Philipp Lepenies - Verbot und Verzicht: Politik aus dem Geiste des Unterlassens

Kaum ein politischer Angriff der letzten beiden Jahrzehnte war so effektiv wie das negative branding der Grünen als "Verbotspartei". Das Verbot hat in der zeitgenössischen Politik einen ausgesprochen negativen Klang, ist ein Pejorativ erster Güte. Das war nicht schon immer so. Vielmehr ist die Aversion gegen das Verbot und seinen kleinen Cousin, den Verzicht, in der gegenwärtigen Schärfe ein vergleichsweise neues Phänomen. Philipp Lepenies unternimmt es im vorliegenden Band "Verbot und Verzicht: Politik aus dem Geiste des Unterlassens", die Dynamiken hinter dieser Aversion genauer zu untersuchen und eine Analyse vorzulegen, wie solche Politik anders gestaltet werden könnte. Der Suhrkamp-Umschlag mit seiner unwiderstehlichen Layoutgestaltung (man beachte die Ironie) zeigt uns dabei bereits, dass wir im Fußnotenterritorium des akademischen Diskurses angekommen sind. Lepenies erläutert bereits in seinem Vorwort, als wie befremdlich er in der Klimaschutz- und Coronadebatte die gefühlte Unzumutbarkeit von Verboten und Verzichtsaufforderungen empfand und macht sich nun daran, dieser Frage nachzugehen.
In seinem ersten Kapitel, "Die Argumente des Unterlassens", skizziert Lepenies in einer wohl bewusst ein wenig in die Irre führenden Überschrift beliebte Gründe, die für ein Unterlassen von Verboten genannt werden - nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, Argumente für Verbote. Nach Albert Hirschmans rhetorischer Analyse erklärt Lepenies die zentralen Unterlassungsdiskurse. Diese nehmen ihren Ursprung in der Französischen Revolution und der auf sie folgenden Reaktion: der Versuch der revolutionären Änderung rief Menschen auf den Plan, die eine ebensolche verhindern wollen. Der erste dieser Erklärungsansätze ist die Pervertierungsthese. Ihr zufolge führen Änderungs- und Besserungsmaßnahmen stets zum Gegenteil des gewünschten, positiven Effekts, weil das reale Verhalten der Menschen aufbegehrend sei: ein Verbot mache das Verbotene etwa erst recht attraktiv.
Die zweite These ist die Nutzlosigkeitsthese. Nach ihr sind Verbote und andere Eingriffe eines lenkenden Staats schlicht nutzlos und erreichen ihr Ziel nicht, weil sie dadurch gar nicht in der Lage sein können. Für Hirschman (und den ihn positiv rezipierenden Lepenies) ist das gleichzeitig auch eine Ungedulds-These, weil ihre Vertreter*innen häufig die Nutzlosigkeit einer Maßnahme postulieren, bevor diese überhaupt sachlich festgestellt werden könne.
Die dritte These ist die Gefährdungsthese. Nicht nur bestünden negative Nebeneffekte und hohe Kosten; Verbote und Maßnahmen würden sogar die zugrundeliegende Ordnung und ihre Institutionen zerstören. Historisch etwa wurde das allgemeine Wahlrecht häufig mit dem Argument abgewählt, sie solcherart gleichberechtigten Massen würden durch ihre uninformiert-emotionalen Entscheidungen das Staatswesen zerstören.
Zu Hirschmans Thesen fügt Lepenies eine weitere, vierte hinzu, die einen ersten Grundstein seines Buchs legt: die Illegitimitätsthese, also die Vorstellung, dass Verbote und Verzicht grundsätzlich illegitim seien. Es ist nicht schwer, dieses Argumentationsmuster in unserem zeitgenössischen politischen Diskurs wiederzufinden; allein eine Zuschreibung wie "Verbotspartei" macht ja nur Sinn, wenn das Verbot selbst illegitim ist. Diese Illegitimitätsthese ist für Lepenies der neue Aspekt in der Debatte; die ersten drei Dimensionen begleiteten uns bereits seit weit über 200 Jahren.
