Oliver Hilmes - Schattenzeit: Deutschland 1943: Alltag und Abgründe (Hörbuch)
Am 7. September 1943 wurden in der Strafvollzugsanstalt Plötzensee fast 250 Justizmorde verübt. In einem wahren Massaker auch wurden zahlreiche Gefangene, gegen selbst das kaum ernstzunehmende Recht des Nazi-Staates, im Schichtverfahren gehängt. Eines der vielen Opfer war der Pianist Karlrobert Kreiten. Oliver Hilmes nimmt sein Schicksal zum Anlass, eine Art Alltagsgeschichte des Jahres 1943 zu unternehmen und zu versuchen, die titelgebende Schattenzeit durch persönliche Schicksale und Quellenauszüge greifbar zu machen. Obwohl man annehmen sollte, dass die erdrückende Realität des Dritten Reiches hinreichend bekannt ist, bleibt selbst für viel belesene Menschen die tatsächliche Lebenswirklichkeit jener Zeit immer wieder eine Überraschung.
Hilmes beginnt seine Erzählung direkt im Januar 1943. Die Schlacht um Stalingrad liegt in ihren letzten Zügen und wird von der deutschen Propaganda bereits als ein heldenhaftes Martyrium mit starker Anlehnung an die Nibelungensage ausgestaltet. Während die frierenden und hungernden Soldaten in Stalingrad zu Tausenden verrecken, feiert Göring in einer rauschenden Party seinen Geburtstag. Der bis ins Mark korrupte Naziführer lässt eine gigantische Reihe von luxuriösen Lebensmitteln auftafeln und versammelt die Prominenz Nazideutschlands in seiner dekadenten Villa. In den Straßen Dresdens indes versucht Victor Klemperer, durch die Zeit zu kommen und seine Arbeit an seine Untersuchungen zur Sprache des Dritten Reiches fortzusetzen.
Der 27 jährige Pianist Karlrobert Kreiten lebt Zu dieser Zeit bei einer entfernten Freundin seiner Mutter als Untermieter. Er ist ein typisches Wunderkind der Musik: von jungen Jahren an trainierte er hart an seinen Fähigkeiten, gab Konzerte und wurde von diversen Stellen gefördert. Für die Musikszene ist er einer der deutschen Künstler mit Weltruhm. Hätte der Krieg nicht internationale Verbindungen abgebrochen, wäre es gut möglich, dass er diesen Weltruhm auf dem Feld der Pianisten auch einfahren könnte. So bleibt es bei Konzerten im vom Krieg verheerten Deutschland , denen ein gewisser dekadente Ruch anhaftet, wo so große Teile der Bevölkerung weder die Zeit und Muse noch das Geld haben, um Konzerte zu genießen und die meisten seiner Altersgenossen an der Front stehen und sterben.
Karlrobert Kreiten lebt auf eine gewisse Art ein behütetes Leben in einer Blase. Er ist nicht doof und ist sich grundsätzlich im Klaren darüber, dass er in einer Diktatur lebt, die einen nicht zu gewinnenden Weltkrieg führt. Gleichzeitig aber ist er das, was in jener Zeit so häufig als positives Charaktermerkmal verstanden wurde: unpolitisch. Er ist ein Paradebeispiel für jene Art von Menschen, die sich als Reaktion auf ein totalitäres Regime ins Private zurückziehen und möglichst wenig Berührungspunkte mit der Politik zu haben versuchen. Dies funktioniert für ihn auch gut. Er entstammt einer typischen Bildungsbürgerliche Familie und ist daher materiell einigermaßen gut abgesichert, auch im Krieg. Seine musikalischen Schwerpunkte decken sich nicht mit denen der Nazis, so dass es hier keine Berührungspunkte im Guten wie im Schlechten gibt.
Seine Vermieterin hier ist eine einfältige, aber überzeugter Nationalsozialistin, die vor allem in der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft und der dafür notwendigen Konformität aufgeht. In jedem Zimmer ihrer Wohnung hängt ein Bild von Adolf Hitler. In Unterhaltungen baut sie mit praktisch unvermeidlicher Notwendigkeit Propagandaphrasen ein. An einem etwas gestressten Morgen über dem Frühstück platzt Karlrobert Kreiten die Hutschnur und er erklärt den Krieg für verloren und eine Revolution für in der Luft liegend. Dann geht er weiter seinem Taggeschäft nach. Die geschockte Vermieterin indes bespricht sich mit ihren Freundinnen aus der NS-Frauenschaft. Diese überreden sie zu einer Anzeige bei der Gestapo.
Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Die Gestapo verhaftet und befragt Kreiten, der sich mit lahmen Entschuldigungen von einem Missverständnis aus der Affäre zu ziehen versucht und die erfahrenen Beamten damit wenig beeindrucken kann. Zudem ist er sich des Ernstes seiner Lage zu keiner Sekunde bewusst. Er geht davon aus, nach den Befragungen problemlos wieder nach Hause gehen zu können und ist deswegen sogar erfreut, als er aus der Gestapo Zentrale in ein normales Gefängnis verlegt wird, weil er sich im kommenden Prozess einen Freispruch erwartet. Diese Annahme wäre immer naiv gewesen, jedoch hat Kreiten dazu auch noch zeitliches Pech. Der Totale Krieg, den Goebbels im Frühjahr ausgerufen hat und durch zahlreiche Dekrete verschärft, unterwirft die Justiz einer wesentlich strengeren Kontrolle als vorher und zwingt Staatsanwälte und Richter zu deutlich schärferen Urteilen. Die Annahme, dass sein bürgerlicher Hintergrund und sein künstlerischer Ruhm ihm helfen würden, verwandelt sich angesichts des immer deutlicheren Feldzugs der Nazis gegen eben diese bürgerliche Welt und Kultur tatsächlich in einen Nachteil.
Im Gefängnis erlebt Karlrobert Kreiten ein böses Erwachen: erlebt die Enthumanisierung durch das Dritte Reich mit überfüllten Gefängniszellen, unzureichender Ernährung und schlechter Behandlung. Gleichwohl bleibt er dank der Herkunft seiner Klasse ein Gefangener mit Sonderrechten. Er erhält immer noch die besten Zellen und bleibt von Folter verschont. Dadurch ist er ein merkwürdiger Wanderer zwischen den Welten: zwar geriet er in die Terrormaschinerie der Nazis, bleibt aber dank seiner Klasse immer noch deutlich besser gestellt, als dies etwa für Sozialdemokraten oder Kommunisten gelten würde, von den genozidal verfolgten Gruppen ganz zu schweigen.
Für diese gibt es im Jahre 1943 immer weniger Entkommensmöglichkeiten. Wer es nicht bisher irgendwie aus dem Land geschafft hat, wird in diesem Jahr verhaftet und abtransportiert. Allen Beteiligten ist klar, dass es dabei auf eine Reise ohne Wiederkehr geht, was die leider immer noch verbreitete Vorstellung, die Deutschen hätten in der überwiegenden Mehrheit vom Holocaust nichts gewusst, einmal mehr ad absurdum führt. Hilmes verfolgt neben dem Schicksal Victor Klemperers auch das eines jüdischen Flüchtlings, der von einer wohlmeinenden und couragierten Frau in der Gartenlaube versteckt wird und erzählt immer wieder das Schicksal jüdischer Familien nach, die verhaftet und in die Vernichtungslager transportiert werden.
Im Gegensatz zu vielen anderen politischen Gefangenen hat Karlrobert Kreiten dank seiner wohlhabenden Familie nicht nur einen nutzlosen Pflichtverteidiger, sondern zwei erfahrene Strafverteidiger zu seiner Unterstützung. Diesen ist von Beginn an die Tragweite der Vorwürfe bewusst, wenngleich sie gewisse Hoffnungen haben, wenigstens die Todesstrafe abwenden zu können. Karlrobert Kreiten Indes geht immer noch davon aus, nach einem Prozess entlassen zu werden, weil seine Untersuchungshaft schon jegliche Strafe abgelten dürfte. Die Naivität im Umgang mit dem System ist bemerkenswert und für mich ein interessantes Beispiel dafür, dass das Bürgertum den Rechtsextremismus zwar nicht goutiert, aber auch nicht als elementare Bedrohung für sich betrachtet - eine Dynamik, die man auch am heutigen Umgang damit sehen kann.
Zu genau einer solchen elementaren Bedrohung allerdings wird das Regime für Karlrobert Kreiten. Die zahlreichen Verschärfungen, die im Rahmen des Totalen Krieges in die Nazibürokratie einfließen, verschließen nach und nach jegliche Möglichkeit für den weitreichenden Bekanntenkreis der Familie, ihre Verbindungen spielen zu lassen, um den jungen Pianisten zu retten. Am Fatalsten wirkt sich sicherlich die Übertragung seines Falles vor den Volksgerichtshof aus. Vor Roland Freisler gibt es fast kein Entkommen, und jegliche Reste des Rechtsstaates verlieren vor diesem Gremium ihre Wirksamkeit. Karlrobert Kreiten bekommt seine Anwälte nicht mehr zu Gesicht, die nicht einmal über den Prozess informiert werden. Das Urteil steht von vornherein fest. Als die Familie es erfährt, Unternehmen die Anwälte einen letzten Rettungsversuch: ein Todesurteil darf erst vollstreckt werden, wenn die Möglichkeit einer Begnadigung durch Adolf Hitler persönlich abgelehnt wurde. Doch wiederum machen sie ihre Rechnung nicht mit der sich drastisch verschärfenden Umgebung des Jahres 1943.
