Teil 1 hier.

Sascha Lobo - Die große Vertrauenskrise. Ein Bewältigungskompass (Hörbuch)

Abschnitt 2, "Die komplizierte Gegenwart", versucht sich an Erklärungsansätzen, die die Vertrauenskrise weiter verstärken, und wendet sich konkreten Einzelphänomen zu.

In Kapitel 8, "Das Coronadebakel - Die tiefen Spuren der Pandemie", behandelt Lobo das einschneidendste Ereignis der letzten Jahre, die Corona-Pandemie. In einem Umfeld ständig wechselnder Informationen fand ein gewaltiger Vertrauensverlust in Staat und Medien statt, der zu einem Teil selbstverschuldet ist (die unten näher beschriebene katastrophale Krisenkommunikation des Staates und die offenkundigen Defizite in der Vorbereitung trotz Pandemieplan), zum Teil aber in einem Missverständnis über die Funktion von Wissenschaft begründet ist, die sich selbst in Echtzeit beobachtbar und höchst öffentlich korrigierte (von der Wirksamkeit von Masken und Impfungen bis hin zu Übertragungswegen).

Das Resultat war ein doppelter Vertrauensverlust; einerseits der viel diskutierte gegenüber Staat und Medien, aber andererseits auch eine Gegenreaktion, die Lobo als "Vernunftpanik" beschreibt: ein übertriebenes Gefühl seitens vieler Menschen, durch Kritiker*innen der Maßnahmen oder auch nur Menschen, die sie nicht zu 100% umsetzten, persönlich angegriffen zu werden. Bereits eine schief getragene Maske habe hier zu schweren Vorwürfen geführt. Diese Konflikte hätten Familien und Freundschaften zerrissen und zu einem gesamtgesellschaftlichen, kollektiv-gegenseitigen Vertrauensverlust geführt. "Vernunftpanik" beschreibt also Überreaktionen auf eigentlich grundsätzlich vernünftige Befürchtungen, ein Phänomen, das man auch gut der letzten Generation vorwerfen kann.

Die Pandemie war aber auch ein Musterbeispiel für katastrophale Krisenkommunikation. Jens Spahn als Gesundheitsminister verkündete etwa im Brustton der Überzeugung absolute Wahrheiten, die bereits zwei Tage später hinfällig waren (etwa, dass Masken keine Schutzwirkung besäßen). Zahlreiche widersprüchliche Informationen waren im Umlauf, weil Institutionen langsam oder zögerlich reagierten (die StIKo etwa verlor gerade unter zur Vernunftpanik neigenden Menschen massiv an Vertrauen). Dazu käme, dass Behörden furchtbar kommunizierten, mit dem traurigen Höhepunkt jener viel zitierten Regelungen in Hamburg, die in absurder Kleinteiligkeit völlig nutzlose, gleichzeitig aber strafbewehrte Vorschriften machten. Zudem wurden Versprechen über zukünftige Maßnahmen ("kein Lockdown") immer wieder gebrochen, was besonders Kritiker*innen abstieß, während der wissenschaftlicher Stand viel zu spät umgesetzt worden sei, was die zur Vernunftpanik neigenden entfremdete. Insgesamt zeigte sich, dass die staatliche Notfallplanung untauglich war - der Pandemieplan enthielt über 1500 Seiten, von denen aber nur drei oder vier der behördlichen Kommunikation gewidmet waren, ein Missverhältnis, das bittere Früchte trug.

Dieses Staatsversagen indessen hat System. In Kapitel 9, "Die Austeritäter - Wenn der Staat nicht mehr richtig funktioniert", führt Lobo das Misstrauen gegen die Problemlösungskompetenz des Staates auf die Dysfunktionalität vieler Systeme zurück - und diese auf jahrzehntelang verschleppte Investitionen in neue Infrastruktur (vor allem auf digitalem Feld) und in Reparaturen der bestehenden (etwa bei Autobahnbrücken u.Ä.). Weitere Beispiele finden sich leider im Überfluss, darunter der Klassiker der verrottenden Schulen.

