Matthias Waechter - Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert

C.H. Becks Reihe zur Geschichte des 20. Jahrhunderts hat mit Ulrich Herberts Mammutwerk zur deutschen Geschichte (hier rezensiert) einen ebenso prominenten wie lesenswerten Blickfang. Aber die Grundstruktur einer Mischung aus Quer- und Längsschnitten durch die Geschichte, die der Reihe zugrunde liegt, ist grundsätzlich ebenso erhellend wie dem Lesefluss zugänglich, so dass Matthias Waechters Eintrag in die Reihe für die Geschichte Frankreichs für mich eine Art Lackmustest des Serienkonzepts darstellt: da ich in der Geschichte der Republik nicht so sehr bewandert bin, kann ich auf wesentlich weniger Vorwissen zurückgreifen als bei Herberts Mammutwerk. Ob Waechter es für mich trotzdem verständlich machen kann? Immerhin hat er nur ein starkes Drittel des Umfangs von Herbert, aber nichtsdestotrotz ist die Fülle an Informationen, Analysen und Einordnungen und ihre große Dichte durchaus eine Herausforderung. Ich habe mich mit großer Freude an sie gemacht.
Der erste Teil, "Republik der Widersprüche", behandelt die Zeit zwischen 1870 und 1914. Interessant ist an der Überschrift für mich bereits, dass ähnlich der Geschichte des Kaiserreichs die Widersprüchlichkeit der Zeit zwischen Moderne und Beharrung betont wird, die Deutschland und Frankreich trotz aller Unterschiede zu teilen scheinen.
Im ersten Kapitel, "Die Erschaffung einer Nation", befasst sich Waechter mit dem Paradox, dass die in der Kriegsniederlage von 1870 geborene Dritte Republik zwar eine Traditionslinie zu den Idealen der Französischen Revolution in Anspruch nahm, die Realität dem aber gar nicht entsprach. Weder war die Gleichberechtigung aller Bürger gegeben, noch war die kolportierte Einheit der Nation erreicht. Vielmehr war Frankreich in verschiedene Regionen zergliedert, die teilweise so stark unterschiedliche Dialekte hatten, dass von verschiedenen Sprachen gesprochen werden musste.
Entsprechend gingen die republikanischen Reformer, die in den 1880er Jahren gegenüber den republikfeindlichen Konservativen die Mehrheit errangen, ans Werk, diese nationale Einheit und damit die Nation schlechthin überhaupt erst zu schaffen. Sie verordneten Verwaltungsreformen, trieben die Trennung von Staat und Kirche voran (die zu einem jahrzehntelangen kalten Bürgerkrieg führte, ehe sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend im Sinne der Republik befriedet wurde) und schufen ein Schulsystem, das die "französische" Sprache und Kultur verbindlich in alle Winkel des Hexagons brachte. Der Prozess war lang und von Rückschlägen geprägt, aber das Endziel war relativ klar. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Frankreich ein wesentlich anderes Land als 1870 und tatsächlich wesentlich geeinter und "nationaler". Auch hier liegt in meinen Augen eine klare Parallele zur deutschen Geschichte.
Das zweite Kapitel, "Ein republikanisches Imperium?", wendet sich dem französischen Kolonialreich zu. Von Beginn an lag in den republikanischen Idealen ein Widerspruch zu der Idee, ein Imperium zu erwerben (ein solches war mit Napoleon III. ja gerade erst zu Ende gegangen!). Dennoch trieb die Republik den Erwerb von Kolonien voran und gliederte sie ideologisch in das republikanische Projekt ein: in der Selbstwahrnehmung brachte Frankreich Kultur und Entwicklung und verfolgte das Fernziel, die Einwohner*innen der Kolonien zu französischen Citoyens zu erziehen, die irgendwann einmal so weit sein sollten, auch Franzosen zu sein. Wie in Frankreich selbst wurde dabei auf lokale Eigenheiten keinerlei Rücksicht genommen; das französische Einheitsprojekt sollte alles andere beseitigen.
Kapitel 3, "Eine "blockierte Gesellschaft"?", wirft unter der Fragestellung, ob das Modernisierungsprojekt nicht von gesellschaftlichen Unterschieden und Spannungen blockiert worden war, einen Blick auf die soziologische Zusammensetzung Frankreichs jener Tage. So war das Land bei allen politischen Egalitätsvorstellungen von sozialen Ungleichheiten geprägt, die den Vergleich mit Nachbarn im schlechten Sinne nicht zu schämen brauchten. Eine schmale Führungsschicht der Reichen und Mächtigen thronte über einer weitgehend armen Masse. Anders als etwa im Kaiserreich aber waren große Teile der Bevölkerung als kleine und mittlere Bauern tätig; Frankreich war gewissermaßen eine Bauernrepublik. Entsprechend verfügte das Land auch über keine Arbeiterschicht in dem Sinne; die Industrie war auf wenige Regionen konzentriert und selbst dort eher mittelständisch organisiert. Eine Arbeiterbewegung konnte so nicht entstehen.
