Mai Thi Nguyen-Kim - Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit (Hörbuch)
Die Corona-Pandemie hat Streits über Wissenschaft, Standards, Studien und Statistiken auf eine Art in die Schlagzeilen gebracht, die sich viele Befürworter*innen von MINT-Fächern sicher schon eine Weile gewünscht haben, aber wie immer muss man vorsichtig sein, was man sich wünscht. Zwar wurde viel über Wissenschaft diskutiert, aber die Sachkenntnis der resultierenden Debatte ließ dann doch zu wünschen übrig. Mai Thi Nguyen-Kim hat ihr Buch zwar bereits vor der Pandemie zu schreiben begonnen, aber viel aktueller und passender kann es kaum sein (abgesehen vielleicht von einer Aktualisierung; es ist auf dem Stand des Frühjahrs 2021). Nguyen-Kim weiß sicherlich ein Liedchen davon zu singen: als eine von Deutschlands hervorgehobensten Wissenschafts-Erklärbären setzt sie sich bereits seit Langem für bessere Kenntnisse auf diesem Gebiet ein. Ihr Ziel: das Schaffen einer "kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit", ein Streit um die Dinge, um die sich tatsächlich gestritten werden kann. Etwas Objektivität in die Debatte, quasi. She's got her work carved out for her.
Nguyen-Kim unternimmt es dabei, verschiedene Probleme wissenschaftsbasierter Diskurse anhand populärer Beispiele aufzuarbeiten und so den Blick auf die Fallstricke (scheinbar) wissenschaftlicher Argumente zu schärfen.
So befasst sie sich in Kapitel 1 mit der Legalisierung von Drogen. Unter dem Schlagwort "Keine Macht den Pauschalisierungen" erläutert sie die Fallstricke der entsprechenden Forschung. So wurde etwa Brokkoli in allen möglichen Studien schon alle möglichen Wirkungen unterstellt, doch wenn man genau hinsieht zeigt sich, wie schwer es ist, bestimmte Effekte auf ein Lebensmittel zurückzuführen. Ähnlich ist das bei den Studien zu Drogen, die zudem von zahlreichen Detailproblemen und methodischen Verwicklungen gezeichnet sind. Die Frage, welche Droge denn nun schädlicher sei als eine andere, ist also gar nicht so leicht zu beantworten. Nguyen-Kim weist vor allem darauf hin, dass "alle Drogen schon da sind" und daher immer in einem bestehenden Kontext untersucht werden. Ecstasy mag weniger Schäden hervorrufen als Alkohol, aber Alkohol wird von wesentlich breiteren Schichten in wesentlich größeren Quantitäten konsumiert. Es würden also oft Äpfel mit Birnen verglichen. Trotzdem erklärt Nguyen-Kim klar: "Fehlerhafte Wissenschaft ist besser als gar keine Wissenschaft." Auch unzureichende Studien geben mehr Informationen als keine Studien, man muss allerdings in der Lage sein, sie genau zu untersuchen.
Ein nicht minder umstrittenes Thema wird in Kapitel 2 untersucht: Videospiele und Gewalt. Die Hochzeit dieser Debatte ist zwar dankenswerterweise vorbei (ich erinnere mich noch sehr gut an den FAZ-Artikel, laut dem man in Counterstrike Bonuspunkte für das Schießen auf Kinderwägen bekommt). Aber noch immer gibt es "Viel "Noiseblast" um Nichts", womit Nguyen-Kim auf eine berühmte Studie anspielt, mit der das Aggressionspotenzial von Videospielen untersucht wurde: Versuchspersonen wurde ein schmerzhafter "Noiseblast" gegeben, der sie dann aggressiver machte. Allein, die Aggressionsforschung steht vor ernsthaften Problemen. An ihrem Beispiel thematisiert Nguyen-Kim das generelle Reproduktionsproblem der Psychologie, die ihre Studienergebnisse oftmals nicht reproduzieren kann. Ethische Probleme machen es zudem kaum möglich, Studien aufzustellen, die unter "echten "Bedingungen Aggressionsforschung ermöglichten. Doch relevanter scheint Nguyen-Kim das Thema des "p-Hacking", dem "Meta-Krieg um einen Hauch von Nichts". Denn die meisten Studien ergeben, unabhängig von methodischen Problemen, ohnehin nur sehr kleine Variationen. Die Wissenschaft streitet um winzige Abweichungen, die in den Medien gerne als riesige Auswirkungen dargestellt werden. Das ist ein Schicksal, das auch der Brokkoli aus Kapitel 1 gut kennt, und ließe sich auf die "verlockende Suche nach leichten Antworten" zurückführen.