Das Bildungssystem kann auch gleich für die zweite große Quelle des Vertrauensverlusts in staatliche Kapazitäten herhalten, die überbordende Bürokratisierung und mangelnde Digitialisierung. Man denke nur an den "Digitalpakt", der Mittel für die Digitalisierung der Schulen bereitstellte, von denen kaum 1% abgerufen wurde - weil die Vorgaben dermaßen überbürokratisiert waren, dass sie an den Schulen zu völliger Überforderung führten. Solche Überbürokratisierung ist leider ein Breitenphänomen. Dazu kommt die lange Dauer sämtlicher Prozesse in Deutschland, die nicht erst seit dem BER legendär ist, und die bereits im Zusammenhang mit Corona angesprochene Kommunikationskrise und Komplexität der Prozesse.

Leider ist die Umsetzung wissenschaftlicher Expertise auch deswegen so problematisch, weil, wie in Kapitel 10, "Die herausgeforderte Wissenschaft - Die Krise der Expertise", dargelegt wird, die Wissenschaft selbst auch in einer Vertrauenskrise steckt. Dies liegt einerseits an der "epistemologischen Krise", in der sich die Wissenschaft befindet, wenn ihre Erkenntnisse nicht zu direkter Umsetzung führen beziehungsweise ihre Umsetzung unklar ist oder sich mit bisherigen Ergebnissen beißt. Dies führt zu einem (unberechtigten) Generalmisstrauen. Mir fällt da als Beispiel direkt ein Kommentar in einer Diskussion über Ernährung ein, der aus den geänderten Erkenntnissen eine generelle Nutzlosigkeit irgendwelcher Erkenntnisse über Ernährung ableitete.

Ebenfalls wenig hilfreich für Wissenschaftsvertrauen sei die Reproduktionskrise. Darunter versteht man die mangelnde Reproduzierbarkeit zahlreicher Studien, vor allem (aber nicht nur) in den Sozialwissenschaften. Noch wenig erforscht, aber ursächlich möglicherweise zusammenhängend, seien die geringer gewordene Halbwertszeit von Wissen und der Decline-Effekt: je öfter und länger vom Herstellungspunkt entfernt eine Studie reproduziert werde, desto geringer der Effekt.

Zudem kommuniziere Wissenschaft oft schlecht. Gerade in Deutschland bestehe, anders als in angelsächsischen Ländern, eine Verständlichkeit verschmähende Kultur, die gleich mit mangelndem Anspruch gesetzt und deswegen gescheut werde. Deswegen tue sich die Wissenschaft oft schwer, Erkenntnisse oder Debatten zu vermitteln. Dies sieht Lobo auch als eine Ursache für das geringe Verständnis der Funktionsweise von Wissenschaft.

Ein ganz anderes Thema behandelt Kapitel 11, "Der Verrat an der Jugend - Die Generationenfrage". Lobo postuliert, dass die Politik von alten Menschen für alte Menschen gemacht werde, was man am Durchschnittsalter der Wählenden (über 50) und der Parteimitglieder (über 60) gut ablesen könne. Entsprechend macht er einen Verrat an der Jugend aus, für die die Eltern- und Großelterngeneration sich zwar mehr interessiere und sensibler sei als jede Generation zuvor, was aber gleichzeitig keinen Niederschlag in der Politik finde.

Die drei großen Punkte sind hier die Klimakrise, die von der Jugend als wichtiges Problem identifiziert sei, zu dem das Handeln der Politik aber in keinem Zusammenhang stünde, was zu Überreaktionen führe (siehe Letzte Generation). Offensichtlich ist die miese Digitialisierung, die dazu führe, dass der neue "Call of Duty"-Teil schneller heruntergeladen sei, wenn man nach Rumänien fliegt und es im dortigen Flughafen-WLAN zieht als im schrottigen deutschen Netz, bei dem man in vielen Regio-Zügen nicht einmal mobile Daten habe. Und zuletzt steht die Rente, die die junge Generation zwar bezahlen müsse, für deren eigenen Erhalt sie aber keinerlei Vertrauen habe.

Kapitel 12, "Maschinenvertrauen - Wie künstliche Intelligenz die große Vertrauenskrise beschleunigt und lindert", schließlich, befasst sich mit einem Zukunftsproblem: der KI. Nach einer kurzen Erklärung zu Sprachmodellen wie ChatGPT behandelt Lobo die Frage von Deep Fakes, die es zunehmend unmöglich machen, Fälschung und Original zu unterscheiden. Das erlaubt Videos, Bilder und Sprachschnitte sämtlicher Menschen, die nicht als Fälschung zu entlarven sind. Lobo sieht darin nicht einmal ein zentrales Problem für Medien und interessierte Menschen, weil hier grundsätzliche Plausibilitätsprüfungen greifen, sondern für die verschwörungsanfälligen Menschen in Telegramgruppen.

