Tim Marshall - Prisoners of Geography. Ten Maps That Explain You Everything About Global Politics (Hörbuch)

Als Annalena Baerbock 2021 das Amt der Außenministerin antrat, versprach sie einen Wandel der deutschen Außenpolitik hin zu einer "wertebasierten Außenpolitik". Inhärent ist darin eine Ablehnung der sogenannten realistischen Außenpolitik, die ohne jede Werte in staatlichen Sicherheitsinteressen denkt. Eine Ausprägung dieser Denkart ist die Vorstellung von "Geographie als Schicksal", also dass die geographische Lage eines Landes dessen Politik und Geschichte sowie Potenziale maßgeblich bestimme. Tim Marshall ist ein Anhänger dieser These und hat ein Buch vorgelegt, in dem er anhand von zehn Karten die Weltpolitik erklären möchte. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass dieser hehre Anspruch nicht nur nicht eingelöst, sondern in einer Flut von Klischees und Banalitäten ersäuft wird.

In seinem Vorwort stellt Marshall einige Prämissen auf. Demzufolge erkläre sich die Geopolitik zu weiten Teilen mit einem Blick auf die Karte. Dies macht er in zehn Kapiteln deutlich: Russland, China, die USA, Westeuropa, Afrika, der Mittlere Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika und die Arktis werden nacheinander analysiert. Das Wort von der "Analyse" leistet in diesem Satz allerdings eine ganze Menge Arbeit, denn was Marshall überwiegend tut ist, vom Status Quo auszugehen und diesen einerseits oberflächlich zu beschreiben und ihn andererseits ebenso oberflächlich zu erklären - mal mit geografischen Merkmalen, mal ohne. Letztlich sucht er sich vor allem Argumente zusammen, die die Schlussfolgerung - heute ist, wie es heute ist - zu stützen. Dabei kann nur wenig Sinnvolles herauskommen.

So etwa stellt er für Russland fest, dass das Land im Osten so riesig und unwegsam ist, dass von dort kaum militärische Gefahr droht. Das dürfte eine Neuigkeit für die tausenden von Toten des Ussuri-Kriegs zwischen der UdSSR und VR China 1969 sein, aber die wahre Gefahr für Russland sieht Marshall in der Immigration Millionen von Chinesen in den Osten des Landes, wodurch die Volksrepublik langfristig die Region dominieren werde (was diese dystopische Migrationsvorstellung mit Geografie zu tun hat, bleibt allerdings unklar). Als strategische Grundkonstante nennt Marshall aber die offenen Flächen in Russlands Westen, die sich zu Polen hin auf eine Art Keil zusammenzögen. Dieser sei eine ständige Bedrohung, vor allem durch Deutschland, weswegen Deutschland und Russland auch ein ständig angespanntes Verhältnis hätten. Diese Dynamik mag für die Zeit 1871 bis 1945 einigermaßen funktioniert haben, aber sie scheint mir doch eine grobe Übersimplifizierung.

Der Präsentismus Marshalls wird nirgends so deutlich wie bei seiner Betrachtung der Krim. Das Buch ist 2016 erschienen, und die Krimbesetzung war frisch im Gedächtnis der Leute. Marshall schreibt viel darüber, wie wichtig ein Warmwasserhafen für Russland sei und warum es Interesse an den Dardanellen hat, was tatsächlich in beiden Fällen endlich einmal eine geografische Konstante ist, die sich auch über Jahrhunderte nachweisen lässt (wenngleich die Annahme, dass die Existenz eines "Russland" so etwas wie eine Konstante ist, bereits sehr fragwürdig ist). Aber Marshall fällt dann in die Falle, der diese Denkschule häufig verfällt, indem er mit zynischer Kaltschnäuigkeit erklärt, dass die illegale Krimbesetzung einfach der natürliche Gang der Dinge und einzig denkenswertes Ergebnis sei. Die Geografie diktiert es! Das ist aber kompletter Humbug. Niemand hält Russland davon ab, friedliche Kooperation zu suchen, ganz sicher nicht die Geografie. Ansonsten könnte die EU nicht existieren, die - natürlich - auch natürliches Produkt der Geografie ist. Aber dazu später mehr.

