Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) So wird Robert Habeck Bundeskanzler

Würde man den Grünen diesen Wechsel verzeihen? Nun, die Wähler*innen der Grünen sollten diesen Wechsel nicht nur verzeihen, sondern herbeisehnen. Baerbock verhindert mit ihrer gescheiterten Kandidatur den Erfolg der Grünen und damit mehr Klimaschutz, mehr Tierschutz, mehr Umweltschutz. Das ist die Lage und nur die Grünen können sie ändern. Genauer: Nur Baerbock kann das ändern. Dafür braucht es Größe und Verzicht. Es geht um die historisch einmalige Chance für die Grünen auf das Kanzleramt und Baerbock steht im Weg. Ist das alles gerecht? Weiß ich nicht. Ungerecht ist es jedenfalls nicht. Eine Garantie für den Erfolg ist Habeck auch nicht, aber der Ticket-Wechsel ist die einzige Chance. Zeitlicher Ablauf: Dieser Wahlkampf kann noch enormes Momentum für die Grünen entfachen. Das Thema Klimawandel/Umwelt wird stark und entscheidend. Wann wäre dann der beste Zeitpunkt? Der Fokus in den nächsten zwei Wochen wird sich auf Laschet als Frontrunner richten und er wird dabei nicht gut aussehen. Weder politisch noch sonst irgendwie. Weil er das gar nicht kann. Da sollte man nicht stören. Ein Rückzug Baerbocks zur Mitte der ersten Augustwoche wäre die zweite große Disruption für die Grünen und würde massive mediale Aufmerksamkeit auf Habeck lenken. Alle Karten würden neu gemischt. Für die Plakate der dritten Welle ist das noch ausreichend und ein Kanzlerkandidatinnen-Plakat für Baerbock gibt es bis dato sowieso noch nicht. Alles käme außerdem rechtzeitig zu Beginn der wichtigen Briefwahl. (Frank Stauss)

Was für ein Humbug. Mir ist wirklich unklar, wie professionelle Beobachtende des Politikbetriebs auf solchen Quark kommen. Das ist der Plot für eine Folge "The West Wing", es ist keine reale Option. Kanzlerkandidat*innen zwei Monate vor dem Wahltermin auszuwechseln, weil man einer anderen Person größere Chancen einräumt - so etwas passiert nicht. Und das nicht, weil diese Person im Vakuum nicht vielleicht sogar bessere Chancen hätte. Aber einerseits ist die Wahlkampfplanung (hoffentlich) auf die Spitzenperson ausgerichtet (wenngleich das weder bei SPD noch Grünen der Fall zu sein scheint, warum auch immer). Das könnte ein kompetens Wahlkampfteam (das die Grünen offensichtlich nicht haben) vielleicht noch managen.

Aber noch viel schwerwiegender sind andere Gründe. Erstens ist der Zug, egal wie man es verkauft, ein Zug der Schwäche, der klar kommuniziert, dass man sich selbst nicht traut. Es ist eine Bankrotterklärung. So etwas muss jeden marginalen Effekt, der vom Personalwechsel kommt, kaputt machen. Zweitens wirkt es wie Betrug: wochenland wurde Baerbock hart durchleuchtet, ihre Sünden sind bekannt. Sie jetzt wegen dieser Sünden gegen jemand auszuwechseln, der zeitlich nicht mehr wirklich geprüft werden kann, ist absurd. Drittens sind innerhalb der Parteiführung die Leute auf Baerbock geeicht. Die Entscheidungsstellen sind von Leuten besetzt, die ihr zuarbeiten, die für sie arbeiten (zumindest wenn die Grünen nicht vollkommen bescheuert sind). Ein Ersatzkandidat stünde da vor dem Nichts. Er kann man bei Martin Schulz anfragen, wie gut es sich da wahlkämpft.

