Shmuel N. Eisenstadt - Die Vielfalt der Moderne
Der Begriff der Moderne ist ein unglaublich normativ aufgeladener. Um die Jahrhundertwende das erste Mal benutzt, kennzeichnete er Entwicklungsprozesse des 19. Jahrhunderts in einer stark eurozentrischen Perspektive. Die Zeitgenossen, allen voran Karl Marx und Max Weber, gingen davon aus, dass es einen bestimmten Weg in die Moderne gebe, der nur temporal versetzt wahrgenommen werde. Er zieht sich über die Industrialisierung hin über die Nationalstaatsbildung zu einer gesellschaftlichen Modernisierung. Diese These ist mittlerweile überholt. Bereits zu Webers Lebzeiten fiel Sombart auf, dass die USA nicht über eine sozialistische Bewegung verfügten, wie sie für Europa so typisch war. Über das 20. Jahrhundert zeigte sich, dass weder der Prozess der Nationalstaatsbildung noch die Modernisierung in anderen Teilen der Welt dem europäischen oder amerikanischen Vorbild folgen mochte. Stattdessen gibt es eine Vielfalt von Modernisierungen, die Komparativ untersucht werden müssen. Um die Jahrtausendwende unternahm Shmuel Eisenstadt in einer viel beachteten Vorlesungen, die er später in das vorliegende Buch umwandelte, Genau diesen Versuch.
Der erste Abschnitt beginnt mit Eisenstadts Verfolgung der ideengeschichtlichen Grundlagen der Moderne bis zurück ins Mittelalter - Und darüber hinaus. Den Anfangspunkt sieht er bei den sogenannten Achsenkulturen, einem Konzept, das 1949 von Karl Jaspers formuliert wurde. Demzufolge hätten zwischen 800 und 200 v. Chr. weltweit vier voneinander unabhängige Kulturräume gleichzeitig zentrale philosophische und technische Fortschritte gemacht. Diese in China, Indien, dem Orient und dem antiken Griechenland entworfenen Ideen prägten den Großteil der Menschheit bis heute. Natürlich machte er Veränderungen durch. Genau diese Veränderungen sieht Eisenstadt als die Grundlage der Modernisierung: es entstünden Spannungen, die zu Konflikten führen und deren Auflösung gewissermaßen Fortschritt definiere.
Unsere Modernisierung, die ihren Ursprung im 18. Jahrhundert besitzt, lebe vor allem von mehreren zentralen Widersprüchen: totalisierende und pluralisierende Konzeptionen, Reflexion und aktive Gestaltung von Natur und Gesellschaft, unterschiedliche Bewertungen von Gefühl und Vernunft, der Widerspruch von Kontrolle und Autonomie und der von Disziplin und Freiheit.
Die Modernisierung trägt damit inhärent auch immer die Idee einer Entfremdung von der Natur in sich, deren aktive Gestaltung, ermöglicht durch die Herrschaft der Vernunft, Diese Bedingungen quasi selbst erschafft. Diese Spannungen bringen Moralvorstellungen empor, zwischen deren Polen sich zahlreiche Konflikte entwickeln. Den Kern dieser Spannungen sieht Eisenstadt im Pluralismus. Die modernste Ideologie überhaupt bezeichnete er als Jakobinismus, den totalitären Versuch der kompletten Umgestaltung einer Gesellschaft. Pluralistische Ideen dagegen habe es schon immer gegeben, wenngleich sie natürlich in dieser Periode deutlichen Auftrieb erlebten.
Das sich so ergebende Programm der Moderne brachte Widerstand und Protest hervor. Das war neu: politische Partizipation durch Protest war noch im Mittelalter undenkbar gewesen; die Peripherie war dem Zentrum stets untergeordnet. Jetzt wurden politische Kämpfe über die Abgrenzungen von Kollektiven, die Legitimationsgrundlage des Staates und die Abgrenzung zwischen privater und öffentlicher Sphäre geführt. Dadurch wurden zahlreiche Konflikte politisiert und überhaupt erst als solche denkbar, ein radikaler Bruch mit der bisherigen Menschheitsgeschichte.
