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Lutz Raphael – Jenseits von Kohle und Stahl: Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom
Abschnitt 2, "Nahaufnahmen: Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte im Wandel", beginnt mit Kapitel 6, "Lebensläufe, Berufskarriere und Jobsuche in Umbruchzeiten". In diesem kombiniert Raphael quantitative Biographieforschung mit direkten Lebensdokumenten, um ein möglichst exaktes Bild zu erlangen. In der Epoche des Booms war der Einstieg in das Arbeitsleben oft unqualifizierte Arbeit, der dann eine Nachqualifizierung und beruflicher Aufstieg folgte. Raphael untersucht zuerst die 1935-1949 Geborenen, die direkt in die Nachkriegszeit hinein erwachsen wurden und dort Arbeit finden mussten. Prekäre, wechselnde Beschäftigung in den 20ern mündete mit der Familiengründung gegen Ende dieser Lebensdekade häufig in einer langfristigen Bindung an ein Unternehmen, um so Sicherheit zu erlangen, die für Familien so essenziell ist.
Auffällig ist, dass die Produktionsgüterindustrie wesentlich jünger geprägt war, weil hier Akkord- und Schichtarbeit vorherrschten, die vor allem für jüngere Arbeitnehmende attraktiv waren. Den Frauen stand diese Berufskarriere praktisch nicht offen; sie blieben auf ungelernten, temporären Arbeitsstellen hängen. Bis zu den 1970er Jahren, so Raphael, näherten sich die Berufswege ungelernter und gelernter Arbeitskräfte an. Dieser umfassende soziale Aufstieg ermöglichte den Eintritt breiter Gruppen in die Mittelschicht. Damit schien das Ende des Proletariats gekommen; zeitgenössisch sprach man vom affluent worker. Wesentlich schlechter allerdings ging es den meist ignorierten Arbeitsmigrant*innen, die in schlecht bezahlten, prekären Stellungen verharrten. In Deutschland und Frankreich war diese Entwicklung dabei deutlich geradliniger als in Großbritannien, wo regionale Unterschiede und solche der Branche schärfer betont blieben und die Wirtschaftskrise Anfang der 1970er Jahre einschneidender als auf dem Kontinent für Massenarbeitslosigkeit sorgte.
Raphael wendet sich nach dieser Betrachtung der Boomzeit nun wieder der vergleichenden Länderbetrachtung zu, um die Folgen der Deindustrialisierung zu untersuchen. In Frankreich gingen rund 1,5 Millionen Arbeitsplätze verloren; die Reallohnzuwächse der Arbeiter*innen betrugen in den 1970er und 1980er Jahren nur noch 1% und fielen in den 2000er Jahren auf null. Während der Anteil an Migrant*innen insgesamt stabil blieb, waren vor allem die Frauen Opfer der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation. Durch diese Entwicklungen änderte sich die Altersstruktur der Fabriken massiv. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit bedeutete einen viel späteren Eintritt in das Arbeitsleben, der Strukturwandel mit seinen Frühverrentungen, dass die Menschen bereits in den 1950er Jahren wieder aus dem Arbeitsleben ausschieden. Wegen der schlechten Chancen auf einen neuen Job harrten viele ältere Arbeitnehmende auch bei großen gesundheitlichen Belastungen in der Hoffnung auf Frühverrentung auf ihren tayloristischen Arbeitsplätzen aus. Diese Beharrung der Älteren stand in Kontrast zu den prekären Arbeitsverhältnissen der Jüngeren. Für die Unternehmen bedeutete dies, dass Änderungen und Innovationen schwieriger durchsetzbar waren, weil die Älteren änderungsavers waren (und immer sind).
Für Großbritannien hält Raphael zuerst fest, dass die Arbeitsplatzverluste dort wesentlich umfassender und einschneidender waren als in Frankreich oder der BRD. Zahlreiche Arbeiter*innen, die ihre Jobs an die um sich greifende Massenarbeitslosigkeit verloren, wurden zu Servicearbeitenden wider Willen. Mitte der 1980er Jahre war fast die Hälfte aller Jugendlichen arbeitslos, was von der Thatcher-Regierung durch erzwungene "Youth Training Schemes" verschleier wurde. Auch in Großbritannien bedeuteten die Schließungen für ältere Arbeitnehmende üblicherweise das Ende der Erwerbstätigkeit; auch hier förderte die Regierung über Dauerkrankschreibungen und Frühverrentungen ein das soziale Netz nachhaltig belastendes "Ausgleiten" aus dem Arbeitsmarkt. Die Erfahrung war für die Betroffenen sehr ambivalent: einerseits waren die verlorenen Arbeitsplätze, gerade im Bergbau, gesundheitlich massiv schädlich und anstrengend. Andererseits hing ihre Identität daran. Die Liberalisierung sorgte gleichzeitig für eine massiv sinkende Verweildauer in den Betrieben und zu steigender Unsicherheit und gebrochenen Erwerbsbiografien.