2) On Luxury

Display of wealth is, by all these authors, and probably thousands more, criticized for two separate reasons: a social one, viz. that it provokes resentment and envy among those who cannot afford it, and a moral one, that it leads to personal decadence. The two critiques are different: the first is an instrumental critique: it is not a critique of the activity as such but of its social implications. It critiques a symptom of an economic system that allows for such behaviour, but does not deal with the appropriateness or justice of the system itself. The second critique is concerned with the effects of wealth on people themselves who enjoy it, and perhaps secondarily on a society where the upper class becomes increasingly decadent, and separate from the rest. Both are, in some ways, superficial critiques. They are critiques of consumption, but they do not go deeper, into the origin of wealth, that is into the production process. [...] Finally, should consumption taxes on extra luxury goods be increased? That seems to me a very attractive option. The pattern of consumption of the very rich is quite well known. If private jets used by Epstein, or enormous brownstone purchased by him in New York, were taxed at exorbitant rates, even Jerry Epstein or similar billionaires would at some point be able to purchase fewer of them. The approach is consistent with differentiation of retail taxes (VAT tax rates) according to the type commodity: food is often not taxed at all, hotel or restaurant consumption is taxed high. Cars, for example, at the time when they were considered much more of a luxury item than today, used to be taxed quite heavily. Exorbitant taxes on luxury items will not bring much money to the Treasury. But their objective is not that they should—their objective is either to soak as much resources from the super wealthy as possible or to make them refrain from such consumption. That, I think, they can achieve. (Branko Milanović, Brave New Europe)

Die moralischen Argumente sind mir völlig egal. Mein Problem bei der Geldverschwendung der Superreichen ist nicht die Gefährdung ihres Seelenheils. Auch Missgunst, Ärger und Feindseligkeit (alles mögliche und wenig präzise Übersetzungen des wunderbaren Wortes "resentment"), die die 99% für die Reichen empfinden könnten, wenn diese ostentativ ihr Geld verschwenden, sind mir egal. Erstens sehe ich den kausalen Zusammenhang nicht - die ostentative Verschwendung von Reichtum hat selten zu resentment geführt, sondern eher zu Status und Verehrung (siehe gerade die perversen Weltraumflüge von Bezos und Konsorten), und wenn, dann wäre es das einzig Positive, das aus diesen Ausgaben kommt.

Nein, das Problem ist die ökonomische Auswirkung des Luxuskonsums. Er ist unproduktiv, in der Regel schädlich für das Ökosystem und das Klima und dient letztlich nur der Kapitalvernichtung. Nein, da der Wohlstand der Superreichen reduziert werden muss - aus ökonomischen Gründen, nicht aus Gründen der Moral - machen hohe Luxussteuern Sinn. Da bin ich voll bei Milanovic.

3) „Aldi will mit Tierschutz werben“ (Interview mit Achim Spiller)

taz: Herr Spiller, Aldi hat angekündigt, ab 2030 Frischfleisch nur noch zu verkaufen, wenn die Tiere Zugang zum Außenklima oder Auslauf haben. Auch Lidl, Kaufland und Rewe wollen in wenigen Jahren Frischfleisch auslisten, das nur nach dem gesetzlichen Mindeststandard erzeugt wurde, also etwa in sehr engen Ställen. Warum machen die das?

Achim Spiller: Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass Tierschutz bei den VerbraucherInnen ganz oben auf der Wunschliste steht. Sie haben sehr große Bedenken gegenüber der heutigen Tierhaltung. Da ist es für ein Handelsunternehmen naheliegend, dass man sich darüber positionieren will. Und in der Gesellschaft hat sich auch einiges entwickelt in den vergangenen Jahren. Als wir 2015 im wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium empfahlen, allen Tieren zum Beispiel Kontakt nach draußen zu gewähren, wären wir fast „zerfleischt“ worden. Das ist jetzt anders. Die Vorschläge der Kommission unter Leitung des ehemaligen Agrarministers Jochen Borchert für mehr Tierwohl vor gut einem Jahr haben das gepusht, so dass im Handel die Erkenntnis gereift ist: Man muss das Sortiment deutlich verändern. Aldi will sich mit Tierschutz profilieren und Ruhe in diese wichtige Warengruppe bringen.

Brauchen wir jetzt noch staatliche Maßnahmen für mehr Tierwohl?

