Roland D. Gerste - Die Heilung der Welt: Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840 - 1914 (Hörbuch)

Für einen Großteil der Menschheitsgeschichte waren Krankheiten und Verletzungen persönliche Katastrophen. Zwar gab es eine Zunft von Heilenden aller Couleur, aber über den Quacksalberstatus kamen die wenigsten dieser Leute hinaus, egal wie gut sie es tatsächlich meinten. Diejenigen, die tatsächlich in der Lage waren, Operationen oder Behandlungen durchzuführen, verursachten bei ihren Patient*innen unsagbare Qualen. Die meisten Krankheiten, die heute durch Routineeingriffe beseitigt werden können, kamen einem Todesurteil gleich. Das alles änderte sich im 19. Jahrhundert, als die titelgebende "Heilung der Welt" durch eine ganze Serie von Innovationen einsetzten, die die Medizin in ihr ebenso titelgegendes "Goldenes Zeitalter" beförderten und eine neue Zeit für die Menschheit einläuteten, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Dieser Aufbruchszeit der Medizin wendet sich Roland D. Gerste in diesem neuen Werk zu.

Den Beginn macht er nach einem kurzen thematischen Einstieg in Kapitel 1 mit "Menschenbilder". Die Fotografie war zwar keine medizinische Erfindung, besaß aber auf die Medizin nachhaltige Auswirkungen - schon allein wegen des Wandels des Menschenbilds, das damit einherging. Endlich schien es möglich, objektive Darstellungen von Menschen anzufertigen. Auf die ersten Porträts folgten schnell auch Bilder der ersten Kranken - für die Medizingeschichte von unschätzbarem Wert. Aber besonders relevant war die Kombination von Mikroskop - dessen Beobachtungen bisher bestenfalls gezeichnet werden konnten - und Fotografie, die des ermöglichte, einen wesentlich größeren Wissensschatz als bisher anzulegen, der für die Ausbildung essenziell war.

In Kapitel 2, "Stille in Boston", zeichnet die grundlegende Erfindung der Anästhesie nach. Vor 1846 waren chirurgische Eingriffe sehr beschränkt und nur unter massivem Schmerz möglich; mit der Erfindung der Anästhesie erleichterten sie nicht nur beiden Seiten den Eingriff, sondern ermöglichten endlich auch solche Operationen, die vorher wegen sich vor Schmerzen windenden Patient*innen unmöglich gewesen waren. Die großartige Botschaft wird leider durch hässliche Patentstreits überschattet, in denen Ausbeutung und Betrug für anderthalb Jahrhunderte verdeckten, wem die Ehre der Entdeckung eigentlich gebührt.

Kapitel 3, "Todbringende Hände", führt eine ebenso grundlegende Neuerung der Medizin ein. Wie in einer Detektivgeschichte erzählt Gerste die Geschichte zweier benachbarter Krankenhäuser, in denen sich die Raten tödlichen Kindbettfiebers um ein Vielfaches unterschieden. In einem Krankenhaus starben über 20% der gebärenden Mütter, im anderen kaum 2-3% (eine ähnliche Rate wie bei Hausgeburten). Die Gründe des Kindbettfiebers lagen lange Zeit im Dunkeln, aber der donauschwäbische Arzt Semmelweiß fand schließlich heraus, dass wenn die vorher an Leichen arbeitenden Ärzte sich in einer Chlorlösung die Hände wuschen, die Todesraten deutlich sanken. Natürlich war es wahnsinnig schwierig, das Hände Waschen durchzusetzen; heute würde Semmelweiß vermutlich einfach am freiheitlichen Recht des Individuums auf schmutzige Hände scheitern. Damals konnte er seine neue Regel durchsetzen und unzählige Leben retten.

Kapitel 4, "Die Great Exhibition", befasst sich mit derselben, die 1851 in England stattfand. Der "Crystal Palace" ist das berühmteste Element dieser Ausstellung, aber Gerste benutzt das Kapitel vor allem, um zu zeigen, wie unterentwickelt sanitäre Standards waren (die Ausstellung hatte viel zu wenige der brandneuen Wassertoiletten) und dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer vollkommen unklar war, wie Fortpflanzung funktionierte - der Zusammenhang zwischen Sex und Schwangerschaft war nur grundlegend, aber nicht einmal in den gröbsten Details verstanden.

