Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Die "Fundstücke" werden mit einem Abschnitt des Textes, der paraphrasiert wurde, angeteasert. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels empfohlen; ich übernehme keine Garantie für die Richtigkeit oder Vollständigkeit der Zusammenfassungen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten. Dazu gibt es die "Resterampe", in der ich nur kurz auf etwas verweise, das ich zwar bemerkenswert fand, aber zu dem ich keinen größeren Kommentar abgeben kann oder will. Auch diese ist geordnet (mit Buchstaben), so dass man sie gegebenenfalls in den Kommentaren referieren kann. Alle Beiträge sind üblicherweise in der Reihenfolge aufgenommen, in der ich auf sie aufmerksam wurde.
Fundstücke
1) Ramelow fordert Nichtangriffspakt mit Russland
Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, fordert mittelfristig eine europäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands. Er schlägt vor, dass alle europäischen Staaten einen Nichtangriffspakt schließen und eine Verteidigungsgemeinschaft bilden sollten, um Konflikte auf dem Kontinent zu lösen. Dabei räumt er ein, dass dies derzeit nicht möglich sei, da Russland unter der Führung von Wladimir Putin eine Diktatur sei. Dennoch müsse man das Land im Blick behalten und diejenigen Kräfte in Russland stärken, die Veränderungen wollen. Ramelow betont die Notwendigkeit, Europa als Ganzes zu denken, was auch Russland einschließen sollte. Gleichzeitig warnt er vor den Risiken schwelender Konflikte in Ländern wie Moldau und Georgien, die Putin jederzeit eskalieren könnte. Auch weist er auf die Bedrohung hin, die von einem möglichen Antrag in der russischen Duma zur Aufhebung der Souveränität Litauens ausgehen könnte. Diese Aussagen kommen im Kontext der Landtagswahl in Thüringen am 1. September, bei der Themen wie der Ukraine-Krieg und die europäische Sicherheit eine wichtige Rolle spielen. In Umfragen liegt die AfD vor den anderen Parteien, wobei sie Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt und auf Verhandlungen mit Russland drängt. (Welt)
Als die Nachricht zuerst aufploppte, ging sie kurz in meiner Timeline viral; die übliche Russland-Falken-Crowd nahm das zum Anlass, mit Maximalrhetorik auf Ramelow draufzuhauen (so sehr ich inhaltlich bei den Leuten bin, aber ihre Rhetorik ist so scharf und kompromisslos dass sie mich inzwischen abstoßen). Ich halte das in dem Fall für eingeschränkt relevant, weil die Überschrift etwas irreführend ist: Ramelow hat im Endeffekt nur wiederholt, was seit 1990 die Standardposition linker Außenpolitik ist. Das ändert nichts daran, dass die Position völlig realitätsfern und idiotisch ist; nur ist es eben nicht so, als wäre hier eine Wagenknecht'sche Kapitulationsforderung aufgestellt worden. Ramelow wiederholt nur das ewig sinnlose Mantra von einer Zwei-Staaten-Lösung - Entschuldigung, Freud'scher - von einer europäischen Sicherheitsarchitektur unter Einbindung Russlands. Es ist die uralte Idee, die USA aus Europa hinauszudrängen und stattdessen ein friedliches Händchenhalten mit Moskau zu setzen, weil alles, was Putin von ewigem Frieden abhält, bekanntlich die bösen Amerikaner sind. So viel Raum für differenzierte Kritik sollte in der Debatte noch sein: die Unterscheidung zwischen den Putinfreunden und den Träumern.
