Teil 1 hier, Teil 2 hier.

Michael S. Neiberg - When France fell. The Vichy Crisis and the Fate of the Anglo-American Alliance (Hörbuch)

Dazu kam, dass die politischen Verhältnisse in Vichy sich ebenfalls änderten: die Deutschen erzwangen einen stärkeren Einfluss der Faschisten, die ihrerseits die Kollaboration deutlich verstärkten. Dabei ging es vorrangig um die Beschaffung von Arbeitskräften für die deutsche Rüstungsindustrie, wofür man sich im Gegenzug eine Freilassung von Gefangenen erhoffte - und natürlich Akzeptanz durch die Deutschen und einen vorteilhaften Stand bei späteren Friedensverhandlungen, an deren Zustandekommen man zu diesem Zeitpunkt noch glaubte, schon allein, weil die Alliierten ihr Ziel der bedingungslosen Kapitulation noch nicht formuliert hatten. Diesen Aspekt fand ich besonders spannend, weil von Revisionisten häufig vorgebracht wird, dass die Formulierung dieses Ziels ein Fehler gewesen sei, der den Krieg verlängert habe. Die amerikanischen Erfahrungen mit Vichy legen eher das Gegenteil nahe.

Die Kollaborationspolitik zerstörte nicht nur den letzten Goodwill, den Vichy in Amerika noch besaß, sondern auch im eigenen Land. Diplomatisches und militärisches Personal im Ausland, das die persönlichen Möglichkeiten dazu hatte, wechselte in neuem Ausmaß die Seiten, während die freiwillige Kooperation sowohl mit der Regierung als auch mit den deutschen Besatzern neue Tiefstände erreichte. Wenn es noch einen letzten Beweis für das Scheitern der amerikanischen Politik gegenüber Vichy gebraucht hätte - die Entmachtung Pétains und Weygands und die direkte Übernahme der Kontrolle durch die französischen Faschisten und ihre Kollaborationspolitik erreichten es.

Ein Grund neben dem offensichtlichen deutschen Druck, einen Krieg mit den USA nicht zu fürchten, lag auch darin, dass Vichy-Politiker davon ausgingen, dass die amerikanische Aufrüstung vor 1950 nicht abgeschlossen sein würde und die Anzahl der benötigten Schiffe so groß, dass ein Übersetzen über den Atlantik letztlich unrealistisch war. Dass sie die deutlich die geschönten Zahlen aus Berlin über die Versenkungsziffern der U-Boote glaubten, war da nicht hilfreich. Man muss allerdings zu Ihrer Verteidigung sagen, dass die US-Armee im Ersten Weltkrieg komplett von französischem Material abhängig gewesen war: alles, was die Amerikaner damals nach über einem Jahr Vorbereitung zur Verfügung stellen konnten, waren schlecht ausgebildete Truppen, die all ihr Material von der französischen Armee erhielten und bei der Überfahrt über den Atlantik auf alliierten Schiffsraum zurückgreifen konnten. Das erklärte einmal mehr, warum den französischen militärischen Fähigkeiten vor 1940 so viel Glaubhaftigkeit gegeben worden war.

Wie Kapitel 6, “A Beautiful Friendship? The Invasion of French North Africa”, zeigt, löste dies allerdings nicht die amerikanischen Probleme mit der Alternative zu de Gaulle. eine Invasion Südfrankreichs, wie sie den Amerikanern vorschwebte, erteilten die Briten angesichts des offensichtlich naiven Optimismus der Amerikaner und ihrer mangelnden Erfahrung eine klare Absage. Damit blieb nur eine Invasion Nordafrikas als erstes Trainingsfeld und zum Ausschalten der Bedrohung Vichys. Eine solche Landung quer über den Atlantik war schon unter logistischen Gesichtspunkten extrem problematisch; würden allerdings hunderttausend professionelle französische Soldaten ihr Widerstand leisten, stünde ihr Erfolg schwer infrage. Zudem fiel es selbst den Deutschen nicht schwer, die Stoßrichtung der Alliierten zu erraten. Die Gefahr, dass sie professionelle und gut ausgerüstete Truppen nach Nordwestafrika schicken würden, wo diese eine amerikanische Invasion direkt besiegen konnten, war nur die neueste Auflage der alliierten Ängste vor dem Potential der französischen strategischen Position.

