Ronke Steinen - Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich (Hörbuch)
Es ist das große Versprechen des Rechtsstaats: vor dem Gesetz sind alle gleich. Nicht umsonst wird Justitia als Verkörperung des Rechts mit Augenbinde dargestellt: blind gegenüber dem Ansehen der Person, einzig und allein dem Recht verpflichtet. Dass das nicht stimmt, nirgendwo, ist hinreichend bekannt und auch eingängig: das Recht wird von Menschen gemacht und gesprochen, und wo Menschen leben gibt es Dreck. Allerdings gibt es neben diesem unvermeidbarem Menscheln auch Faktoren, die systemisch sind. Diese sind deutlich schwieriger zu rechtfertigen. Ihre skandalöse Natur deckt Ronen Steinke, selbst erfahrener Jurist, in diesem Buch auf.
Im ersten Kapitel, "Anwälte: Je teurer die Verteidigung, desto unschuldiger der Angeklagte", räumt Ronen Steinke gleich mit einer der weitverbreitetsten Fehlinformationen über das deutsche Justizsystem auf: dass wer kein Geld hat, die Verteidigung gestellt bekommt. Tatsächlich passiert dies nur sehr selten; meist müssen die Angeklagten sich selbst verteidigen. Ich hab schon meine eigenen Probleme mit Behördendeutsch; wie gut sich Asylbewerbende aus Syrien oder Somalia alleine vor einem Gericht verteidigen können, kann man sich ausmalen. Wie Steinke zeigt, ist es aber verstörend oft Alltag. Umgekehrt können wohlhabende Personen mit einem Anwalt oft Probleme schon aus dem Weg räumen, ehe der Prozess beginnt.
Kapitel 2, "Urteile: Je prekärer die Lebensumstände, desto härter entscheiden die Richter", zieht dieses Prinzip weiter in die eigentliche Urteilsbildung. Hier schlagen die systemischen Umstände in den eigentlichen Gesetzestexten ebenso zu die menschlichen Faktoren. Es ist empirisch belegt, dass Richter*innen härter strafen, wenn die Lebensumstände der Angeklagten schlecht sind, in der perversen Logik, dass Menschen, denen es schlecht geht, eine härtere Strafe brauchen, um denselben Abschreckungseffekt zu erreichen wie "bürgerliche" Personen. Gleichzeitig wirkt die Rechtsnorm der "Geschäftsmäßigkeit" ungeheuer strafverschärfend: wer Kleinigkeiten stiehlt, wird normalerweise recht milde bestraft - es sei denn, er oder sie tut es "geschäftsmäßig". Diese Annahme aber wird in Relation zum Einkommen und Vermögen getroffen, weswegen besonders Obdachlose für Mini-Diebstähle gerne harsche Haftstrafen bekommen, weil die drei Rasierer bei ihnen gleich "Geschäftsmäßigkeit" bedeuten. Solche Schieflagen kennt das Gesetz zur Genüge.
Im dritten Kapitel, "Geldstrafe: Je vermögender man ist, desto billiger kommt man davon", wird das ausführlich demonstriert. Geldstrafen werden in Deutschland dank der progressiven Reformen der 1970er Jahre mittlerweile als Tagessätze vergeben: anstatt eine sozial regressive Geldstrafe für alle zu vergeben (wie das bei Ordnungswidrigkeiten der Fall ist, die sozial extrem ungleich zuschlagen), wird das Einkommen eines Tages als Maßstab genommen und angewendet. Das Problem ist aber, dass die Gerichte das Einkommen gar nicht kennen. Der Schutz des Eigentums verhindert eine Zusammenarbeit mit den Finanzämtern. Alle anderen Informationen können Gerichte recht einfach abrufen und vernetzen; einzig die Finanzämter halten eisern dicht. Entsprechend müssen die Richter*innen schätzen. Dabei überschätzen sie das Einkommen der Ärmsten oft, unterschätzen aber regelmäßig das Einkommen Begüterter (die Tagessätze werden üblicherweise zwischen 10 und 30 Euro geschätzt).
Kapitel 4, "Gefängnis: Der neue Schuldturm", zeigt eine weitere daraus erwachsende Konsequenz. Denn Vermögende können Geldstrafen üblicherweise auch leichter aus der Substanz tragen, selbst wenn sie korrekt geschätzt wurden. Arme Menschen dagegen, und Obdachlose besonders (wie oft diese im Fokus der Justiz stehen ist völlig absurd), können diese jedoch oft nicht regelmäßig entrichten. Sie landen dann im Gefängnis, wo sie die Tagessätze 1:1 in Hafttage umwandeln können. Die Tendenz ist hier klar: in den letzten zwei, drei Jahrzehnten hat sich der Anteil derjenigen, die wegen solcher Strafschulden im Gefängnis sitzen, enorm gesteigert. Ein gewaltiger Anteil davon sind Strafen wegen Schwarzfahrens, bei denen die Verkehrsbetriebe das Justizsystem zu ihren Gehilfen machen - auf Steuerzahler*innenkosten.