Das lässt sich noch nicht abschätzen. Nachdem Aldi Eier aus Käfighaltung ausgelistet hatte, zogen die anderen Händler nach und dann auch der Gesetzgeber. Deshalb könnte man davon ausgehen, dass der Markt das Problem allein löst. [...]

Werden die VerbraucherInnen am Ende mehr bezahlen fürs Fleisch?

Am Schluss müssen die Verbraucher den Tierschutz bezahlen. Die Landwirtschaft kann das nicht. [...] (Jost Maurin, taz)

Wie ich auch in Fundstück 7 näher ausführen werde ist die Marktwirtschaft ein hervorragendes Instrument, um Änderungen mit sich zu bringen. Diese Änderungen müssen erzwungen werden. Aldi wird nicht aus Sorge ums Tierwohl seine Produktpalette ändern. Unternehmen kümmern sich, um Guten wie im Schlechten, nur um Profit. Aldi stellt seine Produktpalette um, weil sich die Sensibilitäten der Verbraucher*innen geändert haben oder weil Regulierungen es erzwingen. Letzteres war bei der Verbannung von Eiern aus Käfighaltung der Fall, ersteres hier beim Fleisch.

Nur, ohne darüber zu reden, ohne Aktivist*innen, ohne den Appell an die Moral der Verbraucher*innen wird sich eine Einstellung dazu nicht ändern, weswegen es sich hier um Kernbestandteile dieser Reformversuche handelt. Menschen, die kein Problem damit haben, Tierfleisch aus Massenproduktion zu essen, werden sich immer von solchen Umstimmungsversuchen gestört fühlen. Aber wie man sehen kann, können sie erfolgreich sein. Diese kleinen Schritte sind es, wo das Wechselspiel von Aktivist*innen einerseits und Marktwirtschaft andererseits die besten Erfolge erzielen kann.

4) The Supreme Court’s Total War on Congress

What these critics have missed is the conservative justices’ incessant drive to radically enhance the court’s power—power in opposition to Congresses past, present, and future; as well as against the federal executive branch and state and local governments. This historic trend, steadily gaining momentum over the 16-year span of John Roberts’s tenure as chief justice, escalated sharply in several end-of-term decisions. In these, the court’s dominant bloc—which President Ronald Reagan’s solicitor general, Charles Fried, labeled “reactionaries,” not conservatives—asserted for this court power on a level and scale unprecedented in the nation’s history: power de jure as well as de facto. [...] In doing so, the court gutted a half-century-old consumer law and denied Congress authority to act on an indisputably reasonable judgment: that a consumer suffers serious “injury” from a proverbial sword of Damocles dangling over her head, in the form of severely damaging misinformation in a credit reporting agency’s accessible files. For such an injury, Congress determined that judicial redress is an efficacious, “necessary and proper” remedy. In dissent, Justice Clarence Thomas decried the “remarkable novelty” of the court’s approach. “Never before,” the usually right-leaning Thomas wrote, “has this Court held that legal injury is inherently insufficient to support standing … enforceable in federal court.” Justice Elena Kagan underscored the majority’s overreach: “The Court here transforms standing law from a doctrine of judicial modesty into a tool of judicial aggrandizement.” The decision dulls incentives for business to respect myriad laws enacted by Congress, and does much the same for state legislatures, where remedying and deterring widespread and well-documented abuses against consumers, homeowners, employees, and other individuals is concerned. [...] But at least equally noteworthy is the sheer audacity of the conservative justices’ readiness to ignore, twist, and flat-out contravene unambiguous instructions that multiple bipartisan congressional majorities painstakingly inscribed in the text of this historic statute. [...] The message here is clear enough: It does not matter what Congress prescribes in legislation, if we, the life-tenured majority on this, the nation’s highest court, disapprove of Congress’s handiwork. If we cannot come up with a credible Constitution-based excuse for striking those provisions down, we will simply turn to the power justified two centuries ago by Chief Justice John Marshall as this court’s responsibility to “say what the law is.” We will use that raw power to ignore or rewrite unwanted statutory provisions, to render them ineffectual, or to produce results directly opposite to what they mean. This is a level of contempt for the decisions of elected officials unmatched even by the notorious anti-regulatory constitutional jurisprudence of the so-called “Lochner court” of the first third of the twentieth century. And it claims an anti-democratic judicial supremacy wholly incompatible with the Framers’ constitutional design for the judiciary as what Alexander Hamilton famously labeled “the least dangerous branch.” The power grab is on, and the danger is very real. (Simon Lazarus, The New Republic)