2) England, der Mob und die, die ihn verstehen
Die aktuellen Krawalle in England, Wales und Nordirland haben sich aus rassistischer Hetze entwickelt, die durch falsche Informationen über einen tödlichen Angriff in Southport angeheizt wurde. Ein 17-Jähriger tötete dort drei Mädchen, woraufhin Gerüchte verbreitet wurden, er sei ein muslimischer Asylbewerber. Obwohl sich diese Behauptungen als falsch herausstellten, führte die Desinformation zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Migranten und Moscheen in mehreren Städten. Diese Aktionen wurden von rechtsextremen Akteuren angeheizt und von einem Teil der Bevölkerung unterstützt, die sich in ihrer Fremdenfeindlichkeit bestätigt fühlte. Die Angriffe werden von einigen Medien als "Proteste" bezeichnet, aber sie tragen die Merkmale eines rassistischen Pogroms. Diese Gewaltakte, bei denen Menschen aufgrund ihrer Ethnie oder Religion verfolgt wurden, erinnern an frühere Fälle von kollektiver rassistischer Gewalt und sind Ausdruck einer tief verwurzelten Fremdenfeindlichkeit. Die Beteiligten wissen um den rassistischen Charakter ihrer Handlungen, auch wenn sie dies nicht offen eingestehen. Das Verschweigen oder Herunterspielen dieser Gewalt trägt zur Normalisierung solcher Taten bei und ist selbst eine Form der Komplizenschaft. (Robert Rotifer, FM4)
Stefan Lüdke bläst im Spiegel in dasselbe Horn und nennt die Ausschreitungen "Englands Lichtenhagen-Moment", eine sicher treffende Metapher. Es zeigt sich auch in Großbritannien, dass eine ständige Verschärfung der Rhetorik wenn nicht zwangsläufig zu Gewalt führt sie diese zumindest wahrscheinlicher macht. Der Lichtenhagen-Vergleich ist durchaus auch deswegen passend, weil beide Parteien, Tories wie Labour, scharfe Anti-Einwanderungsrhetorik fahren. Ich möchte an der Stelle übrigens betonen, dass das nicht bedeutet, nicht Kritik üben zu dürfen oder nicht für Einwanderungsbeschränkungen sein zu dürfen; überhaupt nicht. Es geht um den Tonfall. Politiker*innen haben, auch wenn man das angesichts ihrer Beliebtheitswerte manchmal nicht glauben möchte, eine Vorbildfunktion. Die Sprache die sie benutzen, die Handlungsoptionen, die sie einfordern, eröffnen oder beschränken Möglichkeitsräume. Dasselbe gilt auch für die Presse, die gerade in Großbritannien ein ungemein großes hetzerisches Potenzial hat (das etwa in Deutschland bei weitem nicht existiert, die BILD ist gegenüber der britischen Yellow Press ja harmlos).
3) An der Kinderlosigkeit sind nicht die Frauen schuld, Mister Vance!
Der Artikel thematisiert den weltweiten Rückgang der Geburtenraten und beleuchtet die Ursachen und möglichen Konsequenzen dieses Trends. Während die Geburtenrate in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern deutlich unter der Ersetzungsrate von 2,1 Kindern pro Frau liegt, gibt es weltweit nur wenige Ausnahmen wie Israel, wo die Geburtenrate noch relativ hoch ist. Der Artikel diskutiert, dass staatliche Maßnahmen, wie finanzielle Unterstützung und Elternzeit, oft nicht ausreichen, um diesen Trend umzukehren. Der demografische Rückgang wird teilweise durch den sozialen und ökonomischen Wandel erklärt, insbesondere durch die wachsende Unabhängigkeit der Frauen, die ihre Familiengründung aufgrund von Karriere und Ausbildung immer weiter hinauszögern. Ein weiterer Grund für die sinkenden Geburtenraten könnte laut dem Artikel ein Verlust an Zukunftsglauben und Sinnhaftigkeit im Leben sein, der durch den Rückgang religiöser Überzeugungen und allgemeiner Unsicherheiten verstärkt wird. Der Artikel argumentiert, dass materielle Anreize allein nicht ausreichen, um den demografischen Trend zu stoppen, wenn es an einem tief verwurzelten Glauben an die Zukunft mangelt. Israel wird als Beispiel genannt, wo trotz existenzieller Bedrohungen ein starkes Gemeinschaftsgefühl und Zukunftsglaube herrschen, was zu einer höheren Geburtenrate führt. (Christine Brink, Welt)
Ich bin kein Israelexperte, aber liegen die hohen Geburtenraten da nicht vor allem an der Verzerrung des Durchschnitts durch die Ultraorthodoxen? Niemals würde man in der Welt argumentieren, dass Frankreich einen höheren Zukunftsglauben hat als wir, sondern auf die demografische Besonderheit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund verweisen, die wesentlich höhere Geburtenraten aufweist. Dasselbe sehen wir ja auch in den USA, wo die höhere Geburtenrate weitgehend auf das Konto der Latino-Bevölkerung geht. Ob höhere Einwanderung kulturell konservativer Gruppen eine Lösung für die demografische Frage ist, darf bezweifelt werden. Dasselbe gilt für die Erhöhung des Anteils religiöser Fundamentalisten. Ich würde auch den Rückgang religiöser Überzeugungen in Deutschland weniger als Ursache denn als Symptom werten: der Wertewandel allgemein drückt die Geburtenrate. Das ist ein universelles Phänomen, das uns in allen Ländern und allen Bevölkerungsgruppen begegnet. Wenn der Wohlstand steigt und, vor allem, die Frauen emanzipiert und selbstbestimmt werden, sinkt die Geburtenrate ab. Dass finanzielle Anreize das nicht fundamental ändern ist in meinen Augen keine Frage, ich denke aber, Brink übersieht hier, dass sie die Geburtenrate zwar nicht signifikant steigern, wohl aber ihr Absinken abflachen können.