Eine andere Ungerechtigkeit wird in Kapitel 5, "U-Haft: Wer prekär lebt, wird häufiger präventiv eingesperrt", aufgezeigt. Untersuchungshaft wird üblicherweise verhängt, wenn Fluchtgefahr besteht. Nur besteht Fluchtgefahr praktisch definitionsmäßig nur bei den ärmeren Bevölkerungsschichten (und dann wieder bei international gut vernetzten Persönlichkeiten wie Uli Hoeneß, aber zu dem kommt Steinken noch), weswegen auch nur sie in den zweifelhaften Genuss kommen. Die Bedingungen in der U-Haft aber sind wesentlich schlechter als die in regulärerer Haft und können sich wegen der Überlastung der Justiz lange ziehen. Auch hier wird mit erschreckend zynischer Logik davon ausgegangen, dass das kein Problem ist, weil die soziale Unterschicht durch Haft wesentlich weniger leide als "bürgerliche" Menschen. Entsprechend wird sie auch unabhängig von der Fluchtgefahr wesentlich liberaler verhängt.
Im sechsten Kapitel, "Wirtschaftskriminalität: Die Welt der weißen Kragen", breitet Steinken dann die sattsam bekannte Tatsache aus, dass Wirtschaftskriminelle vom Staat wesentlich freundlicher angefasst werden als Verbrecher*innen aus den unteren Bevölkerungsschichten. Das fängt schon damit an, dass sie üblicherweise Kaution stellen können und damit der Untersuchungshaft entgehen, was den Ärmeren nicht möglich ist. Zudem ist ihre Kriminalität meist so komplex, dass sie den Staat geradezu sabotieren können, um Deals zu erzwingen, in denen sie oft genug ohne formelle Verurteilung auskommen und nur Geldstrafen entrichten müssen. Das alleine wäre schon skandalös genug, aber mit Ausnahme weniger Fälle können Strafen aus Wirtschaftskriminalität nicht nur vom Arbeitgeber übernommen werden (der das meist tut und dafür auf eine blühende Manager-Versicherungsindustrie zurückgreifen kann) sondern auch noch von der Steuer absetzen, so dass die Gemeinschaft der Steuerzahlenden die Schuld bezahlt. Zuletzt sind die Beträge auch noch in geradezu absurd niedrigen Dimensionen gekappt; VW etwa bezahlte für seinen Abgasbetrug fünf Millionen Euro - kaum der Umsatz einiger Minuten.
Die Natur der Kriminalität der Schwächsten steht dagegen in Kapitel 7, "Elendskriminalität: Die Welt der Schwächsten", im Zentrum. Dabei geht es etwa um Elendsprostitution. Steinken bringt das Beispiel einer heroinsüchtigen Drogenabhängigen, die für 8€ Sexualakte preisbietet und dafür ständig aufgegriffen und zu immer härteren Geldstrafen verurteilt (der Abschreckungseffekt, Sie wissen schon). Woher bekommt sie das Geld für die Strafen? Die geneigten Lesenden haben vermutlich eine Vorstellung. Auch Bettelei wird in Deutschland immer mehr bestraft, nachdem sie in den 1960er Jahren entkriminalisiert worden war. Steinken vergleicht sie mit den zahllosen Spenden sammelnden und Umfragen durchführenden Leuten, die sich auch in den Fußgängerzonen finden und die keiner Kriminalisierung unterliegen - aber eben auch nicht so anstößig sind. Zuletzt geht er auf den Sozialbetrug ein, vor allem beim Bürgergeld. Dieser wird wesentlich harscher bestraft als Steuerhinterziehung, obwohl bei beiden Delikten die Gemeinschaft geschädigt wird. Die Vorstellung aber, dass es bei Steuerhinterziehung um das "eigene" Geld gehe, lässt die Justiz hier mit Samthandschuhen vorgehen, während sie bei Sozialbetrug mit gewaltiger Härte zuschlägt.