Ein wohl noch umstritteneres Thema bildet den Rahmen für Kapitel 3: der Gender-Pay-Gap. Nguyen-Kim nähert sich den "unerklärlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen" und erklärt zuerst, warum es verschiedene Zahlen gibt (den Lesenden dieses Blogs sicher hinreichend bekannt). Sie erklärt, warum der Pay-Gap nicht zwingend eine Diskriminierungslücke darstellen muss und dass es einen unerklärten Rest von rund 4% gibt, der sich nicht auf unterschiedliche Präferenzen von Männern und Frauen bei der Berufswahl etc. zurückführen lässt und daher reale Diskriminierung darstellen muss. Soweit kennt man die Argumentation von Gegner*innen der Frauenförderungspolitik: unterschiedliche Präferenzen, etc. Nguyen-Kim geht dann aber auf die Bloglesenden ebenfalls sattsam bekannte Thematik ein, dass diese Unterschiede etwa bei der Teilzeit zwar den Pay-Gap erklären, aber ihrerseits bei weitem nicht so freiwillig sind, wie das auf den ersten Blick den Anschein hat.
Etwas überraschende Pfade beschreitet Nguyen-Kim in Kapitel 4, "Big Pharma vs. Alternative Medizin: Ein ungesunder Doppelstandard". Wenig überraschend ist sie kein besonderer Freund der "alternativen Medizin", die einfach nur unwissenschaftlicher Quatsch ist, aber sie nutzt die Debatte um Homöopathie, um einige grundsätzliche Konzepte wie den Placebo- und Nocebo-Effekt zu erklären und Wirksamkeitsmechanismen herauszuarbeiten. Zudem zerstört sie diverse Mythen, etwa die Unterdrückung funktionierender Heilmittel durch Big Pharma. Aber der überraschendere Teil ist ihre klare Parteinahme für die Pharmaindustrie, trotz aller berechtigten Kritik. Umgekehrt erklärt sie auch den schon öfter thematisierten Effekt, dass Homöopathie vor allem deswegen funktioniert, wie die Heilpraktiker*innen sich die Zeit nehmen, mit ihren Patient*innen zu reden.
Das Loblied auf die Pharma-Industrie ist auch ein Roter Faden in Kapitel 5, das sich - sehr aktuell - mit der Frage "Wie sicher sind Impfungen?" beschäftigt. Lesenden dieses Blogs ist der Leitspruch "There's no glory in prevention" sicherlich ein Begriff; etwas überraschender dürfte da die klare Forderung Nguyen-Kims "Lasst die Impfgegner in Ruhe!" anmuten. Sie fordert dies nicht, weil diese Recht hätten, sondern weil sie eine winzige Minderheit sei, die am besten ignoriert würde. Stattdessen solle man sich auf diejenigen konzentrieren, die einfach nur verunsichert sind. An diese Aufgabe macht sie sich denn auch, indem sie die Mechanismen der Medikamentzulassung erläutert und vor allem aufzeigt, warum seltene Nebenwirkungen hier oft nicht erkannt werden. Es ist eigentlich völlig logisch, aber manchmal muss man sich solche Sachverhalte ausbuchstabieren lassen: Nebenwirkungen, die selten sind, könnten nur in Tests gefunden werden, die hunderttausende von Nutzer*innen beinhalten - und die ließen sich von einer Freigabe ohnehin nicht mehr unterscheiden.
Ein ganz heißes Eisen fasst Ngyuen-Kim in Kapitel 6 an: "Die Erblichkeit von Intelligenz". Mit dem Schlagwort "Warum die Anzahl unserer Finger erblicher ist als unser IQ" klärt sie das "doppelte Missverständnis" auf, das mit dieser Frage einhergeht. Es ist das komplizierteste Kapitel, zumindest für mich, weil hier etwa "Drei Gesetze für die Genetik komplexer Persönlichkeitseigenschaften" erklärt werden und das Konzept der Erblichkeit deutlich wird, das bei weitem nicht so eingängig ist wie man das aus populären Debatten kennt. Die "Nature or Nurture"-Debatte führt daher bei ihr auch zu keinem klaren Ergebnis; sie fasst das in charakteristischer Schnoddrikgeit als "Die große Matschepampe aus Genen und Umwelt" zusammen. Auch die Frage, ob IQ-Tests sinnvoll sind oder nicht (eigentlich nur wenn man sich mit sich selbst vergleiche), wird von ihr in diesem Zusammenhang diskutiert.