In Kapitel 2, "Verzicht - Geldmachen und Affektkontrolle", beginnt der Autor, den geistesgeschichtlichen Grundlagen des Verzichts im Liberalismus nachzuspüren.Von Hobbes und Locke über Montesquieu zu Adam Smith folgt Lepenies den Klassikern liberalen Denkens und zeigt, wie der Verzicht stets zentral für ihre Gedankenwelt war. Der immer wieder auftauchende Begriff der doux commerce umschreibt den moralisch aufgeladenen Konsumverzicht zur Anhäufung von Kapital. Der von Lepenies ausgiebig zitierte Benjamin Franklin etwa verkörpert diesen Typus, den Max Weber in seiner protestantischen Arbeitsethik verewigte, quasi in Reinkultur. All diese liberalen Denker predigten mit hochmoralischen Argumenten Verzicht - die Schlussfolgerung daraus im Hinblick auf unsere eigenen Debatten überlässt er wohlweislich den Lesenden und lässt die Quellenlage für sich sprechen.
Neben diesen moralischen Verzichtforderungen stellten all diese Liberalen laut Lepenies auch stets ein Primat der Gemeinwohlorientierung auf. Zwar predigte Smith die Orientierung am Eigennutz. Er war allerdings auch davon überzeugt, dass dieses Handeln das Ziel habe, das Gemeinwohl zu steigern, und sich an diesem Ziel würde messen lassen müssen. Das habe auch für die anderen Klassiker der liberalen Lehre gegolten. Diese Lesart von Adam Smith wird mit Sicherheit auf einem FDP-Parteitag nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen. Wann also, darf man berechtigt fragen, änderte sich das liberale Verhältnis zu einer solchen Aversion gegenüber Verzicht und Verbot, wann übernahm die Freiheit des Konsumenten vor der Freiheit des Akkumulierenden?
Dieser Umschwung lag für Lepenies im Neoliberalismus, dessen geistesgeschichtlichen Wurzeln er in Kapitel 3, "Verbot - der Staat als Gegner", nachspürt. Die Kernidee der Illegitimitätsthese führt er auf Hayek und die Österreichische Schule zurück. Hayek und Mises und ihr Aufstieg in der unmittelbaren Nachkriegszeit stehen demnach auch am Anfang des Kapitels. Ausführlich stellt Lepenies Hayeks Ideen dar und kritisiert diese als oft sehr manichäisch. Hayek wird vor allem mit den Fabians kontrastiert, die zu jener Zeit mit inkrementellen Steuerungsideen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Von Hayek geht es dann zur Person Ayn Rands, die es schaffte, eine Popularisierung der Ideen über ihre Romane "The Fountainhead" und "Atlas Shrugged" zu erreichen und die Hayek als verkappten Linken empfand. Ihr radikaler Individualismus, den sie in einem vergeblichen Versuch, Zugang zum akademischen Milieu zu finden, als Objektivismus zu systematisieren versuchte, gab ihr eine deutliche Außenseiterstellung, aber deswegen nicht weniger Einfluss.
Hayek, Mises, Rand und Konsorten mochten im akademischen Milieu der 1950er Jahre keinen Einfluss haben und Außenseiter sein, aber ihr Einfluss in der Öffentlichkeit und vor allem unter den sie großzügig finanzierenden Unternehmern wuchs rapide an. Das Meisterstück dieser Propagandakampagne war die Schaffung des "Wirtschaftsnobelpreises", einem der wohl erfolgreichsten Etikettenschwindel aller Zeiten. Der Protagonist dieser Ära war Milton Friedman, der mit ungeheurer Selbstsicherheit die Thesen auf einen radikalen, moralisch-ideologischen Gegensatz zuspitzte. Mit seiner (vom staatlichen Fernsehen finanzierten) Sendung "Right to Choose" popularisierte Friedman die neoliberalen Ideen, die in den 1970er Jahren immer weiter an Anhänger*innen gewannen, am prominentesten in den Personen Ronald Reagans und Margret Thatchers, deren Wahlsiege 1979 und 1980 nach dem Experiment in der chilenischen Diktatur den Boden für den politischen Siegeszug bereiteten. Nach dem Untergang der Sowjetunion moderierten sich diese Ansichten nicht; vielmehr radikalisierte Friedman sich, sah fortan in allem, das er ablehnte (etwa Bill Clintons Krankenversicherungsplänen) sozialistische Umtriebe am Werk.