Das größte Thema der Zeit aber war die Bevölkerungsentwicklung - beziehungsweise ihr Stagnieren. Anders als im vitalen Nachbarland Deutschland entwickelte sich die Bevölkerung nicht voran, der demographische Abstand, mit Sorge betrachtet und als elementares Sicherheitsrisiko gesehen, wuchs immer mehr. Der Arbeitskräftebedarf war nur durch Einwanderung zu decken, die wiederum von den alteingesessenen Franzosen mit großem Misstrauen beachtet wurde; die Eingewanderten waren Bürger maximal zweiter Klasse und in besonderem Maße von Ausgrenzung und wirtschaftlichen Problemen betroffen.
Das vierte Kapitel, "Frankreich um 1900", bietet den ersten Querschnitt des Bandes. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei die Dreyfus-Affäre, die das Land für fast zwei Jahrzehnte beschäftigte und zum Blitzableiter des großen Rechts-Links-Gegensatzes der Republik wurde: der Antisemitismus und Antirepublikanismus der Rechten kaprizierte sich auf das Festhalten an der (längst widerlegten) Schuld des Hauptmanns und dem Schutz der "Ehre der Armee", während die republikanischen "Radikalen" eher versuchten, den Hauptmann zu rehabilitieren und im gleichen Atemzug ihre Gegner zu diskreditieren. Antisemitismus und Nationalismus erlebten um 1900 ihre unheilige Blüte und konzentrierten sich auf die Affäre (und natürlich den damit verwobenen Streit um den Laizismus).
Ein anderer Schwerpunkt von Waechters Betrachtung ist die Rolle Paris', das als Hauptstadt Frankreichs einerseits ein riesiges wirtschaftliches Bevölkerungszentrum war, als Heimat von Kultur und Wissenschaft aber auch eine bis heute bestehende Sonderrolle innerhalb der französischen Gesellschaft einnahm, wie sie etwa Berlin nie für sich in Anspruch nehmen konnte. Paris und Frankreich waren nicht eins, auch wenn man das in Paris naturgemäß anders sah, eine Spannung, die sich wie ein Roter Faden durch die französische Geschichte zieht und bereits in der Revolution 1789 und dem Aufstand der Kommune 1870/71 ihre Vorläufer hat.
Der zweite Teil, "Gewonnener Krieg, verlorener Frieden", behandelt die Zeit zwischen 1914 und 1940. Der Erste Weltkrieg ist natürlich ein einschneidender Punkt in der französischen Geschichte, der nur vordergründig nicht einen Bruch wie in Deutschland darstellt.
Eben dieser wird in Kapitel 5, "Der Große Krieg", behandelt. Waechter geht es dabei nicht um eine umfassende Schilderung des Kriegsverlaufs, sondern vor allem um seine Genese und Entwicklung. In der Genese geht es vor allem die Entwicklung des französischen Allianzsystems, das sich in den Jahren vor dem Krieg entscheidend von einem Defensivbündnis hin zu einer kollektiven Garantie verwandelte, die auch kriegerische Entwicklungen auf dem Balkan einschloss und damit den europäischen Krieg ebenso garantieren half wie der spätere deutsche Blankoscheck. Die eigentliche Kriegsentwicklung legt Wert auf die "Union Sacrée", die französische Version des Burgfriedens, und die ebenfalls wie in Deutschland ab 1917 betriebene Abschaffung des Parlamentarismus zugunsten einer autoritären Regierung, um den Krieg zu Ende zu bringen. Dies war nach der "Hölle von Verdun" nötig geworden, da die Meutereien von 1917 einen Bruch in der "Union Sacrée" und sich ausbreitenden Defätismus belegten, dem Clemenceau durch eine Radikalisierung der Kriegsführung entgegenwirkte.
Der folgende Versailler Vertrag wird in Kapitel 6, "Der prekäre Frieden", näher beleuchtet. Der Ausgang des Krieges war für das Land, trotz des Sieges, katastrophal. Gewaltige Verluste und Zerstörungen bedeuteten die Notwendigkeit gewaltiger Ausgaben für den Wiederaufbau, die das Land aus Reparationen zu stemmen hoffte. Genau dies erwies sich als unmöglich, auch nach der Besetzung des Ruhrgebiets, die es im Endeffekt zwang, seine Finanzpolitik unabhängig von den Reparationszahlungen zu gestalten und Steuererhöhungen durchzusetzen, um die Kriegskosten zu decken (die es anders als Deutschland nicht weginflationieren hatte können). Die französischen Sicherheitsinteressen konnten durch die "Enttäuschung von Versailles" auch nicht gedeckt werden; die folgenden Bündnisse mit den neuen osteuropäischen Staaten waren ein unvollständiger Ersatz. Letztlich basierte Frankreichs Sicherheit darauf, dass der Völkerbund wie versprochen funktionierte, was aber wegen des amerikanischen Rückzugs in den Isolationismus, dem bald der britische folgte, praktisch unmöglich war. Die Sicherheitsgarantien von Versailles waren damit bereits 1920 hinfällig, der Versuch, Deutschland alleine niederzuhalten, scheiterte letztlich 1923. Der Verzicht darauf, im Friedensvertrag wesentlich aggressivere Ziele durchzusetzen, schuf daher neue Probleme.