Das achte Kapitel, "Drogen: Der Konsum geht durch alle Schichten, die Bestrafung nicht", zeigt, dass die aus den USA sattsam bekannte Dynamik, dass die Drogen der weißen Mittelschicht viel weniger hart bestraft werden als die der (schwarzen) Unterschicht, auch in Deutschland stattfindet. So war etwa Valium bis weit in die 1960er Jahre als "Hausfrauengold" normalisiert, ist aber seither zur Unterschichtendroge geworden - und wird entsprechend seither auch hart bestraft, vorher gar nicht. Auch andere Drogen haben solche Zyklen der gesellschaftlichen Akzeptanz durchgemacht: wann immer sie von der Unterschicht konsumiert werden, werden sie hart verfolgt, sonst nicht. Dazu kommt die Ermittlungspraxis mit verdeckten Ermittelnden, die dazu führt, dass Drogendelikte immer nur bei Kontrollen aufgedeckt werden und deswegen auch fast immer nur die kleinsten Nutzenden und Dealenden erwischt werden, die untersten Sprossen der Leiter, und auch nur die auf der Straße, was die Wohlhabenderen, die üblicherweise in Häusern und Hotels kaufen, unbehelligt lässt.
Zum Schluss, "13 Vorschläge, wie man es besser machen könnte", macht Steinke - Überraschung! - 13 Vorschläge für Reformen. Diese sind angenehm niedrigschwellig und beinhalten vor allem kleine Gesetzesänderungen, die die oben genannten Missstände angehen würden. Er erhebt nicht den Anspruch, ein perfektes System zu schaffen, sondern letztlich nur, einige der gröbsten Ungerechtigkeiten zu beseitigen, um das Versprechen des Rechtsstaats etwas realer zu machen.
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Ich habe bezüglich des Buchs gemischte Gefühle. Die Ungerechtigkeiten, die Steinke beschreibt, sind ja zweifellos real. Und an vielen Stellen kann man die auch angehen. Aber an anderen Stellen spart er in meinen Augen bewusst aus, dass die Realitäten existieren. Ist es ungerecht, dass Obdachlose schneller in U-Haft landen, weil auf Fluchtgefahr plädiert wird? Auf einer gewissen Ebene sicher, aber auf der anderen ist es halt auch sehr real. Natürlich wäre ich mit meinem Haus, Job und Familie viel weniger fluchtgefährdet als jemand, der nicht einmal einen festen Wohnsitz hat. Die Frage ist ja eher, ob der Ressourceneinsatz wirklich dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung entspricht.
Das finde ich auch den bemerkenswertesten Teil der ganzen Schilderungen. Mir drängte sich während der Lektüre der Eindruck auf, dass die Probleme des Justizsystems bemerkenswert denen des Bildungssystems gleichen: es hat beständig mehr Aufgaben bekommen, die eigentlich nicht seiner Auslegung und seine Wesen entsprechen, und geht diese Aufgaben mit seiner eigenen institutionellen Logik an, was dann zu eher mittelprächtigen Ergebnissen führt. Im Bildungskontext wären das die Übernahmen zahlreicher Aufgaben von der Betreuung zu anderen Bereichen, die eigentlich der Sozialen Arbeit und Psychotherapie zugehörig wären.
Ähnlich hier: was genau soll der Nutzen sein, Bettler*innen oder Drogensüchtige wegzusperren? Die werden dadurch nicht abgeschreckt, können sie gar nicht, weil ihre Situation eine Fortsetzung der Elendskriminalität erzwingt. Gleichzeitig schiebt die Gesellschaft (oder wie im Fall des Schwarzfahrens die Verkehrsbetriebe) aber durch Kriminalisierung das Problem auf den Justizsektor ab, der dadurch überlastet wird und auf immer weiter beschleunigte und "effizientere" Verfahren zurückgreift, die dann ihrerseits die Ärmsten benachteiligen und den Reicheren helfen, weil Anwält*innen die Schnellverfahren zur Strafvermeidung nutzen können, während Armen die Chance genommen wird, eine Verteidigung aufzubauen.
Das sorgt für eine massive Fehlallokation an Ressourcen. Eine Nacht im Gefängnis kostet rund 150€. Dafür könnte man mehrere Betten in einer Obdachlosenunterkunft problemlos finanzieren. Hunderttausende von Leuten, die im Gefängnis sitzen, bräuchten eigentlich eine Therapie, aber dafür ist das System ja nicht da. Therapien, Soziale Arbeit etc. könnten noch dazu wesentlich effektiver als der ohnehin nicht vorhandene "Abschreckungseffekt" Prävention betreiben. Das passiert viel zu wenig und kostet uns enorm.
Es ist nicht so, als ob Steinken dies entgehen würde, aber er konzentriert sich im Buch vor allem auf die deutlich abstraktere Gerechtigkeitsfrage. Zumindest meinem Empfinden nach wäre die Argumentation noch stärker, würde sie sich mehr auf die genannten Faktoren beziehen. Nichtsdestotrotz ist die Lektüre unbedingt empfehlenswert, weil er mit großer Sachkenntnis und Empathie und unter Verwendung zahlreicher Fallbeispiele die Gesetzeslage darlegt. Weniger empfehlenswert ist das Hörbuch; der Sprecher könnte durchaus eine verschreibungspflichtige Schlaftablette sein.
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