Wir kommen als nächstes zu China. Marshall postuliert einen 4000 Jahre dauernden, mittlerweile abgeschlossenen, "natürlichen" Prozess der Staatsbildung. China sei in den heutigen Grenzen quasi Endpunkt einer vier Jahrtausende dauernden Entwicklung. Mir fiele angesichts einer solch platten Teleologie ja der Löffel aus der Hand, aber Marshall ist offensichtlich mutiger als ich. Seit dem Einzug moderner Technik sei das Land nicht mehr von Reitern aus der mongolischen Steppe bedroht, weswegen aus dem Norden keine Gefahr drohe (erneut, ich wäre mir als Stratege da nicht so sicher). Im Westen sieht er vor allem Rohstoffinteressen, weswegen das Land - erneut die zynische Kaltschnäuzigkeit! - auch natürlich die Uighuren blutig unterdrücken müsse. Nach Süden bleibe China gar nichts anderes übrig, als Tibet zu unterdrücken, weil die Geografie diktiert, dass die Region entweder von China oder Indien dominiert wird (wenn aber Indien es dominiert, ist es dann noch eine natürliche Grenze? Fragen über Fragen!).

Nach Süden hin seien die einzigen wirklich "offenen" Grenzen zu Vietnam und Kambodscha, weswegen China diese Länder auch seit Jahrhunderten dominiere. Die Vietnamesen dürften davon überrascht sein, denn das Land bewahrt sich seine Unabhängigkeit in oft genug blutigen Kriegen, genauso wie Korea, bereits seit ebenso langer Zeit wie China mit seiner oh so natürlichen Einigung verbringt. Einen Großteil des restlichen Kapitels verbringt Marshall mit der Betrachtung der maritimen Situation: die Chinesen seien keine natürlichen Seefahrer (Geografie, klar) und hätte im 16. und 15. Jahrhundert nur Handelsschifffahrt betrieben. So weit, so wahr. Seine Analysen sind hier auch am interessantesten, weil er die aktuellen geopolitischen Machtspiele zwischen China und den USA um künstliche Inseln, Märkte in Afrika und den Aufbau einer Flotte genauer analysiert und auch entsprechenden Sachverstand einbringt (ich stimme Marshall etwa völlig zu, wenn er erklärt, dass China zwar vielleicht 2050 eine Flotte hat, die von der Größe her die US Navy herausfordern kann, aber nicht vom doktrinären und taktischen Level her).

An dieser Stelle ist verständlich, dass Marshall zu den USA springt. Ich musste laut loslachen, als er erklärt, dass wer auch immer den nordamerikanischen Kontinent vereinigt, praktisch unangreifbar und mächtig ist. Ja, no shit, Sherlock. Wenn es jemals jemandem gelungen wäre, ganz Europa wirtschaftlich, kulturell und politisch zu einigen, wäre das auch ein Machtblock ohne jeden Rivalen. Allein, dass das gelungen ist, ergibt sich ja nicht natürlich aus der Geografie, auch wenn Marshall das insinuiert. Die restlichen Betrachtungen bestehen dann weitgehend aus Allgemeinplätzen über Amerikas wirtschaftliche Macht und seine Machtprojektion in alle Welt durch vorgeschobene Basen und die NATO, als ob irgendetwas davon Folge der Lage der Rocky Mountains wäre.