Zudem gab es starke innenpolitische Spannungen. Die französische Rechte instrumentalisierte die "Union Sacrée" in eine neue, aggressiv-abgrenzende Bedeutung, nach der diese für die politische Rechte galt, die "wahre Franzosen" gegen die Republikaner und Sozialisten stellte. Letztere waren durch die Geschehnisse in Russland exponiert, die einerseits (ebenfalls wie in Deutschland) die Spaltung der Linken in Kommunisten und Sozialisten bedeutete, andererseits aber die Linke als totalitäres Schreckensbild inszenierfähig machte. Auch außenpolitisch war dies wegen des Verhältnisses zur Sowjetunion bedeutsam, die man natürlich gerne in die Sicherheitsarchitektur gegen Deutschland integriert hätte. Zudem forderten die Arbeiter endlich die gesellschaftliche Gleichberechtigung ein, die ihnen in der Republik bisher verwehrt gewesen war. In einer Serie aggressiver Streiks legten sie das Land lahm, um grundsätzliche Zugeständnisse der Arbeitgeber und der staatlichen Sozialgesetzgebung zu erzwingen. Wie in Deutschland auch waren ihre Gewinne dabei stets prekär und schufen eine aggressive Abwehrreaktion der radikalen Rechten, die im sich entwickelnden rechtsextremistischen Milieus und seinem Versprechen auf "Einheit" anschlussfähig war.
Zuletzt erlebte das Land einen "Höhepunkt des Imperialismus", da es seine Kolonien um die Mandatsgebiete der Versailler Friedensordnung erweitern konnte und nun mehr Kolonialgebiete als je zuvor beherrschte. Gleichzeitig war der Anspruch, diese Gebiete zu entwickeln, nun auch durch die völkerbundliche Mandatierung vorgegeben. Die zunehmende Kluft zwischen diesem Anspruch und der kolonialen Praxis würde sich noch schwerwiegend auswirken.
Der zweite Querschnitt in Kapitel 7, "Frankreich um 1926", wirft auf einen Blick auf die "verrückten Jahre", die "années folles", wie man die "Goldenen Zwanziger" in Frankreich nennt. Waechter betrachtet zuerst die Erinnerung an den Großen Krieg, der durch die Veteranenverbände, denen teilweise bis zu 80% aller Veteranen angehörten, geprägt war und einen komplett anderen Verlauf nahm als in Deutschland, wo die Verbände wie der "Stahlhelm" zu Vorfeldorganisationen des Faschismus und Nationalsozialismus wurden. In Frankreich war die Grundstimmung pazifistisch; der Krieg wurde als furchtbare Verschwendung gesehen, deren Wiederholung es unbedingt zu verhindern galt. Das zeigte sich auch an den Kriegsdenkmälern, die pointiert nicht den Sieg feierten, sondern der Toten als Opfer einer Katastrophe gedachten.
Das Land verschleppte zudem weiterhin den wirtschaftlichen Strukturwechsel. Die großen Konzerne bildeten Kartelle, um Konkurrenz auszuschließen und so international konkurrenzfähig zu bleiben, während die kleingewerbliche und agrarische Struktur der Wirtschaft sich zäh hielt. Der Wertverlust des Franc gegenüber Dollar und Pfund konnte nur durch einen Währungsschnitt erreicht werden, der unter der Schirmherrschaft des Kriegshelden Poincaré von der Bevölkerung trotz der riesigen Verluste auch akzeptiert wurde (man stelle sich vor, die deutsche Rechte hätte sich so hinter die unpopulären wirtschaftlichen Maßnahmen gestellt).
Paris indessen blieb das kulturelle Zentrum des Landes, auch mit der neu entstehenden Filmindustrie. Hier entstand auch ein fruchtbarer Dialog mit der angloamerikanischen Kunst, der eine beeindruckende kosmopolitische Offenheit der französischen Szene belegte, die dazu führte, dass mehrere schwarze Künstler*innen, alle voran Josephine Baker, in Frankreich ihre Wahlheimat suchten.
Kapitel 8, "Die Krise der 1930er Jahre", befasst sich mit jener merkwürdigen Krisenzeit in den 1930er Jahren, als das Land zwar anders als die meisten anderen Länder des Westens nicht von einer kompletten Rezession betroffen war, aber in einer langen Stagnation steckte, aus der es kein Entkommen zu geben schien. Die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stark gestiegenen Exporte brachen fast vollständig ein und konnten durch die schwache Binnennachfrage nicht kompensiert werden. Die Arbeitslosigkeit wurde auch niedrig gehalten, indem man ausländische Arbeiter*innen rücksichtslos auswies.
Weiterhin jedoch konnte, trotz des Erstarkens rechtsradikaler außerparlamentarischer Verbände wie der Feuerkreuzler, keine faschistische Bewegung in Frankreich Fuß fassen. Waechter begründet das vor allem mit dem tief verankerten Pazifismus der Franzosen, der die kriegsbejahenden Elemente des Faschismus für das Land unattraktiv machte. Innenpolitisch gab es einen Wandel von den Rechtsregierungen zwischen Konservativen und "Radikalen" hin zu einer Linksregierung, bei der die "Radikalen" mit den Sozialisten und Kommunisten, die anders als in Deutschland sich der Zusammenarbeit nicht verweigerten, zusammenschlossen. Diese "Volksfront" kam 1936 an die Macht und führte ein beispiellos gewaltiges innenpolitisches Reformprogramm durch, das dennoch hinter den Erwartungen zurückblieb. Als Léon Blums Regierung gegen Streikende vorgehen musste, brach auch die Einheit der Linken wieder. Gleichzeitig wuchs die französische extreme Rechte immer mehr. Gewalt auf den Straßen zwischen Kommunisten und Faschisten nahm zu, und die Aufrechterhaltung der Ordnung durch die Volksfrontregierung, die auch Opfer auf der politischen Linken forderte, führte zum Bruch des ersten linken Kabinetts der französischen Geschichte.