Kapitel 4, "Konsumentensouveränität und Douce Consommation", untersucht die Rolle des Konsums. Lepenies zeichnet den Beginn des Konsums im Beginn der Mätressenwirtschaft in der späten Neuzeit nach, von der der der Aufstieg des auffälligen Konsums entspränge. Wo Smith, Weber und so weiter noch gemäß der Theorie, das Angebot schaffe sich seine Nachfrage, den Konsumverzicht predigten und sich Keynes auch nur für staatlichen Konsum interessierte, rückte der Konsument unter den Neoliberalen zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für Hayek war anders als noch für Smith, Ricardo und Konsorten der Konsum der Reichen nicht nur eine Garantie von Arbeitsplätzen für den Rest und Ungleichheit deswegen gut; er argumentierte, die Reichen seien Trendsetter und würden neuen Konsum ermöglichen, der dann billiger und für weite Teile erschwinglich werde. Ungleichheit sei deswegen unbedenklicher Motor ständiger Lebensstandardfortschritte und deswegen unbedenklich.
Kapitel 5, "Konsumtrisstesse und ungebremmste Affekte", stellt dann die Folgen ins Zentrum. Vielmehr sei die freie Konsumentscheidung der demokratischste Akt überhaupt, noch viel demokratischer als Wahlen; wichtig sei deswegen eine Konsumentendemokratie, nicht eine politische. Dadurch entstünde ein sehr individualisiertes Weltbild, das Lepenies als den anhaltendsten und durchschlagendsten Erfolg des Neoliberalismus betrachtet; es verbiete ein Denken in kollektiven, gesamtgesellschaftlichen Kategorien und mache daher auch Verbote und Verzichte undenkbar. Vielmehr sei der altliberale "doux commerce" durch die neoliberale "douce consommation" abgelöst worden, die Affektkontrolle gerade ablehnt und dem affektgetriebenen Konsum die beherrschende Wirkung zuschreibt.
Das Fazit kommt zum Schluss, dass diese Entwicklung kein Naturgesetz war, sondern Ausdruck einer sehr erfolgreichen Meinungsbildung durch die Neoliberalen, die tiefgreifende Wirkung hinterlassen habe. Unter anderem mache sie es unmöglich, staatliches Handeln als legitim zu begreifen und irgendwelche steuernden Wirkungen, etwa auf die Klimakrise, zu akzeptieren.
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Ich muss zugeben, ich war von der Struktur des Buches etwas verwirrt. So hatte ich nicht damit gerechnet, einen derart umfassenden Einblick in die Ideengeschichte des Liberalismus zu erhalten. Hier bricht in der Liebe für die Theorie sicherlich auch der Politikwissenschaftler durch. Wirklich überzeugt hat mich diese Struktur nicht: dadurch, dass Lepenies selbst kein Anhänger dieser Theorien oder des neoliberalen Weltbilds ist, erinnert mich seine Darstellung etwas an manche Rechte, die Marx lesen: durchaus intellektuell ehrlich, aber man wird nie das Gefühl los, dass die Fremdheit mit dem Gegenstand und die Ablehnung einiger prinzipieller Prämissen stets eine Art selektiven Lesens begünstigen würde. Nicht, dass die Zitate nicht so in den jeweiligen Werken stehen würden. Aber ich finde es zumindest selbst immer schwer, als Gegner einer Position diese darstellend zu vertreten. Ich kann das grundsätzlich; wie bei Lepenies ist das ja mein Job. Aber da sein Buch hier gleichzeitig explizit eine Gegenposition einnimmt, ist eine gewisse Schizophrenie nicht zu verleugnen.
