Teil 1 hier.
Roland D. Gerste - Die Heilung der Welt: Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840 - 1914 (Hörbuch)
Das dreizehnte Kapitel, "Augenlicht", bringt die Medizin in einen Bereich, in dem vorher außer dem Stechen des Grauen Stars recht wenig möglich war (und das war schon eine reichlich unsichere Geschichte): die Augenchirurgie. Durch die Entwicklung neuer optischer Instrumente einerseits und der im vorigen Kapitel beleuchteten Antisepsis andererseits wurden plötzlich Operationen und ein viel tiefergehendes Verständnis vom Aufbau des Auges möglich, als dies bisher der Fall war. Der Fokus des Kapitels liegt auf Friedrich Graefe, dem wohl profiliertesten Augenarzt der Epoche, der quasi im Alleingang das Feld begründete und trotz schlechter Gesundheit durch enormen Arbeitseifer auffiel. Er operierte tausende von Menschen mit großartigen Ergebnissen und gehört damit in den Kanon der erinnerungswürdigen Gestalten jener an solchen nicht eben armen Zeit. Sein Leben wurde durch die Tuberkulose bereits mit 42 Jahren brutal beendet - just in dem Moment, als der Initiator der ersten internationalen Ärztekonferenz den Ausbruch des deutsch-französischen Kriegs erleben musste.
Dieser überschattete auch die Beziehung zwischen Louis Pasteur und Robert Koch. In Kapitel 14, "Erbfeinde", sehen wir nicht nur, welche Auswirkungen die Pflichtimpfung der deutschen Soldaten gegenüber ihren ungeimpften französischen Gegnern hatte, sondern treffen endlich auch auf Pasteur, der als Inspiration bereits bei der Antisepsis auftauchte. Es war Koch, der zum ersten Mal Milzbranderreger richtig identifizierte und dann im Identifizieren der Tuberkuloserreger eine medizinische Revolution auslöste, die im Geist der damaligen Zeit als Wettkampf mit Pasteur und damit stellvertretend für die deutsch-französische "Erbfeindschaft" geframed wurde.
Kapitel 15, "Wissenschaftsnation", befasst sich weiter mit dem beginnenden Ruf Deutschlands als "Wissenschaftsnation". Diese Idee verdankte das Land einer klaren Hinwendung zu den Naturwissenschaften, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts im ganzen Westen en vogue wurde. So strich man im Medizinstudium die bisher obligatorischen Geisteswissenschaften und führte stattdessen naturwissenschaftliche Kurse ein.
In Kapitel 16, "Kokain", führt Gerste in die nächste Revolution der Anästhesie ein. Nach der Komplettbetäubung durch Äther und Chloroform sorgte die Erfindung beziehungsweise Entdeckung von Kokain dafür, dass es möglich wurde, lokale Betäubungen durchzuführen. Die offensichtlichsten Anwendungen waren bei zahnärztlichen Behandlungen, die vor der Erfindung derselben eine wahre Tortur gewesen waren. Entdeckt wurde die Anwendung aber für Augenoperation; die Selbstexperimente der betreffenden Augenärzte, die die Wirksamkeit ihres Mittels durch Herumstochern mit Nadeln auf ihrer Netzhaut testeten, sind allerdings ebenso wissenschaftsethisch unhaltbar wie skurril. Dass der Stoff gewisse Nebenwirkungen hatte, weswegen wir heute andere Dinge verwenden, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
Kapitel 17, "Schwester Carolines Handschuhe", kehrt zur Thematik der Infektionsverhinderung bei Operationen zurück. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Semmelweiß' Erkenntnis, dass Hygiene Infektionen vorbeugt, glücklicherweise weit herumgesprochen. Sicher war das alles natürlich trotzdem nur eingeschränkt, und für die Hände der Beteiligten darüberhinaus auch nicht eben gut. Wie der Zufall es wollte, verliebte sich ein reicher Oberarzt in eine Oberkrankenschwester mit Hautproblemen, die aber für ihren Job brannte und unbedingt in der Chirurgie arbeiten wollte. Er gab ein kleines Vermögen aus, um einen Prototyp dünner, aber widerstandsfähiger Gummihandschuhe produzieren lassen. Mit diesen konnte Schwester Caroline sogar Wunden zunähen - und ihre Hände schützen. Aus dem OP-Saal sind sie seither nicht wegzudenken.
Gefolgt wird dieses Kapitel vom Einzelschicksal James Garfields. Er litt darunter, dass Semmelweiß' Erkenntnisse selbst eine Generation später noch nicht überall bekannt und akzeptiert waren. Als er angeschossen wurde, fingerten diverse Ärzte mit nicht desinfizierten Fingern und Geräten in der Wunde herum. Dieselbe wäre nicht tödlich gewesen; der Eingriff der Ärzte war es. Dass so etwas mehr als 20 Jahre nach Semmelweiß' Erfindung an der wichtigsten Person des Landes möglich war, lässt einen nur mit Kopfschütteln zurück.