Außenpolitisch war die Zeit vom Versuch der Integration Deutschlands in die Friedensordnung und einem gemeinsamen Auskommen geprägt. Doch als das Land unter Hitlers Führung den Versailler Vertrag zu revidieren suchte, blieb eine eindeutige Antwort Frankreichs aus. Zu kriegsmüde war die Bevölkerung, zu pazifistisch eingestellt: eine Intervention stand politisch außer Frage. Die Appeasement-Politik fand breite Unterstützung nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Frankreich, und so war das Land auf den Krieg mit Deutschland beklagenswert schlecht vorbereitet, auch wenn ab dem Frühjahr 1939 eine Entschlossenheit zur Verteidigung entstand, die Hitler im Sommer 1939 überraschen sollte (und bald wieder erodieren).
Der dritte Teil, "Vom Zusammenbruch zur Dekolonisierung", behandelt die Jahre 1940 bis 1962. Dass 1940 einen schwerwiegenden Einschnitt in die französische Geschichte bedeutete, dürfte klar sein. Der "Waffenstillstand" - eigentlich eine Kapitulation - läutete das Ende der Republik ein.
In Kapitel 9, "Die zerstörte Einheit", zeigt Waechter auf, wie der Zusammenbruch durch die Krise der 1930er Jahre einerseits, aber auch durch die zermürbende und die Moral völlig erodierende Untätigkeit des "Droles de Guerre" (Sitzkrieg) entstand und die Einheit des Landes sowohl territorial als auch gesellschaftlich und politisch bedeutete. Die Aufteilung in Besatzungszonen zerstörte die territoriale Einheit, aber die Einsetzung Pétains als "Held von Verdun" als Diktator auf Zeit erwies sich als, wenngleich weithin gefeierter, Fehlgriff. Die Abschaffung der Republik war damals selbst unter "Radikalen" mehrheitsfähig, doch Pétain erwies sich als in seiner Kollaboration viel zu weitgehend und bezüglich Deutschlands Chancen zu defätistisch. Die Rechten errichteten den antirepublikanischen, xenophoben und antisemitischen Staat, den sie sich schon lange gewünscht hatten, doch entstand unter de Gaulle in London ein Gegenzentrum, das Waechter von drei Hauptstädten reden lässt: das kollaborierende Vichy, das widerständige London und das besetzte Paris dazwischen, das auch die Trennlinien in der Bevölkerung verkörpert, die in den folgenden Jahren deutlich werden würden.
Vichy war eine merkwürdige Konstruktion. Nicht vollständig faschistische Diktatur, mit einem beinahe entpolitisierten Pétain darüber schwebend, vollständig bereit zur Kollaboration und rettungslos in die NS-Verbrechen verstrickt, von der Bevölkerung aber getragen. Die Politiken Vichys selbst waren widersprüchlich und teils anachronistisch, gerade auf wirtschaftlichem Gebiet. In London indessen versuchte de Gaulle, sein "freies Frankreich" als legitime Regierung zu installieren, vor allem mit der Zielsetzung, zum Anführer aller Widerstandsgruppen in Frankreich zu werden. Und in Paris zeigte sich das Besatzungsregime mit einer merkwürdigen Mischung aus Zurückhaltung der Deutschen, die mit extrem dünner Personaldecke operierten, und bereitwilliger Kooperation der französischen Verwaltung, ohne die die Besatzung gar nicht möglich gewesen wäre.
Kapitel 10, "Frankreich um 1942", baut diese Aspekte im nächsten Querschnitt weiter aus. In diesem Jahr intensivierte sich der Widerstand (auch durch den durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion induzierten Strategiewechsel der Kommunisten, die auf Weisung Moskaus ihre Kollaboration einstellten und in den offenen Widerstand wechselten, der soweit ging, dass "Widerstand" und "Kommunisten" praktisch synonym wurde), während das Vichy-Regime in eine Legitimationskrise geriet, aus der es sich nicht erholen würde. Die intensivierende Judenverfolgung einerseits (die ohne die Kollaboration nicht möglich gewesen wäre) und die militärischen Niederlagen in Afrika andererseits bildeten den Hintergrund der Besetzung ganz Frankreichs im November des Jahres.
De Gaulle selbst wurde durch militärische Fehlschläge vor allem in Nordafrika seinerseits isoliert und konnte nur durch die zähe Einigung der disparaten französischen Widerstandsgruppen unter seiner Schirmherrschaft - stark unterstützt durch die zunehmend repressive deutsche Politik - seine Exilregierung wieder als Player etablieren. Vichy-Überlaufer wie Darlan und Giraud verkomplizierten das Bild das Bild noch zusätzlich. Auch die Kooperation Frankreichs bei der Verfolgung der Juden findet ihre Würdigung und stellt sicher kein Ruhmesblatt für das Land dar. Waechter schließt das Kapitel mit einigen biografischen Skizzen von Widerständlern wie Stéphane Hessel oder Kollaborateurinnen wie Coco Chanel, die die Bandbreite französischen Verhaltens jener Zeit offenlegen und den späteren Résistance-Mythos Lügen strafen.