4) Diese Koalition ist am Ende
Der Artikel kritisiert die derzeitige Ampel-Koalition in Deutschland für ihre Inkompetenz bei der Haushaltsplanung für das Jahr 2025. Besonders im Fokus stehen Kanzler Olaf Scholz, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner. Trotz wochenlanger Verhandlungen konnten sie keinen soliden Haushaltsentwurf vorlegen, und als Folge mussten geplante Finanzierungsmaßnahmen aufgrund von Verfassungsbedenken zurückgenommen werden, was ein Finanzierungsloch von fünf Milliarden Euro hinterließ. Der Artikel zeigt auf, dass die Koalitionspartner zunehmend persönlich und unsachlich miteinander umgehen, was das zerrüttete Verhältnis innerhalb der Regierung deutlich macht. Die Grünen und die SPD beharren reflexartig auf Forderungen, die wenig zur Problemlösung beitragen, während Lindner seinerseits provoziert, indem er Kürzungen im Sozialbereich fordert, obwohl er weiß, dass diese Forderungen mit den Koalitionspartnern nicht durchsetzbar sind. Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die Ampel-Koalition am Ende ist, unabhängig davon, ob es ihr gelingt, die finanziellen Lücken zu schließen. Der andauernde Streit und die Unfähigkeit, zusammenzuarbeiten, zeigen, dass die Koalition gescheitert ist. (Christian Reiermann, Spiegel)
Mir scheint die Analyse, dass die Ampel am Ende ist, so ziemlich das größte "duh" zu sein, das dieser Tage vorstellbar ist. No shit, Sherlock. Das ist nun aber auch schon länger so. Es ist auch müßig, sich über die Schuldfrage dafür zu streiten. Keiner der Partner ist offenkundig derjenige, der am meisten beigetragen hat; der Rest ist politische Gesäßgeografie. Sehe ich die Hauptschuld bei der FDP? Duh. Sieht Stefan sie bei den Grünen? Duh. Ist das eine relevante Diskussion? Nope. Die Koalition hatte eine Chance, und sie hat sie nicht genutzt. Ihr Ende ist folgerichtig. Falls Grüne oder FDP in der nächsten Bundesregierung vertreten sein werden (halte ich Stand heute für unwahrscheinlich), so werden wir ein wenig Empirie bekommen. Aber auch das wird uns nicht viel sagen. Aber dass mittlerweile praktisch nur noch Wahlkampf betrieben wird (wie ineffektiv auch immer), dürfte auch den letzten Beobachtenden aufgefallen sein. Immerhin einen Lichtblick aber gibt es: die Ampel ist wohl die dysfunktionalste Regierung, die wir zumindest in den letzten Jahrzehnten hatten, und sie ist immer noch wesentlich besser funktionierend als die vieler anderer westlicher Länder. Das deutsche System bleibt beruhigend stabil, auch wenn das nicht selbstverständlich so bleiben muss, und bei allen Differenzen bleiben sowohl FDP als auch Grüne loyale Parteien, die - im Rahmen ihrer Weltsicht und Vorstellungen - das beste für das Land wollen und nicht aktiv an seiner Zerstörung arbeiten. Auch das ist leider keine Selbstverständlichkeit dieser Tage.
Siehe auch diese Spiegel-Reportage.