Die Charaktere der französischen Befehlshaber vor Ort waren extrem mysteriös und schwer zu lesen und dazu noch widersprüchlich. Die amerikanischen Agenten hatten zwar ein gutes Bild der militärischen Kapazitäten vor Ort, ob die Armee diese allerdings gegen die Amerikaner einsetzen würde, war völlig unklar. Roosevelt und seine Regierung gingen davon aus, dass der „Geist von Lafayette“ ausreichen würde, um eine tief verwurzelte Freundschaft zu den USA in den Franzosen zu wecken und sie keinen Widerstand leisten zu lassen, was die Briten für mehr als dubios hielten. Sie allerdings konnten auf keinerlei Freundschaft hoffen: die französischen Offiziere in Nordafrika waren zwar überwiegend antideutsch eingestellt, hasten aber die Briten mit mindestens genauso viel Eifer. Die Alliierten mussten deswegen einen wahren Eiertanz aufführen, der die britische Beteiligung an dem Unternehmen so gering wie möglich hielt, damit die Franzosen nicht aus purem Revanchismus das Feuer eröffneten.

Dazu kam, dass die Operation natürlich extrem zeitsensitiv war. Man konnte es sich kaum leisten, auf die französischen Idiosynkrasien Rücksicht zu nehmen. Dazu gehörte unter anderem die Vorstellung Girauxs, er könne als Oberbefehlshaber der Operation fungieren und die Amerikaner und Briten auf seine eigenen Planungen (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen hatten) verpflichten. Schließlich blieb keine andere Alternative mehr, als sich auf die Summe der geleisteten Vorarbeiten zu verlassen und die Invasion zu starten. Die Lage war allerdings so unsicher, dass die Invasionstruppen zwei verschiedene Codes ausgeliefert bekamen, die sowohl die Möglichkeit einer französischen Neutralität als auch einer französischen Feindschaft beinhalten.

Die Invasion selbst war dann auch eine reichlich chaotische Veranstaltung. In manchen Bereichen des Invasionsgebiets ging alles wie erhofft vonstatten, während es in anderen zu blutigen Kämpfen mit den französischen Truppen kam. Oft genug leistet nichtfranzösischen Kommandeure vor allem deswegen Widerstand, weil sie keine andere Möglichkeit sahen, die „nationale Ehre“ zu retten. Es fasziniert mich immer wieder, wie abgrundtief bescheuert es aus heutiger Sicht immer erscheint, wenn Hunderte von Soldaten ihr Leben wegen solch antiquierter Ideale lassen müssen.

Im Verlauf dieser Invasion und dem Seitenwechsel der nordfranzösischen Truppen erledigte sich auch endgültig das Problem der französischen Flotte. Angewiesen, sich den Alliierten zu ergeben, entschloss sich ihr Kommandeur stattdessen, sie zu versenken. Sein Antworttelegramm auf den Befehl der Übergabe „Merde“ setze einen passenden Schlussstrich unter die ganze Farce.

Durch einen Zufall war Darlan, neben Lavalle und Pétain einer der drei obersten Kollaborateure Vichys und einer der verhasstesten Franzosen des Planeten (Stand 1942) gerade in Nordafrika anwesend. Er hatte keine andere Möglichkeit, als zu versuchen, einen Waffenstillstand mit den Amerikanern zu verhandeln. Er versuchte dies so lange hinauszuzögern, bis die Deutschen von sich aus die Demarkationslinie überschreiten und das bisher unbesetzte Frankreich unter ihre Kontrolle bringen würden, so dass sie offiziell den Waffenstillstand brachen.

Die Amerikaner nutzten ihn dann, um die Verwaltung Französisch-Nordafrikas zu übernehmen, was sowohl bei den Briten als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit große Ablehnung hervorrief. Die Zusammenarbeit mit Vichy er lebte hier ein letztes Hurra. Es zeigte sich schnell, mit wem sich die Amerikaner ins Bett gelegt hat: Darlan erhielt die antijüdische Gesetzgebung aufrecht und versuchte, sowohl gegen Giraux als auch de Gaulle zu intrigieren und eine faschistische französische Regierung an der Macht zu halten. Das ging wohl von der politischen Führung in Washington aus; Eisenhower stieß in seiner Verzweiflung wohl einmal den Seufzer aus, dass was er am dringendsten brauchte ein Attentäter war.