In Kapitel 5, "Chloroform", kehren wir zur Anästhesie zurück. Dieses Mal über den Arzt John Snow (nicht der Bastard von Ned Stark), der sie zwar nicht erfunden, aber ihre Anwendung professionalisiert hat. Vor Snow war die Anwendung von Äther und Chloroform ein reichlich riskantes Geschäft, das Patient*innen öfter einmal das Leben kostete. Snow verlor niemanden und brachte über neue Geräte das Chloroform auch in Bereiche, in denen es bisher außen vor geblieben war, vor allem die Geburten. Wenig überraschend, dass die katholische Kirche dagegen Sturm lief, weil es mit der Bibel nicht vereinbar war, Frauen Schmerzen zu nehmen. Diese gehörten zu Geburt und man könne "Gott nicht den Schreien berauben", denn das führe zu einem Abfall vom Glauben. So was können auch nur Männer schreiben; Queen Victoria jedenfalls war begeistert, und damit war die Sache gegessen.

Auf die Krim geht es dann in Kapitel 6, "Die Frau mit der Lampe", das sich (natürlich) mit Florence Nightingale beschäftigt, aber räumt auch Mary Seacole den ihr gebührenden Platz ein: die jamaikanisch-stämmige Krankenpflegerin war über anderthalb Jahrzehnte zugunsten der aus gutem Haus stammenden weißen Nightingale aus der Geschichte geschrieben worden. Der Krimkrieg wurde so zur Geburtsstunde des modernen Sanitätswesens. Auch andere moderne Erfindungen wie Eisenbahn und Fotografie feierten ihr Debüt in dem Konflikt. Er zugleich auch einer der letzten altmodischen Konflikte des 19. Jahrhunderts: noch kein "totaler Krieg" war zu sehen, noch wurde  die Zivilbevölkerung leidlich geschont. Dafür war er der wohl erste Medienkrieg, mit Kriegsberichterstattern, deren Wirken Nightingale ihren Auftritt überhaupt erst verdankt.

In Kapitel 7, "Räder aus Stahl", spielt die Eisenbahn die tragende Rolle. Die Schlüsseltechnologie des 19. Jahrhunderts, die wie keine andere mit Fortschritt verbunden ist, schuf durch zahlreiche Arbeitsunfälle ihre eigenen medizinischen Herausforderungen. Neu jedoch waren adie kulturpessimistischen, schier hysterischen Warnungen mancher Ärzte vor dem delirium furiosum, das angeblich beim Anblick der halsbrecherisch mit 30km/h dahinschießenden Eisenbahnen ausbrechen müsse. Wesentlich realer war das bei Eisenbahnunfällen erstmals auftretende Schleudertrauma, das zur Entdeckung von PTSD und psychosomatischen Erkrankungen führte. An dieser Stelle schiebt Gerste kurz eine Betrachtung des Einzelschicksals von Phineas Gage ein. Der Eisenbahnarbeiter erlitt eine schwere Hirnverletzung, die er zwar überlebte, die aber seine Psyche änderte. Gage wurde so unfreiwillig zu einem Wegbereiter der Neurologie.

Zurück auf das Gebiet von Krankheit und Pandemie geht in Kapitel 8, "Karte des Todes", in dem einige Ärzte endlich Schluss mit dem antiken Dogma von "Miasmen" als Auslösern von Krankheiten wie der Cholera machen und erstmals statistische Methoden anwenden, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. In diesem Fall ist es das Wasser, dessen Verschmutzung verantwortlich für den Transport der Keime ist - so wie Ratten die Große Pest des 14. Jahrhunderts verbreiteten. Die Pionierleistung John Snows an dieser Stelle war es, auf der titelgebenden "Karte des Todes" akribisch den Cholerafällen nachzuspüren, eine verschmutzte Wasserpumpe als Quelle zu identifizieren, dies empirisch nachzuweisen und so für Wasserhygiene zu sorgen. Natürlich dauerte es noch Jahrzehnte, bis alle Stadtverwaltungen akzeptierten, dass sauberes Wasser tatsächlich die Krankheit verhinderte; Hamburg etwa brauchte noch in den 1880er Jahren eine verheerende Cholera-Epidemie mit tausenden von vermeidbaren Toten - ein Muster, das leider viele der in diesem Buch beschriebenen Welt-Heilungen teilen.