In Kapitel 18, "Tollwut und Cholera", geht es, wenig überraschend, um Tollwut und Cholera. Die Tollwut war eine Krankheit, deren Ursachen zwar grundsätzlich bekannt waren - infizierte Tierbisse -, die aber mit den Methoden des 19. Jahrhunderts unheilbar war (und es auch mit denen des 21. Jahrhunderts leider bleibt). Allerdings wurde eine Imfpung entwickelt, die, wenn halbwegs rechtzeitig nach dem Biss verabreicht, zuverlässig vor der Tollwut schützte. Gerade für die Landbevölkerung bedeutete das eine immense Erleichterung. Die Cholera indes war zwar auf schmutziges Wasser zurückgeführt, aber noch bei weitem nicht geheilt. Hier zeitigte sich ein geradezu tragischer Fehlschluss einer medizinischen Koryphäe, die die Ursache an völlig falscher Stelle suchte und dadurch ineffektive Heilmethoden verordnete. Zur Ehrenrettung muss angebracht werden, dass die wahre Natur der Krankheit mit den Mitteln der Zeit auch noch nicht erkennbar war; das Antibiotikum harrte noch ein weiteres halbes Jahrhundert seiner Entdeckung. Unverzeihlich indessen bleibt, dass Hamburg durch seine Sparpolitik - das Großbürgertum sonderte sich weiter vom einfachen Volk ab und hatte solche Investitionen aus seiner Sicht nicht nötig - auch in den 1880er Jahren noch keine vernünftigen sanitären Anlagen besaß und deswegen die zweifelhafte Ehre hatte, der Hort der letzten Choleraepidemie in Deutschland zu sein.
Danach folgt das Einzelschicksal Elizabeth Strides', eines bestätigten Opfers von Jack the Ripper. Relevant ist das abgesehen vom Sozialporträt einer randständigen Gelegenheitsprostituierten vor allem, weil der Verdacht bestehen bleibt, Jack the Ripper sei Chirurg gewesen.
Das neunzehnte Kapitel, "Strahlenbilder", widmet sich Wilhelm Conrad Röntgen. Von Haus aus Physiker und nicht Arzt, fand er zufällig bei Experimenten die Strahlen, die er X-Strahlen taufte. Als passionierter Fotograf kam er auf die Idee, Fotos von den Ergebnissen aufzunehmen - unter anderem der Hand seiner Frau (glücklicherweise verstrahlte er sie durch Zufall nicht, ein Schicksal, das späteren Opfern nicht erspart bleiben sollte). Er publizierte seine Erkenntnisse in physikalischen Fachkreisen, ohne an die Anwendungsbereiche für die Medizin zu denken. Seine bescheidene Natur, die öffentliche Auftritte ablehnte, trug weiter dazu bei, dass er die Wirkung verkannte. Glücklicherweise erstellte er in Handarbeit über 100 Fotografien und versendete diese an Bekannte, die anders als er die revolutionäre Bedeutung von Fotos des Skeletts sofort erkannten. Der Rest ist Geschichte.
An das Kapitel schließt sich das Schicksal Kaiserin Elisabeths an. Operationen am offenen Herzen blieben für die Chirurgie lange eine völlige Unmöglichkeit und galten als Höhepunkt der Verantwortungslosigkeit. Umso bemerkenswerter war, dass ein junger Arzt mehrere der oben genannten Erfindungen kombinierte und die erste erfolgreiche Herz-OP durchführte. Für die Kaiserin indes war das kein Trost: ihre Verletzung war zu tief und wurde zu spät bemerkt, als dass man sie hätte retten können, und so starb "Sissi" an den Folgen des Attentats.
In Kapitel 20, "Jahrhundertwende", versucht Gerste das Lebensgefühl am Ende der Dekade einzufangen. Mehrere medizinische Neuheiten und Persönlichkeiten trafen hier zusammen, aber wohl keine war so legendenumrankt wie Sigmund Freud, der quasi im Alleingang die Psychotherapie begründete. Damit war endlich auch eine menschenwürdigere Behandlung von Geisteskranken möglich, die bis dato unter unwürdigsten Umständen in "Irrenhäusern" aufbewahrt worden waren. Nach dieser kurzen Behandlung reist Gerste gedanklich weiter nach Großbritannien, wo mit dem Tod Victorias auch eine Ära zu Ende geht. Die Royals hatten ein verqueres Verhältnis zu Ärzten; Victoria etwa ließ sich trotz zahlreicher Beschwerden nicht untersuchen, und der Thronfolger Edward wäre beinahe noch auf der Fahrt zu seiner Krönung gestorben, weil er sich dem Rat der Ärzte zur OP widersetzte. Er wurde dann der erste nach neuen Methoden geheilte Blinddarmpatient. Größeres Ansehen gewann die medizinische Kunst, wie die Naturwissenschaften generell, durch die Verleihung der ersten Nobelpreise. Gerste streicht heraus, dass die damaligen Gewürdigten wesentlich bekannter waren als die heutigen - Zeichen eines geänderten Diskurses, aber auch der bahnbrechenden Entdeckungen, die in Medizin und Chemie gemacht worden waren. Vor allem die Heilung der Diphterie, einer gefürchteten Krankheit von Kleinkindern, und die Grundlagenarbeit für die Behandlung von Polio, gehören dazu.