In Kapitel 7, “Round Up the Usual Suspects: Assassination in Algiers”, wurde genau dieser Wunsch erfüllt. Weil des allgemeinen politischen Chaos‘ noch nicht genug zu sein schien, unternahm eine Gruppe royalistischer Verschwörer (die versuchten, die 1848 (!) abgesetzten Bourbonen zurückzubringen) Ein Attentat auf Darlan, dem dieser auch zum Opfer fiel. Aus Perspektive der Briten könnte jetzt endgültig de Gaulle übernehmen; die Amerikaner allerdings hassten ihn wie die Pest. Sie setzten weiterhin auf Giraux, dessen mangelnde politische Fähigkeiten allerdings zunehmend offensichtlich wurden. Das Lavieren der Alliierten zwischen verschiedenen französischen Optionen und die innerfranzösischen Streitigkeiten, die teilweise operettenhafte Züge annahmen, sorgen für eine extrem instabile Situation. Die alliierte Befürchtung, dass nach einer Befreiung Frankreichs sofort ein Bürgerkrieg folgen würde, war angesichts der nordafrikanischen Erfahrungen nicht aus der Luft gegriffen.

Zunehmendem Maße allerdings desavouierte sich Giraux selbst, während de Gaulle als einzig vernünftige Alternative übrig blieb und trotz seiner Persönlichkeit, die ihm immer wieder im Weg stand und ihn den Amerikanern unerträglich machte, seine unzweifelhaften politischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Nach dem politischen Fiasko Einer versuchten französischen Befreiung Korsikas war Giraux nicht mehr zu halten. Die Amerikaner hielten allerdings weiterhin an ihrer Ablehnung de Gaulles fest und dachten sogar darüber nach, direkt mit Pétain zusammenzuarbeiten. Von dieser Idiotie hielten sie glücklicherweise die Deutschen ab, die so offensichtliche faschistische Marionetten installierten, dass die Fiktion, dass Pétain irgendeine Machtstellung in Vichy haben könnte endgültig zerplatzte.

Im Umfeld der Invasion der Normandie akzeptierten die Amerikaner schließlich zähneknirschend de Gaulle, der den Alliierten beständig Probleme machte, dabei aber unzweifelhaft seine eigene Machtstellung in Frankreich geschickt ausbaute. Dies sollte den Alliierten später das Gespenst eines französischen Bürgerkriegs ersparen.

Die Vichy-Regierung wurde nach Sigmaringen evakuiert und dort unter Gestapo-Überwachung gestellt. Falls es noch eines weiteren schlagkräftigen Beweises bedurft hätte, wie fehlgeleitet die amerikanische Vorstellung gewesen war, mit einer unabhängigen französischen Vichy-Regierung kooperieren zu können, war spätestens jetzt nicht mehr zu leugnen.

Das Fazit, “As Time goes by”, nutzt Neiberg, um einerseits noch einmal deutlich zu machen, was für ein Fehler die amerikanische Politik war, andererseits aber auch darauf hinzuweisen, dass er zu Beginn seiner Forschungen die Verteidigungslinie, die Hull und andere Verantwortliche nach dem Krieg aufbauten – dass man aus einem Set unattraktiver Optionen die wenigsten schlimmste gewählt hätte - selbst geglaubt hatte und davon ausging, diese nur genauer zu beschreiben.

Die Amerikaner und Briten konnten das Kapitel Vichy schnell beschließen. Das verantwortliche Personal ging in Rente oder trat neue Posten an und man wandte sich anderen, neuen Problemen zu. In Frankreich selbst war die Lage komplizierter. De Gaulle verkündete einen offiziellen Schlussstrich, indem Lavalle und Pétain quasi zur Alleinschuldigen erklärt und ansonsten der Mythos der Resistance propagiert wurde. Die Erinnerung an Vichy plagt Frankreich bis heute und zwingt es immer wieder zu schmerzhaften Episoden der Aufarbeitung.

Zum Ende unternimmt Neiberg noch eine faszinierende Übung in kontrafaktischer Geschichte: wenn das Attentat auf Darlan nicht erfolgreich gewesen wäre, wäre durchaus vorstellbar, dass dieser mit amerikanischer Rückendeckung an der Macht geblieben wäre. Weder de Gaulle noch Giraux Hätten dann eine Chance gehabt und Frankreich wäre wohl ein autoritär regierter Staat geblieben, wie dies in Spanien und Portugal ebenfalls der Fall gewesen war. Manchmal entscheidet sich das Schicksal eines Landes wirklich an Kleinigkeiten.