Ich empfehle den ganzen Artikel wegen der vielen Quellenbelege und Beispielurteile für diejenigen, die sich tiefer in die Materie vergraben wollen. Ich möchte hier vor allem auf den Aspekt eingehen, den wir letzthin in Bezug auf den Konflikt zwischen BVerfG und EUGh hatten: Das Verfassungsgericht ist kein neutraler Arbitrator innerhalb des politischen Systems, sondern eine Institution, die ihre eigenen Interessen verfolgt. Und das vordergründigste Interesse jeder Institution, völlig egal welcher, ist die Ausweitung der eigenen Macht.

Dieses Ziel führt in den USA deswegen zu einer zerstörerischen Schleife, weil die Republicans im Kongress, allen voran Mitch McConnell, die Macht ihrer eigenen Institution zerstören wollen, was ziemlich selten ist. Es macht aus ihrer Perspektive Sinn. Sie richten sich in einer Minderheitenherrschaft ein, und Minderheiten regieren nicht konstruktiv, sondern destruktiv. McConnell kastriert den Kongress, weil er für dessen Vetomacht keine Mehrheit benötigt und er seinem Gegner die Mehrheit vorenthalten will, und er stärkt die Gerichte, weil diese einerseits strukturkonservativ und andererseits parteiisch von seinen Leuten dominiert sind. Es ist ein powerplay, das er perfekt beherrscht und das für ihn gigantisch gut funktioniert hat, auf Kosten der Demokratie. Man sollte daher vorsichtig sein, in den Gerichten immer Hüterinnen der Demokratie zu sehen. Wie alles können sie sie auch zerstören. Die Dosis macht das Gift.

5) Kristi Noem criticizes GOP governors who enacted Covid-19 mandates while accusing some of rewriting their history

"Demand honesty from your leaders and make sure that every one of them is willing to make the tough decisions," added Noem, who repeatedly touted her hands-off approach to Covid-19 throughout her speech at the Conservative Political Action Conference -- highlighting the fact that she never ordered a "single business" to close. "South Dakota did not do any of those (measures). We didn't mandate. We trusted our people and it told them that personal responsibility was the best answer." Trump's false election claims persist at conservative gathering in Texas. Even when cases surged in her state last November, Noem refused to mandate masks and chose not to put in the precautionary measures that many other governors were taking to slow the spread of Covid-19. She insisted that her state had been most effective by swiftly identifying and isolating cases. As of this weekend, South Dakota had 230 deaths per 100,000 people, according to data from Johns Hopkins University -- ranking the state 10th in that metric among the 50 states. The state had 14,090 cases per 100,000 people, ranking South Dakota with the third highest rate in the nation. But in an October op-ed in the Rapid City Journal, Noem rejected "mandatory masking" by noting that some had questioned the effectiveness of masks, calling on each family to make "informed decisions for themselves." "As I've said before, if folks want to wear a mask, they should be free to do so," she wrote in that piece. "Similarly, those who don't want to wear a mask shouldn't be shamed into wearing one. And government should not mandate it." (Maeve Reston, CNN)

Dieser Vulgär-Libertarismus ist eine der tödlichsten Ideen im ganzen Land. Wie ich in Fundstück 9 auch noch einmal aufgreife ist das Niveau dieser Debatte unerträglich niedrig. Es sind Lügen auf der einen Seite, was glücklicherweise ein Phänomen ist, das in Deutschland keine große Rolle spielt. Anders als in den USA und dem UK haben wir in den Regierungsparteien keine Covid- oder Klimwandelleugner*innen.