In der alten Bundesrepublik war der Arbeitsverlust wesentlich geringer und gradueller als in Frankreich und besonders Großbritannien. Auffällig ist, dass die Arbeitsplatzverluste der Männer (die entweder keine oder schlechter entlohnte Arbeit fanden) durch vermehrte Frauenerwerbstätigkeit aufgefangen wurde, gerade in migrantischen Milieus. Hier dominierten auch die unattraktiven Arbeitsverhältnisse wie Nachtarbeit. Wie überall trafen die Rationalisierungsmaßnahmen aber auch in der BRD ältere Arbeitnehmende, die meist frühverrentet wurden (mit den vorhersehbaren Kosten für die Sozialkassen). Das Muster sich nach hinten verschiebender Familiengründungen findet sich auch in Deutschland. Anders als in den Nachbarländern sorgte das duale System aber in Deutschland für eine wesentlich bessere Qualifizierung und Beschäftigung der jungen Generation. Innerbetrieblicher Aufstieg wurde deutlich schwieriger, blieb aber viel realistischer als in Großbritannien oder Frankreich. Zu beobachten ist auch eine starke Zunahme von Teilzeitarbeit, besonders unter Frauen, denen der Weg in die Qualifizierungen und Karrieren weiter weitgehend verstärkt blieb und die auf den unteren Rängen der Hierarchie festgehalten wurden.
Raphael wendet sich als nächstes der Erfahrung von Heirat und Familiengründung zu. Die Klassendominanz der Heiraten endete bis zu den 2000er Jahren nicht. Allerdings heiratete der kleiner werdende Pool der Arbeiter häufiger Angestellte, die (dann oft in Teilzeit) in Dienstleistungen oder dem Öffentlichen Dienst arbeiteten. Die sich nach hinten schiebende Familiengründung bedeutete eine längere Verweildauer im elterlichen Haushalt. Die einheimischen Kinder setzten dabei oft den Aufstiegsweg der Eltern, wenngleich eben zeitversetzt fort. Das galt für die migrantischen Familien viel weniger. Sie waren wesentlich größeren Risiken des Arbeitsplatzverlusts (und damit auch erzwungener Umzüge und verschobener Familiengründungen) ausgesetzt und konnten oftmals keine Aufstiege in die Mittelschicht erleben, da sie auf den unteren Rängen der Arbeitshierarchie festhingen. Gleichzeitig konnten die Kinder in allen Arbeitendenhaushalten allerdings oft die Ausfälle des Haupternährers durch eigene Arbeit kompensieren, so dass die Gesamthaushaltseinkommen häufig trotz Arbeitslosigkeit annähernd gleich blieben (um den Preis erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und längerer Verweildauer der Kinder).
Raphael stellt aber abschließend fest, dass die Zeitgenoss*innen wesentlich einschneidendere Wirkungen erlebten, als diese empirisch nachweisbar sind. Einen Grund dafür sieht er im zunehmenden Druck in den Unternehmen selbst, die mit mehr Kontrolle, Weiterentwicklung und Rationalisierung reagierten, die auch Arbeitnehmende ohne Arbeitsplatzverlust als Verschlechterung empfanden. Zudem existierten "Inseln der Beschäftigungsstabilität" auch in stark betroffenen Regionen. Besonders hervor hebt er den gesellschaftlichen Konsens, dass der Generation der "Malocher" das Privileg zustünde, von den "Zumutungen von spätem Jobverlust und Dauerarbeitslosigkeit verschont zu bleiben". Die Beschäftigten reagierten zudem mit größerer Betriebstreue auf die wachsende Unsicherheit. Zudem wurden die ungelernten Jobs weitgehend von Arbeitsmigrant*innen erledigt. Die Lebensphase "Jugend" verlängerte sich deutlich und führte zu einem Perspektivenwandel. Zuletzt weist er noch einmal auf die Bedeutung der Frühverrentung für den Erhalt des sozialen Friedens hin.
In Kapitel 7, "Betriebliche Sozialordnungen im Umbruch", ändert Raphael den Blick von dem auf Familienstrukturen zu denen von Betrieben. Diese erlebten auch organisatorisch einen Umbruch; der alte patriarchalische Unternehmertypus wurde zunehmend von unpersönlicheren Strukturen, Metriken und einer Konzentration auf die Entwicklung von Humankapital verdrängt. Die Innovationen jener Jahre führt Raphael weniger auf Begeisterung seitens der Unternehmer*innen als vielmehr die Strukturkrise und die Überlebensnotwendigkeit zurück. Unter den Schlagwörtern lean production und lean managment wurde versucht, Kosten zu reduzieren und so Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Die Gefahr war, dass dies zu einer raschen Abfolge von Managmentpersonal und Organisationsstrukturen führen konnte, die keinerlei Bezug zum Unternehmen besaßen und rein die Kostenseite im Blick hatten, was zu einem Teufelskreis aus Entlassungen, zunehmender Distanz vom Betrieb und sinkender Arbeits- und Produktqualität führen konnte.