Ein ähnliches Thema bespricht Nguyen-Kim in Kapitel 7: "Warum denken Frauen und Männer unterschiedlich?" Die Überschrift "Achtung, dieses Kapitel verändert dein Gehirn!" deutet bereits darauf hin, dass wir hier keine Neuauflage des Bullshits von Allan und Barbara Pease bekommen werden, sondern eine wesentlich belastbarere Grundlage. Wie bereits in mehreren vorangegangenen Kapiteln zeigt Nguyen-Kim, dass die Frage der Ähnlichkeit männlicher und weiblicher Hirne letztlich in die Irre führt, weil das Gehirn sich permanent verändert; die Unterschiede meines eigenen Hirns im Verlauf meines erwachsenen Lebens sind wesentlich signifikanter als die zwischen generisch männlichen und weiblichen Hirnen.
Dass Nguyen-Kim keine Angst vor kontroversen Themen hat, zeigt sie denn auch in Kapitel 8: "Sind Tierversuche ethisch vertretbar?" Natürlich ist Ethik per se nichts, was ihren Anforderungen an Wissenschaft genügen könnte, weswegen sie sich damit auch gar nicht großartig aufhält; sie will vielmehr aufzeigen, warum Tierversuche überhaupt durchgeführt werden, wie das geschieht und welche Alternativen bestehen. Ihre These: "Der Zug bleibt nicht stehen"; die Fragestellungen, die durch Tierversuche beantwortet werden sollen, bleiben uns so oder so erhalten und verlangen eine Antwort. Und diese lässt sich oftmals nur durch die entsprechenden Versuche erlangen. Nguyen-Kim zeigt, dass die Zahl der Tierversuche bereits drastisch abgenommen hat, aber dass für manche Forschungsfelder keine andere Möglichkeit besteht - auch nicht die, die von radikalen Tierschützer*innen oft gefordert wird, Menschen zu nutzen - schlicht, weil es nicht genug Menschen gibt. Nguyen-Kim erklärt auch, dass die Studien oftmals missverstanden werden, weil Ergebnisse zwar in Mäusen auftreten, aber das nicht zwingend heißt, dass sie sich in Menschen reproduzieren lassen.
In Kapitel 9 unternimmt sie dann den Versuch eines Fazits, der titelgebenden "kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit". Nguyen-Kims Forderung ist nicht, weniger zu streiten, sondern dies besser zu tun. Sie wendet sich klar gegen den oft vorgebrachten Vorwurf der "Wissenschaftsreligion" (wie er besonders unter Klimakrisen- und Covid-Leugner*innen zu finden ist) und singt ein Loblied auf die "Kunst des wissenschaftlichen Konsens". Statt einer Religion feiert sie den "wissenschaftlichen Spirit".
Generell fällt auf, mit welchem didaktischen Anspruch das Buch geschrieben ist. Jedes Kapitel beginnt mit einer Fangfrage, die Lesenden werden geradezu sokratisch durch den Text geleitet und zur eigenen Erkenntnis gebracht. Nguyen-Kim erfüllt ihre eigenen Ansprüche und erklärt die Wissenschaft. Wertungen bringt sie nur dort vor, wo diese sich klar aus der Wissenschaft ableiten (etwa bei der Wirksamkeit von Homöopathie), während bei anderen üblicherweise beide Seiten ihre Existenzberechtigung bekommen (sie kann etwa mit Videospielen nichts anfangen). Ihr großartiger Stil und überragende Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte leicht verständlich zu erklären, sind da quasi die Kirsche auf dem Kuchen.
Ein letztes Wort zu ihren Videos: ich kenne diese nicht, weiß aber aus anderen Rezensionen, dass für regelmäßige Zuschauer*innen vermutlich wenig Neues in dem Buch ist, weil Nguyen-Kim die Themen alle schon auf die eine oder andere Art in ihren Videos angesprochen hat.
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