Auf dieses Kapitel folgt das Schicksal, von Adele Bloch-Bauer, der "Frau in Gold". Das berühmte Gemälde eignete sich für diverse medizinische Analysen, da Bloch-Bauer an Meningitis litt.
Das einundzwanzigste Kapitel, befasst sich mit jüdischen Medizinern, von denen um die Jahrhundertwende mehrere prominent tätig waren. Ich finde es angesichts auf der Auflistung von Leistungen dieser spezifischen Gruppe, von denen die meisten aus Deutschland stammten, besonders auffällig, wie unglaublich bescheuert der Antisemitismus der Epoche einerseits, aber vor allem seine genozidale Steigerung unter den Nationalsozialisten andererseits waren. Selbst wenn man den Zweiten Weltkrieg komplett beiseite lassen würde ist der Schaden, den sie allein deswegen für das Land angerichtet haben, ungeheuer.
In Kapitel 22, "Menetekel", erleben wir den Untergang der Titanic aus Sicht ihrer Schiffsarzts, O'Loughlin. Die Titanic verkörperte den Modernitätsanspruch der Epoche auch durch die verpflichtenden medizinischen Untersuchungen der Dritten Klasse, ohne die diese nicht an Bord gelassen wurden (und die einer syrischen Auswandererfamilie indirekt das Leben retteten, die nicht an Bord gelassen wurden). Die unfallträchtige Umgebung eines Schiffes sorgte für höheren Schiffarztbedarf, als man denken könnte. Es ist offenkundig, dass Gerste den Untergang hier als Untergang einer Epoche und Setup für das letzte Kapitel benutzt, was zwar sehr griffig, aber historisch nicht sonderlich tragfähig ist.
Das letzte Kapitel, "Unheilbar", benutzt die Metapher von um 1910 unheilbaren Krankheiten als eine für die Epoche als Ganzes. Die Nervosität, die außenpolitischen Spannungen und dann der Beginn des Ersten Weltkriegs stehen so als stellvertretend für den Untergang des Fortschrittsglaubens einer Epoche. Der Krieg selbst erforderte natürlich einen massiven Aufbau eines Sanitätswesens, und den Soldaten kamen zahlreiche Innovationen zugute, die ihre Überlebenschanchen drastisch erhöhten (genauso wie Innovationen in Waffen und Logistik sie drastisch reduzierten).
Aber Gerste schließt nicht mit dem Krieg, sondern einem Epilog, "Pandemie". Denn 1918 brach die so genannte "Spanische Grippe" aus, die zwischen fünfzig und hundert Millionen Todesopfer weltweit forderte und damit wesentlich tödlicher als die Covid-Pandemie war. Gerste betont, dass sie nicht verglichen werden sollten: die Reaktionen der Politik, sowohl innen- als auch besonders außenpolitisch, waren wesentlich weniger umfassend als 2020ff., und die Menschen nahmen die Spanische Grippe gar nicht als den großen Einschnitt war, den sie angesichts der Opferzahlen darstellen sollte, weil hohe Opferzahlen durch Atemwegserkrankungen noch die Norm waren. Tatsächlich war die Spanische Grippe die letzte mörderische Pandemie in Westeuropa - auch eine Art Hoffnungsschimmer für die Zukunft, mit dem das Buch beschließt.
Insgesamt kann ich Gerstes Buch nur empfehlen. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf ein viel zu wenig diskutiertes Thema der Geschichte und kann zahlreiche Personen auflisten, die wesentlich bekannter sein sollten - weil sie, anders als imperialistische Staatenlenker, tatsächlich eindeutig zum Wohl der Menschheit beigetragen haben. Auch mochte ich das übergeordnete Narrativ der Zeit als einer sich als modern und fortschrittlich begreifenden. Gerste verengt dabei auch nicht zu sehr den Blick; immer wieder gelingen ihm Einbindungen der jeweiligen medizinischen Themen in Geschichte der Moderne des 19. Jahrhunderts. So beschreibt er die Biedermaier-Zeit und den Vormärz, die Revolutionen von 1848, den amerikanischen Bürgerkrieg und viele weitere Ereignisse, so sie passend erscheinen und vermag so, die medizinischen Innovationen in einen Gesamtkontext zu setzen. So dürfen mehr Geschichtswerke geschrieben sein.
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