Karlrobert Kreiten wird nach Plötzensee verlegt, noch bevor die Anwälte überhaupt Gelegenheit haben, einen Antrag auf Begnadigung einzubringen. Durch eine Laune des Schicksals zerstört ein Bombenangriff auf Berlin - ein Vorkommnis, das im Lauf des Jahres 1943 von einer Kuriosität zum Alltag wird und die Bevölkerung einem unglaublichen Terror unterwirft, der die Legitimität des Regimes rapide untergräbt – die Guillotine in Plötzensee. Diverse Zellen werden beschädigt, so dass die Gefangenen gemeinsam untergebracht werden müssen. Um diesen Zustand schnellstmöglich zu beheben werden alle zum Tode Verurteilten in der Nacht in einer riesigen Aktion im Schichtverfahren an Fleischerhaken gehenkt. Dies läuft selbst dem jeden rechtsstaatlichen Maßstäben spottenden Recht des Nazistaates zuwider, entspricht aber den Absichten der Führung und ist logischer Ausdruck des Totalen Krieges. Unter den rund 250 Opfern dieses massiven Justizmordes findet sich auch Karlrobert Kreite.
Der Rest des Buches widmet sich hauptsächlich dem weiteren Geschehen. Sowohl Victor Klemperer als auch der untergetauchte Flüchtling überleben als einige der wenigen deutschen Juden den Krieg. Roland Freisler stirbt in einer Art Akt der karmischen Gerechtigkeit bei einem alliierten Bombenangriff. Die gesammelte Naziführung begeht wie Goebbels zum Teil Selbstmord oder wird wie Göring zum Teil verhaftet und in Nürnberg vor Gericht gestellt. Gerechtigkeit allerdings bleibt im Nachkriegsdeutschland Mangelware: Karlrobert Kreitens Mutter versucht, die Denunziantinnen ihres Sohnes vor Gericht zu bringen. Die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft jedoch sind von Anfang an eher auf Seiten der Täterinnen als Aufdehnen des Opfers. Zudem sprechen sich die Beschuldigten untereinander ab, während Mutter Kreiten sich in Widersprüche verstrickt - keine zentralen, aber doch genug, um die ganzen Verhandlungen zum Scheitern zu bringen. Wie in Millionen anderer Fälle gehen die Denunzianten straflos aus.
Für mich blieb das Buch insgesamt eine faszinierende Lektüre. Hilmes‘ Ansatz, anhand biografischer Details ein spezifisches Jahr zu beleuchten und fassbar zu machen, funktioniert sehr gut. Die Auswahl seines Untersuchungsgegenstandes in Karlrobert Kreiten führt natürlich zu einigen Verzerrungen, die ich teilweise bereits im Laufe der Rezension betont habe. Diese müssen sich die Lesenden selbst erschließen. Sehr gut gelungen ist auch die Einbindung anderer Quellen in das Narrativ. Die Erzählungen sind immer wieder von Auszügen unterbrochen, die von Artikeln aus den Frauenmagazinen (wie stellt man aus abgetragenen Kleidern taugliche und modische Winterkleidung her) über Gesetzestexte hinzu Anweisungen an die Propagandamaschinerie (nach Stalingrad ist es erwünscht, die USA und GB als „Hilfsvölker der Sowjetunion“ zu bezeichnen) Über biographische Notizen anderer Personen reichen. Auf diese Art entsteht in Ansätzen ein Mosaik.
Ein Nachteil dieses Ansatzes ist, dass dieses Mosaik eben nur in Ansätzen besteht. Der Fokus bleibt klar auf der Familie Kreiten und damit auf einem sehr spezifischen Fall in einem sehr spezifischen Milieu. Ist man sich dessen gewahr, ist das kein großes Problem.
Gleichwohl ist es für mich auffällig, dass so viele deutsche Erzählungen über das Dritte Reich aus einem bürgerlichen Gesichtspunkt erzählt werden. Dies ist besonders auch bei Widerstandserzählungen offensichtlich. Es wäre an der Zeit, die Erfahrungen der Arbeiterschaft oder die überzeugter Demokraten (oder gar, Gott behüte, Kommunisten) stärker in den Vordergrund zu stellen. Zudem wäre es auch an der Zeit, bei der Quellenauswahl die ausgetretenen Pfade zu verlassen. So wichtig Victor Klemperer auch sein mag, allmählich wird sein Heranziehen in jedem Werk über diese Zeit ein wenig nervig. Das allerdings sind Luxusprobleme, die sicher auch meine ausführlichen Beschäftigung mit der Periode zuschulden kommen. Insgesamt ist die Lektüre absolut faszinierend und zieht die Lesenden in ihren Bann; die überschaubare Länge sorgt zudem dafür, dass das Buch die Geduld nicht überstrapaziert. Ich kann es daher nur empfehlen.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: