Manfred Vasold - Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg

In den Jahren 1918 und 1919 fegte eine Grippeepidemie über die Welt, die irgendwo zwischen 50 und 100 Millionen Opfer forderte. Wähend der Covid-Pandemie wuchs das Interesse an dieser weitgehend vergessenen Epidemie kurzzeitig an; vor allem Laura Spinneys Werk (hie besprochen) schoss dabei in die öffentliche Wahrnehmung. Während Spinneys Anspruch der einer Gesamterzählung der Epidemie war, grenzt Manfred Vasold sein Beobachtungsgebiet stärker ein. Wie der Untertitel bereits verrät, geht es ihm vorrangig um die Wechselwirkungen zwischen der Seuche und dem Ersten Weltkrieg. Zentrale Themen sind hierbei, ob die Epidemie durch den Krieg verschlimmert wurde und ob sie dazu beitrug, die deutsche Niederlage zu besiegeln. Wie er diese Argumentation aufbaut und inwieweit sie tragfähig ist, soll im Folgenden untersucht werden.

In Kapitel 1, "Vier Jahre Blutvergießen", rekapituliert Vasold noch einmal den Kriegsverlauf. Vom Ausbruch 1914 und den Massenschlachten von Marne und Tannenberg über den Beginn des Stellungskriegs, die große deutsche Offensive im Osten 1915 und die Brusilov-Offensive 1916, Verdun, Somme und der Rückzug auf die Hindenburglinie; der kurze Konflikt in den Kolonien; die U-Bootkriegsführung und schließlich die russische Revolution und der Kriegseintritt der USA. Das Kapitel dient vorrangig dazu, die Erinnerung aufzufrischen oder einen sehr kurzen Überblick für Einsteiger*innen zu geben; wer den Ersten Weltkrieg kennt, kann diese Seiten getrost überblättern - es sind aber ohnehin kaum zehn. Viel wichtiger ist der folgende Teil, der sich mit der Hungerblockade und dem rapide sinkenden Lebensstandard beschäftigt, denn die Unterernährung und Kälte (Brennmaterial war chronisch knapp und die Wohnungen und Häuser im Winter eiskalt) sorgten für eine deutlich steigende Sterblichkeit an der "Heimatfront". Die Pandemie traf 1918 nicht wie Covid 2020 auf gesunde Gesellschaften, sondern auf durch vier Jahre Blutvergießen ausgezehrte, deren Widerstandskraft bereits deutlich eingeschränkt war.

Das zweite Kapitel, "Der Ausbruch der Seuche", zeichnet dann den Beginn der Krankheit nach. Anders als der Name suggeriert, liegt der Ursprung der Spanischen Grippe nicht in Spanien, sondern in den USA. Da aber Spanien als neutrale Macht keiner so scharfen Pressezensur unterlag wie die kriegführenden Mächte - in denen die Nachricht von der Pandemie unterdrückt wurde - kamen die ersten offiziellen Berichte über den Ausbruch aus Spanien, das dann die zweifelhafte Ehre der Namensgebung bekam. In den USA brach die Krankheit in einem Militärlager aus, wo beste Bedingungen herrschten: zahlreiche Menschen auf engstem Raum in fragwürdigen sanitären Verhältnissen. Es zeigten sich bereits bei diesen ersten Ausbrüche die Merkmale, die die Spanische Grippe auszeichneten. Einerseits brach die Seuche unvermittelt aus und konnte Menschen abends töten, die morgens noch gesund gewesen waren - ein Infektionsverlauf zum Höhepunkt, der uns aus Covid auch bekannt ist (wenngleich weniger tödlich). Zudem traf die Krankheit nicht wie sonst üblich die ganz jungen und ganz alten Menschen besonders heftig, sondern die 20-50jährigen, mithin die eigentlich körperlich fitteste und widerstandsfähigste Population. Die USA reagierten auf den Ausbruch mit einer "don't worry"-Kampagne und versuchten, das Leben normal weiterlaufen zu lassen. Spanien indessen reagierte mit Einreisebeschränkungen und Quarantäne, was zwar nur sehr eingeschränkten Erfolg hatte (wenngleich mehr als der Ansatz der Amerikaner), gleichzeitig aber das Land als Ursprung zu markieren schien.

Kapitel 3, "Die Gruppe - Eine Infektionskrankheit", widmet Vasold einer Erklärung der Grippe. Die Inkubationszeit des Virus konnte oft in Stunden gemessen werden, die Symptome waren Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Fieber bis zu 41 Grad. Oft war die Krankheit, so man nicht daran starb, in drei bis fünf Tagen vorbei. Die Betroffenen berichteten auch von großer Antriebslosigkeit. Vasold stellt auch die Details des Erregers dar - das Virus war den Zeitgenossen völlig unbekannt und konnte auch nicht identifiziert werden, was die historische Untersuchung deutlich erschwert -, bevor er auf die Behandlung und Vorsorge eingeht: beide waren unterirdisch. Anfang des 20. Jahrhunderts war die Versorgung mit Ärzten in allen Ländern noch sehr schlecht, wenngleich auf unterschiedlichen Niveaus, und der Großteil der Ärzte war eingezogen und diente in den Armeen. Versorgung zu bekommen war für die Kranken daher fast unmöglich. Da man das Virus nicht verstand, waren allerlei unwirksame Hausmittel und geradezu abergläubische Verhaltensweisen im Einsatz.

Nach dieser Übersicht geht es in Kapitel 4, "Die erste Grippewelle". Die Erzählung beginnt mit der deutschen Frühjahrsoffensive ("Unternehmen Michael"), das militärisch bald ins Stocken kam - auch wegen der rasant zunehmenden Krankenzahlen. Dasselbe Problem fand sich auf der anderen Seite der Front, wenngleich die miese Versorgungslage die Deutschen anfälliger machte als die Alliierten. Vasold spekuliert hier darüber, ob der Defätismus, der sich ab Sommer in der deutschen Armee ausbreitete, auch auf die Grippe zurückzuführen war. Zur gleichen Zeit sprang die Krankheit von Europa und Nordamerika aus nach Asien über (zuerst über Truppentransporte nach Mumbay), ebenso nach Südamerika und Afrika. Spätestens im Herbst 1918 handelte es sich um ein globales Phänomen.

Bei einer ersten Welle sollte es nicht bleiben. Kapitel 5, "Die zweite Welle rollt über Nordamerika", zeichnet nach, wie die zweite Welle der Pandemie über die USA rollte. Vasold zeichnet anhand einzelner Städte wie Chicago, Philadelphia und Atlanta die unterschiedlichen Verläufe der Grippe und Behördenreaktionen nach. Die Mortalität der Epidemie wich unter den verschiedenen Städten und Bundesstaaten drastisch ab, ohne dass klar wäre, woher die Unterschiede kamen. An manchen Orten reagierten die Behörden kompetent mit Maßnahmen, die angetan waren die Ausbreitung zu verringern; an anderen ignorierten sie die Gefahr (etwa an der Westküste) wider besseren Wissens und verschlimmerten die Seuche so. Am schlimmsten litten die indigenen Völker Nordamerikas; in den Reservaten wurden Mortalitätsraten von übe 15% erreicht. Die sozialen Ungleichheiten und rassistischen Strukturen des Landes lassen sich überall aus den Todesraten herauslesen.

In Kapitel 6, "Schwarzer Oktober", zeichnet Vasold den Weg der Seuche um die Welt nach. Den Anfang macht Großbritannien, wo das Bild den USA stark ähnelt. Danach wendet er seinen Blick nach Indien, wo bei einer Mortalität von rund 10% etwa 150 Millionen Menschen erkrankten. Das Land war durch die Belastungen des Krieges - wie auch im Zweiten Weltkrieg beutete die Kolonialmacht es rücksichtslos aus - und eine vorhergehende Pest-Epidemie geschwächt. In Indonesien war die Lage ähnlich dramatisch; auch hier hatte kurz vorher die Pest gewütet. In allen betroffenen Ländern standen zu wenig Lebensmittel zur Verfügung, weil die Krankenstände die Ernte beeinträchtigten (die oft ohnehin durch den Krieg reduziert war). In Deutschland zitiert Vasold einige Militärberichte zum Fortschreiten der Seuche, ehe er die verschiedenen Städte untersucht. Unter den prominenten Betroffenen ist vor allem Max von Baden zu nennen, der einen Großteil seiner kurzlebigen Kanzlerschaft im Bett verbrachte. Wie auch in Frankreich waren besonders Telefonist*innen und Eisenbahner betroffen, was seine ganz eigenen Konsequenzen für die Störung der Logistik hatte. Zuletzt skizziert Vasold den Zusammenbruch Österreich-Ungarns, der zeitgleich mit dem Höhepunkt der Pandemie zusammenfällt.