Es sind aber auf der anderen Seite auch die von mir in Fundstück 9 tiefer kritisierten Narrative, die offensichtlich kompletter Bullshit sind und die gewaltigen Schaden anrichten; ein Besoffensein an der eigenen Mythologie, das völlig blind oder zumindest unfähig zum Richtungswechsel macht.

6) Sharper strategic thinking will help Germany mend fences with US

But Nord Stream 2 is economically unnecessary and has been politically toxic for Germany’s relations with its eastern neighbors, never mind the U.S. Congress. It distracts from the larger strategic issues that the U.S. and Europe must urgently tackle together. In a military conflict, what Europe adds to U.S. might is respectable, but not essential: forward bases, specialized capabilities and the legitimacy provided by democratic allies. But in the long, hybrid struggle that looms with a China seeking to reshape the global order and a Russia ever alert for opportunities to assert itself, Europe’s commercial, technological and regulatory strengths are indispensable to the U.S. And Germany is Europe’s economic and political center of gravity, a fact not lost on the Biden administration — or on Russia and China. [...] Of Merkel’s three would-be successors, only the Greens’ Annalena Baerbock appears to have fully grasped what the downturn in Europe’s geopolitical climate requires of Germany. Yet her lack of experience has reduced her chances of winning. The two others — the Christian Democrat Armin Laschet and the Social Democrat Olaf Scholz — have suggested that the pipeline could be turned off if Putin bullies Ukraine. But both are far more focused on fighting straw men of their own invention, such as the notion that the U.S. is trying to force Europe to “decouple” from China. In reality, it is China that is decoupling from the West. Trump’s raging hostility forced Germany to examine the unhealthy aspects of its dependency on America. Biden, in contrast, treats Germany as a peer nation. It almost seems as though that is too much for Germans to handle. (Constanze Stelzenmüller, Brookings)

Scharfe Deliberationen über Außenpolitik sind nicht unbedingt Deutschlands Stärke. Hierzulande gilt es als außenpolitische Debatte, wenn man wie die SPD eine Grundsatzdiskussion über bewaffnete Drohnen fordert, als ob da noch irgendwelche Erkenntnisse zu erwarten wären. Ich verstehe auch ehrlich nicht, was dieser ganze Unfug mit Nordstream 2 soll. Wer dachte, das sei eine gute Idee? Deutschland hat sich da mit sicherem Blick zwischen seine Partner einerseits und Russland andererseits navigiert, ohne gute Optionen und mit der Sicherheit, alle Seiten zu verärgern, egal, wie es sich bewegt. Ganz große Außenpolitik.

7) Schwere Zeiten

Aber es sind nicht nur die Versuchungen des bequemen und ungesunden Lebensstils, die diese Gesundheitsrevolution ausbremsen. All diese Neuerungen haben auch Gegner: die Arbeitgeberverbände etwa, die Autoindustrie, Supermarktketten. "Das gesamte Ess- und Lebensumfeld in Europa schädigt unsere Gesundheit", sagt Francesco Branca von der WHO. Europa sei weit von einer wirklichen Gesundheitspolitik entfernt. [...] Bislang sind kalorienreiche Nahrungsmittel ein lukratives Geschäft. Die häufigsten Dickmacher sind hochverarbeitete Lebensmittel, im Fachjargon ultraprocessed food. Dazu gehören Fertiggerichte, aber auch Mortadellascheiben oder Avocado-Wraps. Genau diese Produkte sind es, an denen Händler besonders viel verdienen. Ein verkaufter Apfel bringt nur geringen Profit, Apfelmus schon etwas mehr – der Apfelstrudel ist schließlich das gewinnträchtigste Produkt. [...] In einem publik gewordenen E-Mail-Austausch zwischen Angestellten von Coca-Cola und dem amerikanischen Industrielobbyverband International Life Sciences Institute (Ilsi) ist nachzulesen, wie diese gemeinsam überlegen, die WHO dazu zu bringen, nicht mehr den Zuckerkonsum für Adipositas verantwortlich zu machen, sondern den Lebensstil einzelner Menschen. (Annika Joerges, ZEIT)