Das wundert mich umso mehr, als dass die Menge an Theorie eigentlich nicht wirklich nötig scheint. Diese Einschätzung mag etwas unfair sein, weil meine eigene Erwartungshaltung eine andere war. Der Titel des Buches - "Verbot und Verzicht" - deutet eigentlich eine Betrachtung von, nun, Verbot und Verzicht an, während sich das eigentliche Buch aber mit dem beschäftigt, was der Untertitel etwas missverständlich als die "Politik des Unterlassens" bezeichnet: nicht eine Politik, die ein Unterlassen von Konsum fordert (wie man angesichts des "Verzichts" im Titel denken könnte), sondern eine, die ein Unterlassen von Regierungshandeln fordert.
Das ist natürlich eine der unfairsten Kritiken, die man einem Buch machen kann: es behandelt nicht, was ich gerne gehabt hätte. Wer also eine kritische Annäherung an die neoliberale Theorie sucht, die einen Schwerpunkt auf der Betrachtung von Konsum und seiner Rolle für die Demokratie hat, wird sicherlich bedient. Auf eine gewisse Weise wirkt dieser Diskurs etwas aus der Zeit gefallen; ich habe solche Bücher in den 2000er Jahren viel gelesen, als der "Neoliberalismus" (und vor allem der linke Widerstand dagegen) seine intellektuelle Hochzeit erlebte. Vielleicht kommt auch daher meine unterschwellige Aversion gegen diese Betrachtung.
Lepenies' Gedanken sind dabei grundsätzlich absolut lesenswert; meine vorherige Betrachtung reflektiert vor allem meinen subjektiven Zugang. Schließlich habe ich hier im Blog selbst schon wahrlich genug zum Thema Individualisierung als den großen Trend der letzten Jahrzehnte geschrieben, und Lepenies zeigt auf, wie es dazu kam und auf welchen intellektuellen Wurzeln er beruht. Es ist daher definitiv instruktiv zu sehen, wie jung der moderne Massenkonsum ist und dass er auch in den Wirtschaftswissenschaften erst seit relativ kurzer Zeit behandelt wird; das erklärt vielleicht auch, warum es dem progressiven Lager so schwer fällt, hier eigene Akzente zu setzen und es sich hauptsächlich in einer häufig nostalgischen oder idealistischen Abwehr-Reaktion definiert (man denke nur an die Degrowth-Bewegung).
Eine Lücke in Lepenies' Betrachtung scheint mir jedenfalls zu sein, wie sehr sich ein affektgesteuerter Konsum und ein rationaler, auf individuellen Konsumentscheidungen basierender Kapitalismus eigentlich sind. Denn wenn es Affekte sind, die Konsum steuern, und die Masse der individuellen Konsumentscheidungen, die das Wirtschaftsleben bestimmen, so kann dabei kein effizientes, rationales Wirtschaften entstehen. Dass Hayek und Friedman und ihre Jünger diese Widersprüche unter absolutistischen, ideologiegetriebenen Prämissen begraben - geschenkt, diese Leute waren mehr Ideologen als Wissenschaftler, was Lepenies ja auch herausarbeitet.
Aber dabei geht mir gerade die Unterscheidung zwischen den großen Ideologen und ideengeschichtlich relevanten Leuten, die in der Lage waren, den öffentlichen Diskurs und das öffentliche Bewusstsein maßgeblich zu beeinflussen, und der Wissenschaft etwas verloren. Hayek und Friedman sind noch Grenzgänger zwischen diesen Welten, aber spätestens eine Ayn Rand definitiv nicht mehr, und auch Ronald Reagan ist jetzt nicht eben als großer Akademiker aufgefallen. Die Wirtschaftswissenschaften selbst bieten ja ein viel komplexeres Feld, als es die Theorien der Neoliberalen darstellen; dass dies gegenüber den simplen Meistererzählungen kaum bekannt ist, ist ja offensichtlich. Aber das eine ist eben sehr gute Öffentlichkeitsarbeit, der man eine eigene entgegenstellen müsste. Und dazu leistet Lepenies leider (noch?) keinen Beitrag.
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