Kapitel 11, "Der schwierige Aufbau einer neuen Ordnung", setzt mit der Befreiung Frankreichs 1944 ein. Waechter stellt fest, dass die Franzosen im Großen und Ganzen politisch indifferent waren und weder der einen noch der anderen Seite sonderlich zugeneigt waren, was er auch mit den Härten des Besatzungsalltags erklärt. Innerhalb Frankreichs spricht er allerdings durch die Gründung der faschistischen "Milice", die mit brutaler Gewalt gegen die Widerstandsgruppen vorging, von einem Bürgerkrieg. De Gaulle und seinen Verbündeten gelang es in jenen Tagen, den Mythos der "Selbstbefreiung" Frankreichs zu etablieren, der für die Legitimität der neuen Ordnung so grundlegend sein sollte. Gleichzeitig sabotierte de Gaulle aber das Entstehen einer "Résistance"-Partei, da er die vielen Kollaborateure einbinden wollte. Stattdessen konzentrierte er seine Energie auf die Schaffung einer neuen, exekutivlastigen Verfassung mit ihm an der Spitze. Dies scheiterte; die Vierte Republik war erneut mit einer starken Legislative ausgestattet.
Indessen änderte sich die wirtschaftliche Verfassung deutlich. Gewerkschafts- und Streikrecht wurden massiv ausgebaut und auch angesichts der schlechten Wirtschaftslage direkt genutzt. Der französische Staat mischte sich wesentlich stärker ins Wirtschaftsleben ein als in den anderen westlichen Ländern, wenngleich das französische Planen wenig mit dem realsozialistischen gemein hatte. Eine treibende wirtschaftspolitische Kraft war Jean Monet, der nicht nur diese Planung aufbaute, sondern auch gleichzeitig eine strategische Modernisierungsvision verfolgte, die in einer engen wirtschaftspolitischen Anbindung Frankreichs an die USA bestand, was gleichzeitig die Marktwirtschaft stärkte und eine fruchtbare Synthese ergab.
Das Herzstück von Monets Wirken aber war die EGKS, die gleichzeitig französische Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen befriedigen sollte und der unrealistischen Vision der Gaullisten von Frankreich als einer unabhängigen "dritten Kraft" im Weltsystem diametral gegenüberstand. Der Wahlsieg der Gaullisten 1951, die sich in Fundamentalopposition mit den Kommunisten verbanden, schon allein, weil sie eine Auflösung des französischen Empires befürchteten, verhinderte den Integrationsschritt der EVG; die Gründung der EWG und Euratoms konnte er gleichwohl nicht verhindern, womit der europäische Einigungsprozess zwar gebremst und verrechtlicht, aber nicht aufgehalten worden war. Ohnehin war das drängendste Problem der Krieg in Algerien und Indochina, wo das Kolonialreich - von der französischen Öffentlichkeit weitgehend desinteressiert ignoriert - zu zerbröseln begann.
Kapitel 12, "Die Auflösung des französischen Empires", befasst sich nach einer schnellen Abhandlung des sowohl politisch als auch, entscheidender, militärisch verlorenen Indochinakriegs vor allem mit dem französischen Afrika, und hier vor allem Algerien. Während Frankreich in zahlreichen Ländern blutig die Nationalbewegungen unterdrückte und so oft frankreichfreundliche Diktatoren in Stellung bringen konnte, misslang das neben Indochina auch in Algerien. Die Kolonie hatte wegen der französischen Siedler*innen eine Sonderstellung im Kolonialreich inne. Während die FLN mit terroristischen Methoden gegen die Kolonialmacht vorging und dabei auch einen inneralgerischen Bürgerkrieg auslöste, der zahllose Opfer forderte, radikalisierte sich die französische Armee immer mehr in zahlreichen Gewaltorgien gegen die algerische Bevölkerung, die das Land neben der völlig fehlgeschlagenen Suez-Besetzung internationale Unterstützung kosteten und den Krieg zunehmend unhaltbar machten.
In der französischen Bevölkerung polarisierte er ähnlich wie die Dreyfus-Affäre; auf der einen Seite die Konservativen, das Militär und die Justiz, die offen die Folter und Bluttaten unterstützten, auf der anderen Seite die Linke, die die französische Kriegsführung verurteilte und für die Unabhängigkeit eintrat (und oft genug den Terror der FNL ignorierte oder relativierte). Zwischen den Stühlen saßen Menschen wie Albert Camus, die weder der einen noch der anderen Seite zuneigten. 1968 würde die antikolonial geschulte Linke ihren großen Moment haben.
Der Algerienkonflikt indessen führte zum Ende der Vierten Republik. Der versuchte Putsch vierer Generäle, an dessen Spitze sich de Gaulle setzte, um die fünfte Republik ins Leben zu rufen, führte einerseits zu einer Intensivierung des Krieges und andererseits zu seiner langsamen Abwicklung. De Gaulle wandte sich nach seiner Machtübernahme gegen die Militärs und Siedelnden und suchte eine Verhandlungslösung mit dem FNL, für den das Land vorher befriedet werden sollte. Beim Militär entstand so die Dolchstoßlegende vom militärischen Sieg, der politisch verschenkt worden war, und führte zur Gründung der Terrororganisation OAS, die sowohl in Algerien als auch Frankreich Bluttaten verübte. Die Siedelnden wurden nach Frankreich evakuiert, das gleichzeitig aus rassistischen Motiven den algerischen Hilfstruppen die Evakuierung verwehrte - und zehntausende dem folgenden Rachemassaker der FNL überließ.
Der vierte Teil, "Vom Boom zur Krise", behandelt die Jahre 1962 bis 1981.
Kapitel 13, "Frankreich um 1965: Auf dem Höhepunkt des Nachkriegsbooms", betrachtet die sogenannten "Trente Glorieuses", was dem deutschen "Wirtschaftswunder" entspricht, unter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Perspektive. Die Jahrzehnte sahen einen präzendenzlosen Anstieg des Lebensstandards. Die Kaufkraft des durchschnittlichen Franzosen verdoppelte sich in nur 20 Jahren. Autos, Fernseher etc. verbreiteten sich. Modernisierungsfortschritte machten die hohen Erwerbsanteile in der Landwirtschaft obsolet, so dass die Menschen in die Städte zogen und dort Angestellte wurden, was zu allerlei Klagen über den Verlust der französischen Identität Anlass gab. Eine neue Schicht von Angestellten, den "cadres", entwickelte sich, die in keine traditionellen Kategorien passte und eine eigene, mächtige Gewerkschaft aufbaute. Auch die Kultur erlebte eine Blüte, etwa mit dem Aufstieg des experimentellen französischen Films. Wurden Frauen zu Beginn der Nachkriegszeit noch in die häusliche Sphäre verbannt, begannen sie bald stetig, sich Raum zu bahnen, wofür Simone de Bouveoir stellvertretend stehen kann. Indessen konnte sich das Land trotz regen Bemühens nicht von amerikanischen Einflüssen freimachen; die US-Jugendkultur breitete sich auch auf die französische Jugend aus, ob in Rock-Imitaten oder der Übernahme von Hippie-Chic.
Das vierzehnte Kapitel, "Staat, Gesellschaft und Außenpolitik in der neuen Republik", kehrt in die politischen Gefilde zurück und beschreibt den Aufbau der mit de Gaulles Machtübernahme entstehenden fünften Republik. Stark autoritär und präsidial gegliedert entwickelte sie sich gleichwohl nicht komplett wie von de Gaulle gewollt; besonders die neu eingeführte Stichwahl des Präsidenten führte nicht zur Einigung, sondern Spaltung entlang von Rechts-Links-Gegensätzen, vor allem in Person des Schwergewichts Francois Mitterand und seiner Einigungsversuche der politischen Linken. Besonderes Gewicht erhält naturgemäß der Mai 1968 mit seinen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Konfliktlinien, die in den Protesten zusammentrafen. De Gaulle und Pompidou manövrierten ihre Gegner zwar erfolgreich aus; dennoch konnte die Protestbewegung große, vor allem materielle, Erfolge verzeichnen. De Gaulle scheiterte innenpolitisch schließlich ein Dreivierteljahr später mit seinem Versuch, einen neuerlichen Machtzuwachs per Referendum zu erzwingen.
Außenpolitisch war seine Bilanz gemischt. Der Versuch, Frankreich als "dritte Kraft" zu etablieren und Unabhängigkeit von den USA zu erlangen, scheiterte. Die Obstruktionspolitik in der EWG und seine rücksichtslose interessengeleitete Politik in Ablehnung von Bündnissen und liberaler Gemeinsamkeit führte nirgendwohin; am Ende würde Frankreich mit einigen Jahren Verzögerung wieder am liberalen Projekt teilnehmen. Bessere Ergebnisse erreichte er in der Einflusssicherung gegenüber den früheren französischen Kolonien in Afrika, die dem französischen Einflussbereich erhalten blieben.
Kapitel 15, "Das Ende der "Trente Glorieuses"", befasst sich mit der Präsidentschaft Giscard d'Estaings. Dieser hatte das Pech, in der Stagflation an die Macht zu kommen und seine Amtszeit somit durch die Malaise der 1970er Jahre bestimmt zu sehen. Innenpolitisch setzte er auf eine Abkehr von den planwirtschaftlichen Elementen (durchaus im Einvernehmen des ihn dafür beglückwünschenden Helmut Schmidt) und schaffte etwa die staatlichen Preisvorgaben ab. Außenpolitisch setzte er auf engere europäische Kooperation; das zerstörte Bretton-Woods-System sollte durch den EWS ersetzt werden, solange die USA in der von Schmidt attestierten "Führungsschwäche" kein neues Währungssystem zu schaffen bereit waren. Aus dem EWS entstand sowohl die Keimzelle des Euro als auch eine erste Abkehr Großbritanniens von weiteren Integrationsschritten. Am Ende gelang es Giscard allerdings nicht, seine Präsidentschaft als Erfolg zu verkaufen, was auch einer Spaltung des rechten Lagers zu verdanken war, weil die um Jacques Chirac versammelten Gaullisten beständig opponierten; ironisch, wenn man bedenkt, dass er seine Wahl einer spiegelbildlichen Spaltung des linken Lagers zu verdanken hatte.
Der fünfte Teil, "Die verunsicherte Nation", behandelt die Jahre 1981 bis 2002.
Kapitel 16, "Der Sozialismus an der Macht", zeigt, wie das linke Lager seine Spaltung überwand und 1980 unter der Führung Mitterands antrat. Dadurch konnte es von der wirtschaftlichen Schwäche profitieren und Giscards Mitte-Rechts-Regierung ablösen. Das dezidiert linke Programm, mit dem Mitterand antrat und entgegen des westlichen Trends zum Neoliberalismus stärkere staatliche Eingriffe forderte, wurde in den folgenden Nationalversammlungswahlen noch einmal bestätigt. Lang hielt dieser neosozialistische Reformeifer allerdings nicht an. Die Bedingungen der Stagflation zwangen eine Grundsatzentscheidung: einen aus der EG herausgelösten Alleingang Frankreichs oder ein Einschwingen auf die Stabilitätspolitik. Mitterand entschied sich für Letzteres und damit den Weg in das, was Waechter als "Republik der Mitte" beschreibt.
Der Präsident verlor auch seine parlamentarische Mehrheit. Anders als de Gaulle sah er sich dadurch nicht persönlich delegitimiert und trat zurück, sondern führte die erste Kohabitationsregierung an, wodurch er die Rechts-Links-Gegensätze weiter einebnete. Kohabitation wurde zur Normalität der französischen Regierungspraxis, und die zunehmende politische Deckungsgleichheit zwischen den großen politischen Strömungen, verbunden mit dem Niedergang der Kommunisten, schien die "Republik der Mitte" ebenfalls zu bestätigen. Auch andere große Streitpunkte wie der um das laizistische Bildungswesen (das nicht kam; riesige Demonstrationen zwangen Mitterand zum Einlenken) wurden in seiner Regierungszeit befriedet, so dass seine Wiederwahl unter dem Motto "das vereinigte Frankreich" stehen konnte. Seines innenpolitischen Gestaltungsspielraums beraubt, wandte sich Mitterand vor allem der Europapolitik zu, wo er Giscards Politik weitgehend fortführte und Frankreichs Sonderweg beendete. Die Gründung der EEA, der Abschluss des Maastrichter Vertrags und seine plebiszitäre Bestätigung und der konstruktive Beitrag zur Wiedervereinigung zählen alle zu den Meilensteinen seiner Amtszeit.
In Kapitel 17, "Frankreich um 1990", wird der letzte Querschnitt unternommen. Zuerst wendet sich Waechter der Lage der Frauen zu. Einerseits behielt die Familie in Frankreich eine stärker die Gesellschaft gliedernde Rolle; andererseits waren die Frauenbilder deutlich progressiver als in der BRD. Im Großen und Ganzen erscheint die Familienpolitik trotz des Konflikts um die Ehe für Alle befriedet. Demgegenüber steht die in den 1980er Jahren deutlich wachsende Debatte um die Migration. Die muslimischen Eingewanderten aus Nordafrika waren sozial ausgegrenzt und wurden als Bedrohung wahrgenommen. Die Forderungen von Rechts nach einer starken Begrenzung der Migration wurden auch von Mitterand aufgenommen und so erneut zu einem mittigen Allparteienkonzept; gleichzeitig standen der markigen Rhetorik von der Begrenzung auf null keine adäquaten Maßnahmen gegenüber (und konnten dies auch nicht), so dass ein der radikalen Rechten helfender Eindruck der Machtlosigkeit entstand, während für die Integration ebenfalls keine großen Schritte unternommen wurden.
Die Ablösung durch Jacques Chirac 1995 stand unter einem anderen politischen Großthema: der Überwindung der französischen Klassengegensätze. Die Elite des Landes hatte sich, vor allem durch den hierarchisierten Zugang zu den Grande Écoles, abgekapselt und die Zugänge für breite Schichten der Bevölkerung verunmöglicht. Noch schneller als Mitterand scheiterte Chirac jedoch und verkalkulierte sich völlig damit, Neuwahlen auszurufen, weswegen er eine Kohabitation mit Lionel Jospin eingehen musste. Dessen Kernprojekt, die Einführung der 35-Stunden-Woche, erreichte nicht den erhofften Erfolg der Verringerung der Arbeitslosenzahlen, sondern vertiefte die Gräben zwischen den gesellschaftlichen Gruppen weiter. Auch die Terroranschläge vom 11. September und der neue Fokus auf Sicherheitspolitik änderte an dieser Dynamik nichts. Sie bot aber dem gescheiterten Präsidenten Chirac die Plattform für seine Wiederwahl, und die extreme Rechte qualifizierte sich erstmals für die Stichwahl, auch, weil das linke Lager gespalten war.
Vergangenheitspolitisch schlug Chirac 1995 ein neues Kapitel auf: erstmals erkannte er eine französische Mitschuld am Holocaust an und brachte damit Risse in das bisherige Bild der Résistance-Nostalgie. Gleichzeitig lud er die Schuld aber ausschließlich bei Vichy ab und proklamierte eine Fortsetzung der Dritten Republik in London und einen nahtlosen Übergang zur (unschuldigen) Vierten. Die Aufarbeitung der Kollaboration und die Zerschlagung der gaullistischen Mythen ging quasi nahtlos in eine beginnende Aufarbeitung der Verbrechen des Algerienkriegs über. Diese Aufarbeitungen zerschlugen neben den politischen Erdbeben auch erinnerungspolitisch den Mythos der französischen Exzeptionalität.