Diese Protestbewegungen unterscheidet Eisenstadt in mehrere Gruppen: solche, die auf das Zentrum orientiert sind und eine komplette Umgestaltung der Gesellschaft anstreben, solche wie etwa religiöse Gruppen, die nur einige Aspekte verändern wollen und zuletzt solche wie die Anarchisten, die das System als solches ablehnen. Die Bedeutung dieser verschiedenen Typen schwankt dabei von Ort zu Ort und Zeit zu Zeit. Sie stellen aber einen zentralen Bestandteil der Dynamik und des Diskurses der Moderne dar, auch wenn sie miteinander meist in Konflikt standen.
Die europäische Moderne hat für Eisenstadt einige spezifische Charakteristika. Die christliche Prägung des Kontinents sorgte für eine Spannung zwischen Hierarchie und Gleichheit komme der Zugang verschiedener Gruppen und Schichten zu religiöser und politischer Ordnung und der Anspruch der Kirche, dazwischen zu vermitteln. Die beständigen Proteste und Reaktionen darauf so rückten zudem zu einer beständigen Umformung von Zentren und Kollektiven. Kein Zentrum erreichte dabei jemals die Dominanz, stattdessen formten sich komplexe Hierarchien heraus. Die resultierenden Kämpfe um Dominanz im Zentrum waren hoch ideologisch.
Daraus erwuchs ab dem 16. Jahrhundert die dominante Organisationsform des Staates, der neue Typen von kollektiven und kollektive Identität mit sich brachte. Die Wichtigste war wohl die Bindung der Identität ans Territorium, was große Verpflichtungen gegenüber dem Zentrum mit sich brachte. Der Zugang zu eben diesem Zentrum wurde zu einem zentralen Konflikt der Politik. Daneben bedeutend war die Herausbildung der Marktwirtschaft mit ihrer Betonung des Privateigentums, die ihrerseits dem Entstehen der Zivilgesellschaft den Weg bereitete. Diese erlaubte die Herausbildung verschiedener Formen der Moderne in Europa, die nebeneinander her existierten. Die Verwerfungen durch die Marktkräfte taten ihr Übriges.
Eisenstadt warnt allerdings davor, die europäische Moderne als eine Art Blaupause zu begreifen, der Rest der Welt zu folgen habe, wie dies in der Forschung langem (auch von ihm selbst) angenommen worden war. Stattdessen war Europa einfach nur der erste Ort, der in die Moderne eintrat. Mit zwei großen Studien möchte Eisenstadt sich davon unterscheidende Formen der Moderne untersuchen: die USA und Japan.
Im zweiten Abschnitt untersucht Eisenstadt die amerikanische Herangehensweise an die Moderne. Gleich zu Beginn machte Eisenstadt deutlich, dass die Pluralität der Moderne in Europa eine Entsprechung in den Amerikas besitzt: Kanadas Entwicklung etwa unterscheidet sich signifikant von der der USA, die wiederum wenig mit der Lateinamerikas gemein hat.
Die USA wurden durch eine revolutionäre, ideologische und moralische Revolution gegründet. Protest war in ihrer Genese angelegt und wurde zu einem dauernden Bestandteil der politischen Szene. Er unterschied sich allerdings vom europäischen Protest in seiner geringen Radikalität, die sich beispielhaft am Fehlen einer sozialistischen Bewegung in den USA erkennen lässt. In den USA fehlen zudem nationale oder nationalistische Bewegungen. Keiner nationalen Gruppe oder Ethnizität gelang es jemals, die politische Bühne der USA zu besetzen. Sämtliche Bewegungen stellten niemals die Prämissen des Zentrums und der kollektiven Identität infrage, in deutlichem Gegensatz zu Europa. Eisenstadt macht zudem eine ideologische Tendenz zur Reinigung des Zentrums von durch die jeweilige Protestbewegung wahrgenommenen Abweichungen von seiner wahren Natur aus. Diese sahen sich jeweils als Träger einer unverfälschten amerikanischen Vision, weswegen ihr Protest hochmoralisch und messianisch aufgeladen war.