Der Quell des Übergewichts ist unser eigener Wohlstand. Die Marktwirtschaft hat vollbracht, was durch 99% der Menschheitsgeschichte unmöglich schien: Nicht nur gehört Hunger der Vergangenheit an, sondern auch fades Essen. Wer von gekochten Kartoffeln oder Weizengrütze lebt, hat selbst bei genügend Nahrungsmitteln wenig Anreiz, sich zu überfressen. Aber unsere Hirne sind für den Überfluss, den uns die Marktwirtschaft beschert hat, für ihre wohlschmeckenden Versuchungen an jeder Ecke, nicht gemacht.

Wir überfressen uns in unterschiedlichem Ausmaß fast alle. Dazu kommen unsere Lebensstile, die ebenfalls nicht unbedingt dem Metabolismus von Jägern und Sammlern entsprechen. Es gibt aus diesem Dilemma nur einen Ausweg: die Nahrungsmittelindustrie muss ein Angebot haben, das uns nicht krank macht, sondern gesund hält. Nur dummerweise verdient sie daran nicht. Auch das ist Marktwirtschaft.

Aber das ist ein Problem, das sich beseitigen lässt. Ändert man die Parameter, indem man Einfluss auf die Preise nimmt, oder schlicht auf das, was verkauft werden darf - wir haben auch erfolgreich die Alcopops aus den Regalen herausreguliert - dann ändert sich auch das Angebot. Das Ermutigende ist, dass dies teilweise aus einem gesteigerten Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung geschieht; die letzten Jahre haben hier sehr ermutigende Signale gesetzt. Denn die Marktwirtschaft reagiert SEHR sensibel auf geänderte Nachfrage. Und da muss man ansetzen. Mehr Aufklärung einerseits, vernünftige Regulierung (oder ihre Aufhebung) andererseits.

8) „Mit Helikoptergeld hätten wir weniger Probleme“

Martin ist dabei der Überzeugung, dass die jüngsten Preissteigerungen nicht dauerhaft sind. „Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir in ein oder anderthalb Jahren wieder bei einer Inflationsrate von rund einem Prozent sind. „Schauen Sie sich die Erwartungen an den Finanzmärkten an. Sie haben sich kaum bewegt.“ [...] „Wenn es den digitalen Euro geben würde, die Bürger also direkt Konten bei der Zentralbank hätten, wäre das einfach: Wird das Geld nicht ausgegeben, verfällt es, beispielsweise nach einem Jahr.“ [...] Der Reiz dabei ist die Feinsteuerung. Die Überweisung könne sofort gestoppt werden, sobald das Inflationsziel erreicht ist. Diese Methode wäre vergleichsweise billig: Laut den französischen Wirtschaftsweisen braucht man nur 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Euroraum, um für ein Prozent höhere Inflation zu sorgen. Zum Vergleich: Die Bilanz der EZB hat aufgrund der Staatsschuldenkäufe heute rund 60 Prozent des BIP in der Eurozone erreicht. Daher sei Helikoptergeld die weniger risikoreiche Antwort auf die nächste Krise, ist der Ökonom überzeugt, der in seiner Karriere auch mal bei der Federal Reserve von New York gearbeitet hat. [...] Als Beispiel zitiert Martin Italien. „Seit zwei Jahrzehnten hat Italien fast jedes Jahr ein Primärsaldo erzielt“, das ist das Haushaltssaldo ohne Zinszahlungen. „Kein anderes Land in Europa hat solche haushaltspolitischen Anstrengungen unternommen, schon gar nicht etwa Frankreich.“ Die Schuldenregeln hätten Italien sehr geschadet, das Land habe öffentliche Investitionen gedeckelt und etwa in Schulen und bei der Infrastruktur gespart, doch es habe keine wirklichen Strukturreformen in der Verwaltung, auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Bildung vorgenommen. Für solche Reformen brauche man auch einen gewissen haushaltspolitischen Spielraum. Das große Problem Italiens sei nicht die Höhe der Staatsausgaben, sondern sein schwaches Wirtschaftswachstum; diesem komme man nicht durch einen staatlichen Sparkurs bei. „Es handelt sich hier um einen schweren strategischen Irrtum, sowohl von Europa als auch von Italien.“ (FAZ)