Doch selbst abseits von Deep Fakes, die sich Akteure wie die Republicans oder Putin zunutze machen könnten, bestehen durch die KI Probleme. Durch ihre Natur als selbstlernendes System ist sie für die Programmier*innen grundsätzlich nicht vollständig berechenbar, was es unmöglich macht, stets zu erkennen, wenn die KI selbst Unsinn erfindet. Lobo nennt dieses Phänomen "Konfabulieren", bei dem die KI eigene Quellen oder Fakten erfindet und sie im Brustton der Überzeugung ausgibt.

Gleichzeitig aber sei die Lösung für dieses Problem nur in der Kontrolle durch andere KI zu finden, quasi designierte Prüfungs-KI. Dafür braucht es natürlich ein entsprechendes Vertrauen in diese Systeme, das Lobo "Maschinenvertrauen" nennt. Dieses bestehe bereits heute, weil dem Algorithmus von TikTok, Wikipedia oder dem Google-Such-Algorithmus großes Vertrauen entgegengebracht werde. Zudem sie Vernetzung hilreich, was im nächsten Abschnitt noch einmal eine Rolle spielt.

Der letzte Abschnitt, Abschnitt 3, "Ein Bewältigungskompass", versucht sich an Lösungsskizzen für die Vertrauenskrise.

In Kapitel 13, "Aber was können wir tun? - Vorschläge für ein neues Gesellschaftsvertrauen", geht er auf kollektive Lösungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene ein. Am Beispiel der Entenjagd in Arkansas, die durch exzessive Schaffung von Wässerungsgründen zum Aussterben der Enten führte, zeigt Lobo, wie es richtig geht: die Behörde suchte den Kontakt zu den Jäger*innen und räumte deren Vorbehalte in persönlichen Gesprächen aus. Als dann die Maßnahmen ausgerollt wurden, war klar kommuniziert, dass diese Trial+Error waren - und Widerstand blieb fast aus. Für Lobo ist daher klar, dass der Aufbau von Vertrauen Transparenz benötigt.

Ein zweiter wichtiger Punkt ist für ihn das Vertrauen, das bekannten Einzelpersonen entgegengebracht wird - Influencern. Menschen, die man kennt - ob unter einem Pseudonym im Internet oder real unter Namen - und vertraut, vertraut man auch als Quelle eher. Diese Dynamik, die von Verschwörungstheorien ebenfalls ausgenutzt werde, ließe sich auch zur Vertrauensgewinnung nutzen, vor allem durch die bereits angesprochene Vernetzung.

Eine weitere Forderung besteht in der von Konsequenzen für Versagen der Politik, vor allem beim Einhalten von Vorgaben - etwa bis zum Stichtag X etwas umgesetzt zu haben, was üblicherweise keinerlei Konsequenzen hat - und bessere Regeln gegen Einflussnahme, vor allem Lobbyismus und Bereicherung, wobei ihm wieder die Maskendeals als aktuelles Beispiel dienen.

Im letzten Kapitel, Kapitel 14, "Aber was kann ich tun? - Wie wir selbst neues Vertrauen gewinnen können", spricht sich Lobo für den Aufbau von "Vertrauensnetzwerken" aus. Dies sei ohnehin bereits im Gange: Die Vernetzung über das Internet schaffe Strukturen, denen Menschen vertrauen. Es müsse der Politik, Wissenschaft und den Medien quasi gelingen, Teil dieser Strukturen zu werden.

Lobo fasst dies unter dem Begriff einer "neuen Vertrauenskultur" zusammen. Diese erfordere auch einen Optimismus, ein gewisses Grundvertrauen, das aber nicht mehr wie im "alten Vertrauen" Autoritäten entgegengebracht wird, einfach nur weil sie Autoritäten sind, sondern vielmehr den Vertrauensnetzwerken auf der einen Seite und, da bricht wieder seine digitalaffine Seite durch, Maschinenvertrauen auf der anderen Seite.