Strukturelle Gründe dafür sieht Eisenstadt unter anderem im Fehlen einer feudalen Aristokratie und der Existenz der Frontier. Ebenfalls von zentraler Bedeutung ist die große Einwanderung, die die demographische Zusammensetzung der USA permanent änderte und damit die Bündnisse und Austragungsarten der Konflikte beständig veränderte.
Die erwähnten Prämissen des Zentrums, die von diesen Bewegungen niemals infrage gestellt wurden, waren etwa die Konstruktion der USA als eine komplett neue Nation: sie stellte sich nicht in eine lange geschichtliche Tradition, sondern war eine Neuschöpfung, losgelöst von territorialen Strukturen - was gleichwohl nicht verhinderte, dass man sich als gelobtes Land in einer sehr christlich-messianischen Ausrichtung verstand. Die so resultierende kollektive Identität bestand aus der Bundesidee der Puritaner, den Prämissen des Naturrechts und des Common Law, der englischen Aufklärung und dem Commonwealth-Gedanken. Daraus entstand die spezifische amerikanische Zivilreligion mit einem Gründungsmythos von individueller Erfüllung und allgemeiner Gleichheit. Dass dieser niemals vollständige Realität war, passt zu den Reinigungsbestrebungen der verschiedenen Protestbewegungen.
Die Betonung des Individuums erlaubte diesem eine Teilnahme am politischen Prozess, die weitgehend von anderen kollektiven losgelöst waren. Daraus entstand auf der einen Seite eine rauer und vulgäre Umgangston (zumindest aus Sicht europäischer Beobachter) und zum anderen eine große Distanz zum Staat, die sich im klassischen Misstrauen der Amerikaner diesem gegenüber Bahn brach.
Die Zivilreligion wurde zusätzlich mit einem Sendungsbewusstsein aufgeladen, das zu der Vorstellung führte, man sei ein Vorbild oder Leuchtturm für den Rest der Welt. Die eigene Struktur war stark religiös geprägt, vor allem von der protestantischen Idee eines Bundes, und spiegelte sich in der Ausgestaltung der amerikanischen Institutionen. Überhaupt betont Eisenstadt die Rolle der Religion für das amerikanische Selbstverständnis. Das zentrale Paradox hierbei ist die Trennung von Staat und Kirche in den USA, der keinesfalls eine Trennung von Politik und Religion entspricht. Stattdessen gehört Religion elementar zum American Way of Life.
Eine weitere Besonderheit des amerikanischen Systems ist die Rolle der Judikative. Das Rechtssystem steht für Eisenstadt in der Mitte der politischen Arena. Er folgt darin Hegel, der die Behauptung aufstellte, dass die USA eigentlich gar keinen Staat hätten, sondern nur eine bürgerliche Gesellschaft. Dementsprechend ist es auch wenig überraschend, dass das Justizsystem eine zentrale Rolle bei der Austragung politischer Konflikte spielt. Das große Misstrauen gegenüber jeglicher staatlicher Autorität und die Betonung des Individuums führen zu einer ständigen Spannung zwischen pragmatischer Politik einerseits und eine moralische Überhöhung derselben andererseits, die in einer großen Scheinheiligkeit resultieren. Huntington spricht hier von einer Disharmonieverheißung. Diese Spannung zwischen Idealismus und Pragmatismus findet ihren für Nicht-Amerikaner*innen deutlichsten Ausdruck auf dem Feld der Außenpolitik, wo Kriege eigentlich nur als gerechte Kriege vorstellbar sind, dir einen bösen Feind für das eigene Gute erfordern, aber gleichzeitig eine lange Tradition der harschen Kritik der eigenen Regierung und von Kriegen als unamerikanisch mit sich bringen.
Anders als in vielen Ländern Europas, die der mittelalterlichen Idee anhängen, dass das Recht gewissermaßen göttlich gesetzt und von den Menschen nur entdeckt sei, war für die Amerikaner von Anfang an klar, dass es eine menschliche Schöpfung und als solches im politischen Prozess veränderlich ist. Verfassungsdiskussionen gehören deswegen seit jeher zentral zum amerikanischen politischen Prozess.
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