Ich bin kein großer Fan der Niedrigzinspolitik der EZB; sie schlägt nur das, was an Forderungen aus Deutschland kommt um Längen. Die EZB-Politik erfüllt zwar ihre Ziele, aber in meinen Augen zu unnötig hohen Kosten. Stattdessen sollte man über zwar unorthodoxe, aber wesentlich erfolgversprechendere Maßnahmen, wie sie Martin hier vorschlägt, nachdenken. Anstatt das Geld über komplexeste Mechanismen direkt in die finanzielle Elite zu pumpen, sollte man simple Mechanismen nehmen und es allen zuteil werden lassen. Das würde auch viel zur demokratischen Legitimation des ganzen Ladens und eines besseren Verständnisses dafür beitragen, was da eigentlich passiert. Auch die Idee von Geld mit Ablaufdatum ist absolut nicht verkehrt. Aber die herrschende ökonomische Orthodoxie mit ihrer besonders in Deutschland ins Kultische abgleitenden Religiosität wird das zielsicher verhindern. Man braucht sich da nicht zu wundern, wie wenig Einfluss Wirtschaftswissenschaftler*innen auf die Politik haben.

9) Die falsche Angst vor dem Normalzustand

Die Angst vor der Wiederherstellung des Normalzustandes, der Autonomie und Freiheit aller, ist besorgniserregend. Virusvarianten müssen beobachtet und studiert, Impfungen an sie angepasst werden – das ist selbstverständlich. Doch es obliegt nicht dem Staat, jegliches Risiko auszumerzen: Das Leben ist kein „safe space“, kann es nie sein. Dabei geht es nicht nur darum, den öffentlichen Nahverkehr ohne Maske zu betreten, endlich wieder mal die Nacht im Club durchzufeiern oder sich mit hundert beliebigen Menschen treffen zu können; es geht vielmehr um die grundlegende Idee der Freiheit, die darin besteht, dass jeder über sein Leben selbst bestimmen kann. Daran darf auch Corona nichts ändern. (Anna Schneider, Welt)

Das ist das intellektuelle Niveau des Liberalismus? Eine echte Tragik. Es ist völliger Kindergarten. Ich will! Ich will! Ich will! Als ob es hier nur um persönliche Life-Style-Choices ginge, quasi ein pandemischer Christopher-Street-Day. Aber das ist nicht der Fall. Es obliegt natürlich nicht dem Staat, jedes Risiko auszumerzen. Weder kann er das, noch sollte er das. Es obliegt aber denkenden und verantwortlich handelnden Menschen, das Risiko, das sie selbst für andere darstellen, zu minimieren. Wer etwas so Simples wie das Tragen einer Maske zum Schutz anderer Menschen mit Verweis auf die eigene Freiheit ablehnt, handelt nicht liberal, sondern wie ein Arschloch. Das wird leider Gottes immer mehr verwechselt.

10) Deutschlands Angst um seine Kinder

Es ist ein erschreckendes Phänomen, dass weltweit die große Mehrheit der Bürger davon ausgeht, dass es ihren Kindern finanziell mal schlechter gehen wird als ihnen selbst. Über alle Länder hinweg sagen das rund zwei Drittel. Besonders groß ist dieser Anteil in Japan, Frankreich, Spanien, Italien, Belgien, den USA und Kanada. [...] Zufrieden geben sollte sich eine Gesellschaft damit jedoch nicht. Schließlich ist es das grundlegende Versprechen der Marktwirtschaft, dass jeder den Aufstieg schaffen kann – und wenn die Mehrheit nicht mehr daran glaubt, besteht ein Problem. [...] Grundsätzlich gelte, dass jene aus den unteren Schichten wesentlich geringere Arbeitsmarktchancen haben. „Darüber hinaus stellen wir fest“, so Betthäuser, „dass sich die Kluft bei den Arbeitsmarktchancen zwischen Personen aus ungelernten Arbeiterschichten und Personen aus besser gestellten Verhältnissen in den vier untersuchten Jahrgangskohorten nicht verringert, sondern eher vergrößert hat.“ (Frank Stocker)