Das achtzehnte Kapitel, "Ausblick: Infragestellung und Rückkehr zur "Republik der Mitte"", befasst sich mit dem "Nein" zum Irakkrieg und zur Verfassung der EU gleich zwei Ereignissen, in denen sich die französische Politik weiter ausdifferenzierte. Die Wahl 2002, bei der Chirac gegen die extreme Rechte dank der Unterstützung aller Republikaner*innen gewann, zeigte nur eine kurze Einigkeit; die gespaltene Rechte versammelte sich hinter Sarkozy, während die Linke, nun mit globalisierungskritischer Prägung, der Ablehnung der EU neben dem rechten Souveränitätsnarrativ nun ein globalisierungs- und liberalismuskritisches linkes hinzufügte. Das Scheitern erinnerte an 1954, mit ähnlichen Folgen.
Sarkozys Präsidentschaft stand unter dem erneuten Versuch, eine französische Macht- und Interessenpolitik durchzusetzen, die an den Realitäten schnell scheiterte. Spätestens in der Finanzkrise musste Sarkozy sich Merkels Führungsanspruch beugen. Auch innenpolitisch scheiterte er mit seinem Revisionismus auf ganzer Linie. Das Buch endet mit einem Ausblick auf den Terrorangriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo und die Herausforderungen der Zukunft.
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Bei der gesamten Lektüre finde ich es faszinierend zu beobachten, welche Parallelen zur deutschen Geschichte sich in Frankreich auftun - und wo Divergenzen bestehen. Auf diese Art hilft die Beschäftigung mit der Geschichte des Nachbarn deutlich, den Blick für die eigene Historie zu schärfen und Spielräume auszumachen. Eine grundsätzliche Kritik, die am Aufbau des Werks selbst anzubringen wäre, ist vermutlich die etwas starke Fixierung auf die politische Nationalgeschichte zulasten der Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte (der Kulturgeschichte sicher auch, aber damit bin ich persönlich zufrieden, weil es meinen eigenen Interessen entgegen kommt). Auch die Querschnitte sind noch sehr von der politischen Geschichte geprägt; die dazwischenliegenden Episoden sowieso. Hier wäre eine etwas stärkere Abrundung wünschenswert gewesen, die zwar in den Querschnitten durchaus geleistet wird, aber die Gewichtungen sind noch recht deutlich.
Was ich aus der Lektüre heraus an der französischen Geschichte besonders bemerkenswert fand, war die Rolle des Widerstands und des ihn umgebenden Mythos' in der französischen Gesellschaft. Die Intentionalität, mit der die Akteure, allen voran Charles de Gaulle, die Résistance von Anfang an überhöhten und von jeder realen Grundlage entfernten und eben bewusst zu einem identitätsstiftenden Mythos ausbauten, ist faszinierend, ebenso der Erfolg, den dieses erinnerungspolitische Husarenstück hatte. Die Idee der Franzosen als Volk von tapferen Widerständlern wurde widerspruchslos auch in der angelsächsischen Erinnerungskultur aufgenommen und fand Eingang in die populärwissenschaftlichen Darstellungen des Krieges, etwa den Epos der 1960er Jahre "Der längste Tag". Erst in der jüngeren Vergangenheit wurde dies deutlich kritischer gesehen und aufgearbeitet - wie so oft mit dem Verschwinden der betroffenen Generation. Der Zeitzeuge bleibt der natürliche Feind des Historikers.
Ebenfalls spannend fand ich das Scheitern der Souveräntitäts- und Interessenpolitik Frankreichs. Vor allem die Gaullisten, aber auch die Linken erklärten einen (wenngleich unterschiedlich gefärbten) Exzeptionalismus für die Grande Nation, der an den Realitäten einer interdependenten Welt zerschellte. Die Idee, ausschließlich auf das nationale Interesse geleitet zu agieren und die Idee einer normativ basierten Freundschaft mit anderen Nationen zu verlachen führte in eine Sackgasse. Es war gerade das commitment zu einer wertebasierten Einigung mit den europäischen Nachbarn, die übersteigerte Souveränitätsromantik aufgab, die Frankreich den Weg in die Zukunft öffnete - ohne dass die Konfliktlinien dazu sich je geändert hätten, wie sowohl das knappe Maastricht-Referendum 1992 als auch das Scheitern des Verfassungsvertrags 2005 deutlich zeigen.
Zu den spannendaten Parallelen zwischen Deutschland und Frankreich gehört für mich die Migrationsdebatte. Dieselben Fehler werden aus denselben Gründen gemacht: eine Übernahme rechter Narrative, der keinerlei substanzielle Politik entspricht, stärkt nur den rechten Rand, während gleichzeitig das Nichtstun die Herausbildung von Parallelgesellschaften begünstigt. Wie auch bei den Souveränitätsdebatten steht eine übersteigerte Rhetorik, deren Ansprüche in der Realität unerfüllbar sind, vor dem Kater der Erkenntnis begrenzter Handlungsspielräume, von dem dann diejenigen profitieren können, die sich der Realität nicht stellen müssen.
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