Argumentationsrahmen zum einen in die Vergangenheit bis zu den Aktivistinnen des 19. Jahrhunderts, die stets im Rahmen der Familie und weiblicher "Zuständigkeiten" wie Fürsorge und Pflege agiert hatten, und zum anderen in die Gegenwart, wo Forderungen und Erfolge der feministischen Bewegung den Status von Familien durch Hilfen für Kinder und Eltern und die Stärkung der Rechte von Müttern eigentlich verbessert hätten, während Konservative mit ihren Kürzungen solcher Maßnahmen familienfeindliche Politik machten.
Ein weiterer Mythos aus dieser Zeit ist die in Kapitel 19, "Reagan Revolution", von Julian Zelizer besprochene Amtszeit Ronald Reagans. Von folgenden Generationen von Republicans als "Reagan Revolution" verklärt besteht Zelizer darauf, dass diese Begrifflichkeit stark übertrieben sei und in historischer Analyse nicht verwendet werden sollte. Reagan scheiterte mit den selbst gesteckten Zielen seiner Revolution weitgehend. Trotz beeindruckender Siege bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 waren die Midterms ein ziemliches Desaster; Reagans persönliche Beliebtheitswerte lagen deutlich unter denen Johnsons, Kennedys, Clintons, Bushs und Obamas und nur marginal über denen Nixons (wenngleich deutlich über Ford und Carter). Stattdessen führte seine Politik zu einem gewaltigen Defizit, das nur durch einen Kompromiss der GOP im Kongress mit den Democrats zu retten war - der deutliche Steuererhöhungen enthielt und effektiv die Reagan Revolution konterkarierte.
Auch außenpolitisch scheiterte Reagan. Nicht nur wurde seine Präsidentschaft beinahe durch den Iran-Contra-Skandal gefährdet (der heute weitgehend vergessen, seinerzeit aber als größer als Watergate eingeschätzt wurde!); sein größter Erfolg, die Entspannung und Abrüstungsverträge mit Gorbatschow, widersprachen völlig der Rhetorik des Wahlkampfs 1980 und Reagans Feuerfresser-Persönlichkeit zuvor. Zelizer kommt zu dem Schluss, dass die Rede von der Revolution angesichts der mangelnden Dauerhaftigkeit von Reagans Agenda und seinem Scheitern wesentlich übertrieben sei; gleichzeitig betont er, dass keine Person jemals in einem demokratischen Staatswesen überhaupt solche Durchbrüche feiern könnte, weswegen das von vornherein auch die falsche Erwartungshaltung sei.
Der letzte Mythos wird in Kapitel 20, "Voter Fraud", von Carol Anderson untersucht. Ihr geht es um die republikanischen, unter Trump inflationär gewordenen Vorwürfe, es finde "voter fraud" statt, also die Vortäuschung einer anderen Identität zum Abgeben zusätzlicher Stimmen. So etwas hat es in signifikantem Umfang zumindest im 20. Jahrhundert nie gegeben. Anderson zeichnet nach, wie diese Schmierenkampagne (wie bei so vielen in diesem Band besprochenen Themen) in den 1960er Jahren begann und zu einem Standardwerkzeug wurde.
Gleichzeitig unterscheidet sie den Vorwurf vom wesentlich relevantaren "electoral fraud", also der Wahlfälschung. Diese finde wesentlich häufiger und systematischer statt und betreffe zehntausende Menschen - pro Wahl, wohlgemerkt. So zeigt sie anhand Beispielen aus den 1960er Jahren, wie Polizisten außer Dienst in Uniform und Ausrüstung vor Wahllokalen in Distrikten mit starker afroamerikanischer Bevölkerung postiert wurden und die Wählenden einschüchterten. Dies senkte die Wahlbeteiligung nachweislich deutlich. Natürlich fehlt auch Bush v Gore in der Auflistung nicht. Während die Schimäre voter fraud also mit furchtbaren Folgen für die demokratische Legitimität permanent hervorgekramt werde, werde realer election fraud überhaupt nicht thematisiert, geschweige denn verfolgt.
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Das Buch erinnert mich stark an Howard Zinn's "People's History of the United States" (hier rezensiert): eine dezidiert linke Interpretation der amerikanischen Geschichte, ein Interpretationsangebot für das eigene politische Spektrum. Das kann man machen, hat aber mit Geschichtswissenschaft nur sehr eingeschränkt zu tun. Entsprechend werden auch munter historische Analysen, politische Analysen, Appelle für die Gegenwart und Werturteile miteinander vermischt. Manchmal ist dieser Mix furchtbar, manchmal nicht.
Kapitel 1 (Exzeptionalismus) etwa ist insofern interessant, als dass es auf den Exzeptionalismus als kommunistisches Konzept hinweist. Gleichwohl hat das abgesehen von der Begrifflichkeit ja praktisch nichts mit dem Begriff zu tun, wie er überwiegend verwendet wird. Ob sein Ursprung dort liegt, bezweifle ich auch sehr. Wesentlich seriöser erscheint mir da die Analyse von Kapitel 2 (Federalist 10); die Herleitung ist hier wesentlich tragfähiger und quellenbasierter und das Ganze zudem viel sinniger als Fragestellung und These. Gleiches gilt für Kapitel 3 (Natives), das neue Perspektiven einbringt, ohne in eine zu starke Idealisierung abzurutschen. Kapitel 4 (Immigration) wird dann wieder viel zu sehr mit genereller Kapitalismuskritik vermischt. Sicher spielt der Bedarf an billigen Arbeitskräften der Wirtschaft eine große Rolle, aber das Ganze ist dann in seinen Anreizen und Abhängigkeiten wesentlich komplexer als ein "der Kapitalismus ist schuld".
Kapitel 5 (America First) war eine schöne Geschichte eines Begriffes, und ich halte die These, dass "America First" immer schon ein nativistischer Slogan war, jetzt nicht für sonderlich kontrovers. Die zugrundeliegenden Prämissen von einer zutiefst rassistischen Grundordnung der amerikanischen Gesellschaft kann man sicherlich kritisieren, aber die spielt glücklicherweise für die eigentliche Analyse keine Rolle, sondern läuft nur als stilistisches Grundelement mit. Kapitel 6 (Imperium) bringt erneut eine eigentlich weitgehend unkontroverse Feststellung - dass die USA ein Imperium waren bzw. sind - und vermengt diese mit zahlreichen nicht ausgesprochenen und thematisierten Normensetzungen, die zu unehrlichen Argumentationen führen. Die philippinischen Kriegstoten 1941-1945 etwa einfach den Opfern amerikanischen Imperialismus' zuzuschreiben scheint mir nicht unbedingt ein Zeichen großer intellektueller Redlichkeit, um es milde auszudrücken. Auch, dass das System amerikanischer Basen eines ist, das weitgehend auf Freiwilligkeit beruht, handwedelt Immerwahr einfach weg und bringt einige willkürliche Beispiele aus dem besetzten Japan, das nicht glücklich damit war (tough luck, vielleicht sollte man dann keinen Weltkrieg anfangen).
Kapitel 7 (Grenze) schließlich ist voll von sozialromantischem Klimbim von der Grenze als Raum interkulturellen Austauschs. So wenig Sympathie ich für Trump'sche Horrorvisionen aufbringe, so wenig hat dieses rosaraote Bild aber mit der Realität zu tun. Diese völlige Weigerung, sich mit der Lage zu befassen und die damit verbundenen Ängste zu addressieren, ist eine der größten Schwächen der radikaleren Linken und ihrer open-borders-Fantasien.
Weiter geht es in Teil 4.
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