Das hat doch nichts mit Glauben zu tun. Stocker schreibt hier, als ginge es darum, Tinker Bell zu retten. Sollen wir jetzt alle gemeinsam in die Hände klatschen? Spätestens seit dem Klatschen für die Pflegekräfte 2020 sollte auch dem letzten klar sein, dass die kinetische Energie frenetischer Handbewegung und guter Wille allein weder gute Arbeitsbedingungen noch gute Arbeitsplätze schaffen. Die Kritik, die Stocker hier ausbreitet, ist spätestens seit der ersten PISA-Studie vor nunmehr 21 Jahren bekannt: das deutsche Bildungssystem selektiert sozial in einem viel zu hohen Ausmaß. Das ist sattsam bekannt. Aber jede Reform wird blockiert, vor allem von den Eltern der privilegierten Schicht - und die Politik weiß, woher die Butter ihres Brots kommt. Nach dem Hamburger Desaster wird sie sich hüten, gegen die verlässlich wählenden Gymnasiums-Eltern anzugehen.

Aber was Stocker völlig ignoriert ist eine viel weitgreifendere Wahrheit: auch unter Gymnasiast*innen ist die Chance, dass man es einmal besser hat als die eigenen Eltern, eher gering. Warum? Weil seit 20 Jahren Löhne und Gehälter relativ stark gesunken sind, vor allem wenn man die geldwerten Zusatzleistungen einberechnet. Die Jobs, die meine Elterngeneration hat, sind heute praktisch durch die Bank nicht mehr existent und/oder wesentlich schlechter bezahlt. Es ist keine Einbildung, dass wir es nicht besser haben werden als unsere Eltern. Es ist Realität. Nur dass sich das irgendwie praktisch niemand eingestehen will.

11) Activision Blizzard Sued Over ‘Frat Boy’ Culture, Harassment

According to the complaint, filed Tuesday in the Los Angeles Superior Court, female employees make up around 20% of the Activision workforce, and are subjected to a “pervasive frat boy workplace culture,” including “cube crawls,” in which male employees “drink copious amounts of alcohol as they crawl their way through various cubicles in the office and often engage in inappropriate behavior toward female employees.” The agency alleges male employees play video games during the workday while delegating responsibilities to female employees, engage in sexual banter, and joke openly about rape, among other things. Female employees allege being held back from promotions because of the possibility they might become pregnant, being criticized for leaving to pick their children up from daycare, and being kicked out of lactation rooms so male colleagues could use the room for meetings, the complaint says. Female employees working for the World of Warcraft team noted that male employees and supervisors would hit on them, make derogatory comments about rape, and otherwise engage in demeaning behavior, the agency alleges. The suit also points to a female Activision employee who took her own life while on a company trip with her male supervisor. The employee had been subjected to intense sexual harassment prior to her death, including having nude photos passed around at a company holiday party, the complaint says. (Maeve Allsup, Bloomberg)

Das kann doch sieben Jahre nach #Gamergate niemanden ernsthaft verwundern. Die Videospielindustrie hat weitgehend jede Verantwortung von sich gewiesen, #Gamergate auf einige Youtube-Spinner (bewusst männliche Form) reduziert und so getan, als gäbe es kein Problem. Die Leitmedien der Gamingbranche waren dabei vorne mit dabei, wie immer ohne jede kritische Distanz und viel zu nahe an den Publishern. Die wenigen Journale, die davon abwichen - in Deutschland etwa WASD oder in den USA Polygon - waren bereits zuvor kritisch aufgestellt und tragen daher ohnehin Eulen nach Athen. Das ist was passiert, wenn man Fäulnis nicht beseitigt, wenn man sie sieht, sondern sie zu verdecken versucht. Sie eitert.

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