Ähnlich sieht es bei Westeuropa aus. Die gemäßigten Temperaturen, die kein Malaria kennen, mögen ja noch als Erklärung herhalten, warum sich hier positive Entwicklungen abgespielt haben. Aber auch hier greift Marshall zu teleologischen Erklärungsansätzen: weil die Industrielle Revolution in Europa stattfand, muss sie zwingend in Europa stattgefunden haben. Die den Kontinent durchziehenden Flüsse sind nachvollziehbarerweise hilfreich, da anders als in Afrika (siehe nächstes Kapitel) überwiegend schiffbar. Aber die Fragmentierung des Kontinents und die jahrhundertelange relative Unterentwicklung sind ihm kaum eine Silbe wert, und die Selbstzerstörung in zwei Weltkriegen spielt auch kaum eine Rolle in seinem Narrativ. Es läuft weitgehend darauf hinaus, dass Europa heute wirtschaftlich erfolgreich ist, weswegen das irgendwie in der Geografie angelegt sein muss (mit sehr vielen "Obwohl"-Satzkonstruktionen, nebenbei bemerkt).

Die fröhliche Vermischung kultureller und geografischer Gegebenheiten feiert fröhliche Urständ, wo es um Afrika geht. Dass die Sahara nicht eben die Entwicklung von Handelsrouten begünstigt, leuchtet ebenso ein wie mangelnde Schiffbarkeit der Flüsse oder die Krankheiten in tropischen Breiten. Aber wenn Marshall dann erklärt, dass jahrtausendelang keinerlei Entwicklung in Afrika stattgefunden habe und es keinerlei Einigungsprozesse gab, nur um dann in einem Halbsatz "sieht man einmal von einigen Imperien in Zentralafrika zwischen 1000 und 1800 ab" hinzuwerfen, dann fällt schon auf, dass hier ernste Probleme herrschen. Den Kolonialismus behandelt er als Quelle der afrikanischen Rückständigkeit praktisch überhaupt nicht. Stattdessen werden Klischees von Stammesstreitigkeiten wiedergekäut, weil die afrikanischen Stämme halt nicht zusammen können. Auch hier - reden wir von Geografie oder von kulturellen Stereotypen?

Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit dem Mittleren Osten. Die willkürliche Grenzziehung von Sykes-Pikot spielt die verdiente Hauptrolle, wenngleich auch hier gerne darauf verwiesen wird, wie unnatürlich es sei, dass die Leute zusammen in einem Gebiet wohnten. Generell befasst sich das ganze Kapitel nur wenig mit Geografie - sieht man vom unvermeidlichen Fokus auf Erdöl ab - und viel mehr mit dem Schisma zwischen Shia und Sunni, das zwar unbestreitbar wichtig, aber ebenso unbestreitbar nicht von Geografie beeinflusst ist. Die Schilderungen der Rivalitäten in der Region, vor allem mit Israel, aber auch etwa zwischen Saudi-Arabien und Iran, sind alle nicht falsch. Aber geografisch bedingt sind sie eben auch nicht. Nur für Israel spielt die Geografie tatsächlich die Hauptrolle, vor allem wegen der strategischen Bedeutung der Westbank und der schieren Größe des Landes, die ihm die strategische Tiefe nimmt und es ständig einem existenziellen Risiko aussetzt.

Ein ähnliches Problem plagt auch das folgende Kapitel über Indien und Pakistan. Immer wieder betont Marshall, wie unmöglich ein gutes Verhältnis zwischen Pakistan und Indien sei, als ob der Verlauf des Indus darüber bestimmen würde (mal abgesehen davon, wie problematisch diese Idee von "Stammes- und Religionskulturen erzwingen ständigen Konflikt" ist). Die Beschreibungen der pakistanischen Sicherheitssituation dagegen sind sehr wohl geografisch bedingt; sowohl wenn es um die Grenzen nach Norden (Hindukusch) als auch Westen (Berge zum Iran) geht oder um die Bedeutung eines Süßwasserhafens etwa für die russische und chinesische Außenpolitik. Auch die Bedeutung des Punjab wird herausgestrichen, weil Pakistan von einer Landgrenze zu China massiv profitieren würde.