In Kapitel 9, "Bücher", wendet sich Gersten zwei Werken zu, die mittelbaren Einfluss auf die Heilung der Welt haben würden. Einerseits geht es um Charles Darwin und seine Fahrt auf der "Beagle"; die Evolutionstheorie, deren Genese Gerste hier nachverfolgt, würde ich als essenziell zum Verständnis von Krankheiten erweisen. Auf der anderen Seite steht erneut Ignatz Semmelweiß, der seine Erkenntnisse zur Hygiene und Kindbettfieber mittlerweile - weit weniger erfolgreich als Darwin, weil nichts auf Publikumsgeschmack gebend und extrem aggressiv-polemisch argumentierend - zu Papier gebracht hatte. Zukünftige Ärztegenerationen würden seine Erkenntnisse jedoch nach und nach umsetzen.

Wesentlich praktischer geht es in Kapitel 10, "Rotes Kreuz", zur Sache. Die Geschichte Hendir Dunants kulminiert von seiner Gründung des CVJM - um jungen Männern einen christlichen Lebenswandel beizubringen - und Missionsversuchen in Algerien über seine harsche Ablehnung der Sklaverei in der Schlacht von Solferino, wo er die örtlichen Anwohner*innen und die Militärs dazu bringt, sämtliche Verwundeten ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu versorgen - und die Idee für eine neue Organisation, die neutral sämtliche Kriegsopfer versorgen sollte, gebar. Dunants PR-Fähigkeiten waren gut ausgeprägt, und er gewann diverse gekrönte Häupter für seine Idee, die zur Genfer Konvention führten.

Diese Ideen kamen für den blutigsten Konflikt des 19. Jahrhunderts zu spät, dem sich Kapitel 11, "Wunden der Nation", widmet. Ein weiteres Buch - Harrier Beecher Stowe mit ihrem Werk "Onkel Toms Hütte", das über die Schrecken der Sklaverei ein breites Publikum sich empören ließ - steht am Anfang eines kurzen Abrisses der Geschichte des Bürgerkriegs, ehe Gerste sich der neuartigen Dimension des Konflikts zuwendet: die totale Mobilisierung der beiden amerikanischen Staaten und die riesigen involvierten Menschenmassen und damit Verwundeten. Anders als es die populäre Darstellung der "Bonesaws" oft will, gesteht Gerste den Militärchirurgen durchaus große Fachkenntnis zu - diese war nur seinerzeit noch schwach ausgeprägt, so dass Amputationen oft die einzige Möglichkeit waren, den Verwundungen der Innovation des "Minié ball", der furchtbare Verletzungen anrichtenden neuen Munition, zu begegnen.

Das Kapitel wird von einem weiteren Einzelschicksal, in diesem Fall James Madison deWolfs, gefolgt. Der Arzt war ein aufstrebendes Talent im amerikanischen Westen - und hatte das Unglück, zu Custers Kavalleriedivision zu gehören. Sein Schicksal zeigt einmal mehr, wie eng Medizin und Militär miteinander verknüpft waren und wie sehr beides einander bedingte.

Das folgende 12. Kapitel, "Antisepsis", sieht endlich die Bekämpfung des gewaltigen medizinischen Problems des Wundbrands. Der schottische Arzt Lister behandelte 1867 erstmals einen offenen Bruch mit Phenolsäure, die die bis dahin üblichen Infektionen - denen man durch präventive Amputation begegnete - verhinderte. Nicht nur wurden dadurch zahlreiche Verletzungen weniger tödlich oder verwandelten ihre Opfer in Krüppel, die am Rande der Gesellschaft leben mussten; plötzlich öffnete sich auch das Spektrum von Behandlungen, die möglich waren, etwa Operationen am Bauch, an der Brust oder am Kopf. Die Heilung der Welt schritt massiv voran. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der Begründer der Antisepsis, Ignatz Semmelweiß, just an dem Tag starb, als Lister das Verfahren erstmals erfolgreich anwendete.

Ein weiteres Schicksal beschäftigt sich mit dem "Elefantenmann" Joseph Merrick. Der missgebildete Merrick wurde auf Jahrmärkten zur Schau gestellt, ehe der Chirurg Frederick Treves ihn entdeckte, ihm Obdach zur Verfügung stellte und sich um ihn kümmerte. Für Gerste ist das ein Indikator dafür, dass der Fortschritt der Welt im 19. Jahrhundert nicht nur auf medizinischem Gebiet zu finden war, sondern auch im Umgang der Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern.

Weiter geht's in Teil 2.

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