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Eines vorneweg: ich bin nicht ganz neutral. Ich zähle Sascha Lobo zum erweiterten Freundeskreis und finde grundsätzlich spannend, was er produziert. Das quasi nur als Transparenzhinweis. Das gilt natürlich auch für das vorliegende Werk. Ich halte das Thema für überaus wichtig und seine Gedanken, die in einer Rezension wie immer nur stark verkürzt wiedergegeben werden können, für diskussionswürdig, so dass ich das Buch zur Lektüre nur empfehlen kann, und wenn es nur ist, um sich daran zu reiben. Ich habe aber einige Punkte, bei denen ich Kritik üben oder doch zumindest widersprechen will.

Der erste Punkt betrifft den deutschen Fokus von Lobos Abhandlung. Die Vertrauenskrise existiert in der gesamten westlichen Welt, ob Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder in den USA, wird aber hier ausschließlich mit deutschem Fokus diskutiert (außer in einigen Fällen, wo es in die Argumentation passt). Eine deutsch verengte Perspektive auf ein umfassendes Problem liberaler Gesellschaften muss aber notwendig verkürzt sein, was in der geradezu komischen Auswahl der Telekomaktie oder der Kohl'schen Schwarzgeldaffäre als relevanten Ereignissen ihren Niederschlag findet.

Mit ist auch unklar, warum mangelnde Diversität in den Medien zwar bei Ostdeutschen zu einem Vertrauensverlust führt, bei Frauen als Gruppe aber nicht. Ich teile durchaus die Kritik an der mangelnden Diversität und halte es auch für ein für die Fragestellung relevantes Problem; allein, solcherlei Fragestellungen finden sich nicht. Diese mangelnde Gewichtung der Faktoren zieht sich als Manko durch das gesamte Buch. So sehe ich zum Beispiel genauso wie Lobo die Reproduktionskrise der Wissenschaft, nur - wie viele Menschen wissen, was das überhaupt ist? Manche dieser Faktoren sind wesentlich relevanter als andere, aber hier im Buch stehen sie ungewichtet nebeneinander und sind eher deskriptiv; die Tiefenanalyse fehlt.

So nennt Lobo zwar zahlreiche äußere Faktoren für die Vertrauenskrise, aber eine blinde Stelle des Buchs scheint mir die Natur der liberalen Gesellschaften selbst zu sein. Dies kommt zwar bei der Entbigottisierung der Konservativen vor, aber der Triumph des Individualismus als größerer Trend bleibt außen vor. Dabei erklärt der in meinen Augen einen guten Teil dessen, was während Corona passierte, oder auch die aggressiven Reaktionen auf Debatten wie das Böllerverbot. Wir sind als Gesellschaft insgesamt wesentlich liberaler und individualistischer als früher, was eine gute Nachricht für die Persönlichkeitsentfaltung, aber eine schlechte für das Vertrauen in Institutionen ist.

Kapitel 9 fiel mir spezifisch als eines auf, das einen starken "preaching to the choir"-Effekt aufweist: während progressiv eingestellte Menschen wie ich die Prämisse der Austeritäter (großartige Wortschöpfung) sofort teilen werden, werden eher FDP-liberal angehauchte Personen diese vermutlich ziemlich emphatisch ablehnen. Am schlimmsten fiel mir aber Kapitel 11 auf, das vor allem aus Projektion zu bestehen scheint: so sehr ich Lobos Einstellungen zur geradezu kriminellen Vernachlässigung der Klimakrise teile, so problematisch finde ich die Projektion dieser Einstellungen auf "die Jugend". Die Verallgemeinerung funktioniert nicht, und sowohl meine anekdotische Erfahrung aus der Schule als auch die Umfrage- und Wahlergebnisse dieser Demographie stützen diese Thesen schlicht nicht, egal wie verbreitet die These auch sein mag.

Ein letzter Kritikpunkt betrifft die Toxical Wokeness. Auch hier bin ich inhaltlich völlig bei Lobo; ich denke nur, dass das Phänomen des Shitstorm in Sozialen Medien überbewertet wird. Zwar kann theoretisch jede*r Opfer eines Shitstorm werden; üblicherweise aber erfordert das eine große Reichweite, die nur ein Bruchteil der Nutzer*innen aufweist. Dass für Influencer*innen wie Lobo Shitstorms geradezu zur täglichen Erfahrung gehören, ist mir klar; das ist aber nichts, was sich so leicht verallgemeinern lässt - auch hier entgegen der verbreiteten Narrative.

Das alles ist aber tough love und Meckern auf hohem Niveau. Ich kann das Buch schon allein wegen der Gedankenanregung vollstens empfehlen und werde sicherlich immer wieder Bezug darauf nehmen.

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