Der teleogolische Blick Marshalls wird aber bei Indien erneut deutlich. Zurecht verweist er darauf, dass das Land einerseits aus zahlreichen unterschiedlichen Volksgruppen zusammengesetzt ist und dass der Subkontinent auch schon immer dergestalt zersplittert war, aber als Erklärung dafür, warum diese weitgehend friedlich zusammenleben, findet er hauptsächlich zu der tautologischen Feststellung, dass Indien anders als etwa der Irak eine moderne Demokratie ist, die friedlich zusammenlebt. Weder erklärt das irgendetwas (es beschreibt nur den Status Quo), nocht hat es etwas mit Geografie zu tun. Interessanter sind da vielmehr die strategische Bedeutung des Himalaya-Plateaus als Grund für ständige Konflikte mit China (ebenso die Kontrolle des Indischen Ozeans) oder die Einengung Bangladeshs zwischen Myanmar (dass Marshall als "Burma" bezeichnet, was angesichts seines neokolonialen Weltbilds kaum überraschend ist) und Indien für dessen Sicherheitslage.

Das nächste Kapitel befasst sich mit Südamerika. Hier argumentiert Marshall am meisten mit geografischen Gegebenheiten. Seine erste große These ist, dass der Kontinent allein dadurch einen gewaltigen Nachteil hat, dass er von allen anderen Kontinenten extrem weit entfernt ist und damit als Handelspartner uninteressanter als viele andere. Der nächste Punkt ist der Vorteil Panamas in seiner Dünne - diese erlaubte die größte geografische Umgestaltung der Menschheit, den Panamakanal. Den aktuellen Versuch Chinas, einen eigenen Kanal durch Nicaragua zu graben, erörtert Marshall ausführlich unter seiner geopolitischen Bedeutung, besonders im Hinblick auf eine globale maritime Präsenz chinesischer Großkampfschiffe.

Im eigentlichen südamerikanischen Kontinent sind einerseits die Anden bestimmend, die den Kontinent quasi durchschneiden und Handelswege erschweren, andererseits aber die Dschungel des Landesinneren (die dafür sorgen, dass etwa Brasilien immer noch große Probleme hat, seine Städte zu verbinden) und zuletzt das Hochplateau, das den meisten südamerikanischen Ländern am Atlantik keine Küstengebiete und wenig Häfen gibt, weil sofort die Steilküste aufsteigt (ein Fakt das, nebenbei bemerkt, schon Magellan plagte). Kurz gesagt: Südamerika hat zahlreiche Nachteile durch seine Geografie, die es unwahrscheinlich machen, dass der Kontinent seine Potenziale in der nächsten Zeit voll entfalten kann.

Das letzte Kapitel befasst sich mit der Arktis. Hier spielt die Geografie ebenfalls eine entscheidende Rolle, vor allem wegen des menschengemachten Klimawandels, der die die Geografie der Region schwerwiegend verändert. Die Arktis wird immer stärker schiffbar, was etwa Russland zahlreiche Trümpfe in die Hand gibt, und das sich zurückziehende Eis erleichtert den Zugang zu Rohstoffen deutlich - mit all den Konflikten, die damit einhergehen (Russland etwa fördert Migration nach Spitzbergen, wo bereits 40% der Bevölkerung russisch sind, um norwegische Ansprüche anzugreifen) und natürlich den Umwelt- und Klimaschäden.

Insgesamt bin ich von dem Buch sehr frustriert. Zwar enthält es einige sehr spannende strategische Analysen und Überlegungen, aber insgesamt verliert es sich viel zu sehr in Klischees, teleologischen Kurzschlüssen und oberflächlichen Beschreibungen. Das ist teilweise kaum vermeidbar, weil die Vorstellung, in einem nicht übermäßig dicken Buch die Welt zu erklären einerseits und der Anspruch, das vor allem mit Karten tun zu wollen andererseits kaum einlösbar sind. Der scheinbar abgeklärt-realistische, vor allem aber arrogante Blick Marshalls leistet dazu noch sein Übriges. Wer sich trotzdem die Lektüre geben will, sollte das Hörbuch nehmen - der Sprecher hat ein dermaßen blasiertes Oxford-Englisch, dass der Kolonialbeamtenton Marshalls voll zur Geltung kommt. Ob das vom Verlag beabsichtigt war, kann ich allerdings nicht sagen.

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