Der Artikel beleuchtet das Erbe des Watergate-Skandals und dessen politische Reformen, die nach 50 Jahren weitgehend gescheitert scheinen. Die nach Watergate eingeführten Reformen zur Transparenz und Bekämpfung von Korruption wurden entweder abgeschafft, ignoriert oder sind degeneriert. Die Offenheit von Kongressausschüssen hat sich in ineffektives Theaterspiel verwandelt, und Wahlkampffinanzierungsgesetze wurden durch geheime Großspenden untergraben. Der Artikel betont, dass die USA zu den alten, undurchsichtigen Normen der Vor-Watergate-Zeit zurückgekehrt sind, was durch die Entwicklungen unter Donald Trump verdeutlicht wurde. Die während Watergate gestiegenen moralischen Standards in der Politik haben sich in den letzten Jahrzehnten gelockert, und die ursprünglich beabsichtigten Reformen scheinen heute nur noch ein kurzlebiges Experiment gewesen zu sein. Nixon, so wird argumentiert, hätte unter den heutigen Bedingungen möglicherweise sein Amt behalten können. (David Frum, The Atlantic)
David Frum hat völlig Recht mit seiner Analyse, und der Vergleich zwischen Nixons Rücktritt und den heutigen Zuständen ist instruktiv. Allerdings scheint mir seine Schlussfolgerung bezüglich der Bewertung Nixons reichlich fehlgeleitet: es gibt keine Notwendigkeit, sich bei Nixon zu entschuldigen. Vielmehr sollten viel mehr Leute in Sack und Asche dafür gehen, Trump und die völlige Zerstörung aller Normen so willfährig begleitet und ermöglicht zu haben. Aber genau das passiert nicht. Es kann also kaum darum gehen, festzustellen, dass Nixon Unrecht getan wurde. Viel mehr tun wir uns selbst Unrecht an, wenn wir diese Normen nicht mehr verteidigen.
Überhaupt, die Normen. Frums Argumentation ist eines der besten Beispiele für die Bedeutung von Normen im politischen Raum. Sie bestimmen unser Zusammenleben. Der Versuch, alles auf Papier in Gesetzesform zu gießen, kann nicht reichen, das arbeitet Frum schön heraus (wenngleich er das gar nicht explizit tut; es drängt sich für mich nur auf). Wenn die Akteure keine Demokrat*innen sind, sind alle Gesetze irrelevant. Noch so feine gesetzliche Bestimmungen helfen nicht, wenn die Rechtsradikalen der GOP sie ignorieren oder mit in Entscheidungsstellen manvöriertem Personal in den Gerichten zerstören. Umgekehrt halten demokratische Normen, wo sie existieren - siehe Fundstück 4 - das Gemeinwesen am Leben.
Zuletzt ist der Nixon-Rücktritt aber auch aus historischer Perspektive für mich immer wieder faszinierend. Er erinnert mich an das Ende der Sowjetunion durch Gorbatschow: es war letztlich ein politischer Selbstmord. Nixon wie Gorbatschow hätten mit geschickterem Vorgehen und mehr Entschlossenheit zu Kollateralschäden an der Macht bleiben können. Wir alle können von Glück sagen, dass sie es nicht hatten. Aber alle Nachfolgenden haben ihre Schlüsse daraus gezogen, die dafür sorgen werden, dass sich das Ereignis nicht wiederholen wird. Es ist kein Zufall, dass kein Diktator seither Reformen wie Gorbatschow einleitete, und kein Zufall, dass es in den USA keine weiteren Rücktritte und keine erfolgreichen Impeachments gab.
Resterampe
a) Guter Artikel zur russischen Ukraine-Ideologie.
b) Spare a thought for poor Donald Trump, prisoner of abortion politics.
c) Schule verbietet bauchfreie Kleidung – Ministerium warnt vor zu starken Einschränkungen. Das ist so unendlich daneben, und die Begründungen machen es nicht besser.
d) „Hitze in Schulen wird in der Gesellschaft nicht als Problem wahrgenommen“. Korrekt. Rechtsfreier Raum Klassenzimmer, ich sag's immer wieder.
e) A Field Guide to the Flags of the Far Right.
f) Die Kontinuitäten in der chinesischen Menschenrechtsfrage sind auch spannend.
g) Kamala Harris is preferred to Trump 49% to 44%. Teile die Einschätzungen wenig überraschend vollumfänglich.
h) Zum Ehegattensplitting Kommentar in der Welt.
i) Meron Mendel gegen Josef Schuster: Zwei jüdische Welten prallen aufeinander.
j) UNTERRICHT: Mit dem Growth Mindset ins neue Schuljahr.
k) Traumforscher erklärt: Warum auch Erwachsene so oft von der Schule träumen.
l) Islamismus: Zahl der islamistischen Gefährder in Deutschland sinkt weiter.
m) Trump is running scared on abortion.
n) Schülerinnen hatten sich beschwert: Schulleiterin hebt Bauchfrei-Verbot wieder auf. Gut so. Diese Scharia-Light-Dinger sind auch einfach unerträglich.
o) Trump Media almost has revenue of $1 million. lol
p) Dieser Artikel in der Welt zum Genderverbot der CDU ist einer, den ich nur unterschreiben kann. Meine Rede.
Fertiggestellt am 12.08.2024
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