Diese "negative Betriebsidentität" ist für Raphael ein Beleg der Existenz und Bedeutung der Identität der Belegschaft mit dem eigenen Betrieb. Er sieht die Fabrik als "soziales Handlungsfeld", in Deutschland geprägt von der "Produktionsgemeinschaft" innerhalb der Belegschaft und zwischen ihr und dem Managment, die Konflikte als "empfindliche und vermeidbare Störung" empfindet. Dieser Idee stehen marxistische Entwürfe schroff gegenüber, der (fälschlich) eine Dominanz des neoliberalen, einzig auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Organisationsmodells vorhersagte. Dem stehe eine "überraschende Vielfalt" an Betriebsordnungen gegnüber. Diese ordnet Raphael in eine Matrix zwischen monokratisch-pluralistisch und sozialintegrativ-kontraktuell, aus der er vier Typen synthetisiert: paternalistische Betriebe (sozialintegrativ/monokratisch), "Arbeitshäuser" (kontraktuell/monokratisch), Kooperativ-konsensorientiert oder konfrontativ-konfliktorisch (sozialintegrativ/pluralistisch) sowie "Marktgesellschaften" (kontraktuell/pluralistisch).
Dazu identifiziert er vier Typen von Sozialbindungen in Betrieben. Zuerst berufsbezogene Verbindungen wie die der Facharbeiter (die besonders in Deutschland dank der betrieblichen Mitbestimmung Einfluss hatten), danach die der konkreten Arbeitszusammenhänge von zusammengehörigen Arbeitsabläufen (mit dem Großtrend der Verselbstständigung von Arbeitsabläufen und der damit einhergehenden "Professionalisierung"), drittens die Fabrik oder das Werk (die an Bedeutung verlor) und viertens die Belegschaft in der Struktur des Konzerns oder der Unternehmensgruppe. Letztere markierten in der betrachteten Episode einen bedeutenden Umschwung durch die Fusionen und Aufkäufe besonders der 1990er Jahre.
Im Ländervergleich fällt die seit 1919 starke Betonung kooperativer Formen in Deutschland auf, während diese in Großbritannien die Ausnahme darstellen. In Frankreich versuchte die Regierung zwar, Kooperation zu fördern, hatte aber gegen die eher monokratische französische Unternehmertradition wenig Erfolg, weswegen das Land wesentlich konfliktorientierter sei. Gleichzeitig gebe es aber viele Gemeinsamkeiten, etwa die Gemeinschaftsstrukturen der "work crews" in körperlich fordernden Jobs. Dies sei aber branchenabhängig; in der Lebensmittelindustrie bestehe eine starke Trennung zwischen Facharbeitenden und Un- und Angelernten. Konflikte würden oft eher konstruktiv gelöst, wo das Ende patriarchalischer Ordnungen mit Gewerkschaften verhandelt werden konnte, während ansonsten eher der oben beschriebene Teufelskreis eintrete.
Exemplarisch macht Raphael all dies an der Automobilindustrie deutlich. Entgegen der oft gehörten Behauptung konnten die Unternehmen die Bandarbeit nur parziell durch Automatisierung ersetzen, weswegen halb-autonome Arbeitsgruppen eher die Regel wurden. Besonders hervorzuheben ist hier der Einfluss der japanischen Methoden. Hohe Löhne, hohe Sozialleistungen und hohe Ansprüche an die Belegschaft liefen in Tandem und wurden auf Kosten der Zulieferer und deren Belegschaften realisiert, was eine deutliche Zwei-Klassen-Gesellschaft in den Unternehmen und Arbeitsbedingungen mit sich brachte. Der Strukturwandel brachte einen Wechsel von konfrontativen Methoden zu solchen der passiven Arbeitsplatzerhaltung mit sich. So entstanden zwar kooperative, aber in von oben verordnete Sozialstrukturen eingebettete Sozialordnungen. Der Versuch gerade der japanischen Unternehmen, durch Ansiedlungen in strukturschwachen Regionen Streiks und Konfrontation zu vermeiden, ging nicht immer auf; der erste Streik bei Toyota seit 1950 etwa ereignete sich im gerade deswegen ausgesuchten Valenciennes 2009.
Der Wettbewerbsdruck führte in der Bundesrepublik zu einer Verdichtung der kooperativen Arrangements. Diese brachten der westdeutschen Wirtschaft einen deutlichen Wettbewersvorteil gegenüber den britischen und französischen Modellen. Dies erlaubte es den Betriebsräten, Sicherheitszusagen durch Steigerungen der Produktivität in modernen Akkordsystemen (die auf ganze Betriebe umgelegt waren) zu erreichen, ein win-win-Szenario. Die längeren Betriebszugehörigkeiten sorgten für ein Investment der Arbeitnehmenden in den Betrieb und seinen Überlebenskampf in der globalen Transformation, der gerade britischen Betrieben häufig abging, die zwar kuzrfristig starke Strukturen besaßen, aber kaum Langfristigkeit.
Weiter geht's in Teil 5.
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