Kapitel 7, "Einmal um den Erdball", zeichnet den Weg der Grippe außerhalb der bereits genannten Länder und nach dem Oktober nach. Die zweite Welle, die ebenfalls in den USA begonnen hatte, sprang von Europa und Südostasien nun auf den Rest der Welt über. In Neuseeland, Afrika und Brasilien zeigte sich überall dasselbe Bild: je prekärer die dortigen indigenen Bevölkerungen waren, desto höher ihre Sterblichkeit (etwa bei den Maori Neuseelands). Für Afrika liegen überhaupt fast keine Zahlen vor, was jede seriöse Schätzung deutlich erschwert. Der restliche Weg um den Globus - von Japan über die pazifischen Achipele nach Kanada und Australien, von Zentralamerika nach Südamerika - wird von Vasold ebenfalls nachgezeichnet und mit Sterblichkeitsraten unterfüttert. Eine Art Gesamtanalyse fehlt aber weitgehend: warum in manchen Ländern die Mortalität so viel niedriger war als in anderen, bleibt weitgehend unklar, dafür ist das Kapitel sehr repetitiv: die Seuche kommt, die Reaktion ist unzureichend, die Mortalität bekommt eine Ziffer, nächste Region. Hier wäre etwas mehr analytische Struktur angeraten gewesen.

Das achte Kapitel, "Die Spanische Grippe: eine Bilanz", versucht sich an einer Gesamtschau der Grippe. Die Sterblichkeit taxiert Vasold in den "zivilisierten", will heißen: reichsten, Gesellschaften am niedrigsten. Perverserweise sind das auch diejenigen, die üblicherweise den Krieg führten und am meisten für die Ausbreitung der Krankheit verantwortlich waren. In einer zweiten Kategorie liegen Länder, die auf einer mittleren Entwicklungsstufe liegen, etwa Mexiko. Am schlimmsten erwischte es allerorten die Länder mit großer indigener Bevölkerung und Kolonialregime sowie niedriger Infrastruktur. Der Frage, inwieweit die Seuche den Verlauf des Krieges beeinflusst hat, misst Vasold dann noch einmal besonderen Raum zu. Insgesamt ist das natürlich schwer zu quantifizieren. Geholfen hat es sicher nicht, aber da sie Seuche alle Armeen und Gesellschaften betraf, ist es schwer auszumachen, inwieweit sie den Kriegsverlauf entscheidend veränderte. Vasold gesteht das auch unumwunden ein und stellt nur die recht unstrittige Behauptung auf, dass eine globale Pandemie die Innenpolitik und Kriegführung nicht unbetroffen wird gelassen haben. Seine These ist, dass der Zusammenbruch der Mittelmächte im Oktober und November 1918 mittelbar mit der Grippe zu tun hat: nicht so sehr ursächlich - das wäre ein Trugschluss - aber beschleunigend. Deutschland hätte den Krieg auch ohne Grippe verloren, aber die Grippe mag der Faktor gewesen sein, der dem überraschend schnellen Zusammenbruch als Katalysator gedient hat. Zuletzt blickt Vasold kurz auf die demografischen Folgen (viele junge Menschen starben) und auf ein kurioses Detail, dem er nur eine Seite widmet, das uns aber heute sehr ins Auge sticht: viele Grippebetroffene klagten über noch jahrelang anhaltende Erschöpfungssymptome. Long Spanische Grippe vielleicht? Die Folgen der Grippe für die Produktivität und Stabilität der 1920er Jahre deutet Vasold nur kurz an, ehe er mit dem Aufruf nach mehr Forschung schließt.

Tatsächlich ist mehr Forschung sicher angebracht. Vasold umschifft die gefährliche Klippe, seinem Untersuchungsgegenstand zu viel Bedeutung zur Erklärung weltgeschichtlicher Ereignisse zuzumessen, glücklicherweise. Eine Frage, die sich mir stellt, liegt im Revisionismus des Kriegsergebnisses. Warum wurde die Spanische Grippe nie in Weimar thematisiert? Auf diese Frage hat Laura Spinney eine Antwort, weil die Grippe nirgendwo thematisiert wurde: sie verschwand trotz der horrenden Todeszahlen weitgehend vollständig aus dem öffentlichen Bewusstsein, ein gewaltiger, kollektiver Verdrängungsakt, dessen Beginn für die Covid-Pandemie wir gerade auch beobachten können. Ich wäre jedenfalls sehr an einem Band interessiert, der das letzte Kapitel deutlich ausbaut und weniger auf den Verlauf der Epidemie als die Folgen eingeht. Hier scheint mir noch einiges auszugraben zu sein.

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