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Ich habe mich sehr zurückgehalten und in der gesamten Rezension die Metapher von der „Zeitenwende“ nicht benutzt. Das amerikanische Erwachen, das mit dem Fall Frankreichs zusammenhing, ist allerdings durchaus mit dem Deutschen 2022 zu vergleichen. In beiden Fällen kann man auch feststellen, dass die rapide geänderte Sicherheitslage keine Immunität gegenüber Illusionen und dem Festhalten an alten Verhaltensmustern gab. Die Amerikaner wurden oft genug zu ihrem eigenen Glück gezwungen und hatten im Verlauf der Nordafrika-Kampagne einige Male schlicht Glück.

Parallelen zu Krieg in der Ukraine gibt es auch bei der amerikanischen Furcht vor dem Überschreiten „roter Linien“. Man wollte keinesfalls Reaktionen provozieren und verhielt sich deswegen extrem freundlich gegenüber einem eigentlich feindlichen Regime, dass diese Freundlichkeit oder rücksichtslos ausnutzte und keinerlei Anstalten machte, darüber sein Verhalten oder seine generelle Sichtweise zu ändern.

Was sich allerdings anhand der Darstellung auch gut aufzeigen lässt, ist, dass – um eine amerikanische Phrase zu gebrauchen – hindsight 20/20 ist: hinterher ist man natürlich immer schlauer. Wie deplatziert viele der amerikanischen Befürchtungen über mögliche deutsche Attacken auf die westliche Hemisphäre waren, ist mit dem heutigen Kenntnisstand der deutschen Rüstung und Technologie natürlich leicht ins Lächerliche zu ziehen. Einige Befürchtungen allerdings waren durchaus realistisch.

Mir fällt dabei vor allem die Gefahr eines französischen Bürgerkriegs auf, die wegen der harten Fraktionskämpfe und der erbitterten Ablehnung der Republik einerseits und der radikalen Linken andererseits seitens großer Teile des französischen Militärs und politischen Establishment herrschte. Ein anderer Faktor ist die französische Flotte: zwar unternahmen die Deutschen keinen ernsthaften Versuch, sie sich unter den Nagel zu reißen, weil ihnen an einem neutralen und ruhigen Vichy angesichts der Überfallpläne auf die Sowjetunion mehr gelegen war als in einem verbündeten, sich im Krieg befindlichen. Mit einer etwas rationaler agierenden deutschen Regierung allerdings hätte das vermutlich völlig anders ausgesehen.

Insgesamt habe ich die Lektüre des Buchs sehr genossen und habe sehr viel dazugelernt. Besonders relevant empfinde ich die geostrategische Übersicht, die Neiberg in alle Teile einbaut sowie natürlich die intime Kenntnis der außenpolitischen Überlegungen. Mein Kenntnisstand über Vichy hielt sich bisher ehrlich gesagt auch in engen Grenzen. Der in gewählte Fokus auf den amerikanisch-französischen Beziehungen hilft der Lesbarkeit des Buches, hat aber den Nachteil, das beispielsweise die deutschen Handlungen etwas nebulös bleiben. Bringen die Lesenden diese Vorkenntnisse nicht mit, werden sie sie sich eigenständig irgendwo besorgen müssen. Das ist kein Nachteil, man sollte es nur wissen.

Ich fand die Lektüre auch insoweit aufschlussreich, als dass sie einen wichtigen Gegenpunkt zu der unglaublich ausgelutschten Pointe des Dauergags über Kapitulationen französischer Militärs (man denke nur an die beliebte Reihe „French Military History“) darstellt. Die französische Armee war über mehrere Jahrhunderte die stärkste Europas und vermutlich weltweit. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Niederlagen von 1871 und 1940 das Bild unangemessen verzerren. 1940 war ohnehin ihr ein glücklicher Zufall (aus deutscher Sicht), als dass ist eine tiefgreifende Schwäche offenlegen würde. Die ständigen Behauptungen über eine moralische Schwäche, fünfte Kolonnen oder subversiven linken Einfluss, mit dem die Niederlage lange übertüncht werden sollte, haben da eine ungeschickten Legendenbildung Vorschub geleistet.

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