Bruderschaft:

1. Kapitel

Es war ein verregneter Samstagmorgen. Es war ein Tag, an dem man gerne einmal einen anderen Tag vom  Kalenderblatt reißen wollte ...

In der Emettonstreet, einer vergessenen Seitenstraße, wohnte Mel Jones. Er war einer, den man leicht aus dem Gedächtnis streichen wollte. Er wurde schon immer von anderen vergessen, nicht beachtet, da er ein äußerst zurückhaltender und verbitterter Mensch war.

Er selbst war vom Leben gekennzeichnet. Sein Gesicht war vernarbt und mit tiefen Furchen versehen. Mel war nicht sonderlich groß und hatte es deshalb schwer, wenn es darum ging, sich zu behaupten.

Er war 40 Jahre alt und hatte einen Schmiss am Augenlid, den er nicht erklären konnte.

Mel wohnte in einem verwahrlosten Haus, das die Hausnummer 17 trug. Von den graugestrichenen Wänden bröckelte, schon seit er das Haus bewohnte, der Putz ab. Er wohnte jetzt schon mittlerweile 7 Jahre in Brighton, seit er damals aus Chicago weggezogen war. Mel lebte wie unsichtbar. Die einzige Zeit, die er außerhalb seines Hauses verbrachte, war die Zeit, die er zum Einkaufen nutzte. Mel nahm sich nie besonders viel Zeit für seine Nachbarn und auch sonst nahm er an nichts teil, was Brighton betraf. Das machte ihn nicht sonderlich beliebt. Man bezeichnete Mel als arbeitslosen Faulenzer, als Nichtsnutz. Es war wie ein Teufelskreis. Falls er mal Kontakt suchte, verweigerte man ihm den, so zog er sich letzten Endes zurück. Er wusste zwar selbst, dass er seit der Zeit, in der er dort lebte, nicht besonders arbeitswillig war. Aber er wollte dennoch kein Lebenskünstler sein. Mel arbeitete nicht mehr wie früher, als er noch Lehrer für Biologie und Geschichte in Chicago an der Franklin High war.

Jetzt schrieb er nur noch ein paar Zeitungsglossen und Buchkritiken. Mel verdiente sich damit nicht tot, aber für seinen Lebensstil reichte es.

Das einzige Lebewesen, das ihm heute noch etwas bedeutete, war seine Katze.

Es hatte seinen Grund, warum aus einem so intelligenten Menschen ein Eigenbrötler wurde: seine Vergangenheit.

Manchmal bekam er schlimme Alpträume, wenn er sich nachts ungewollt zurückerinnerte. Dieses Trauerspiel wiederholte sich immer wieder, mal nur zwei Mal in einem Monat, es war aber für Mel während der Alpträume die Hölle auf Erden.

An diesem Abend war es mal wieder so weit. Er spürte schreckliche Kopfschmerzen, ohne zu wissen, wann die Cluster verschwinden würden.

Diesmal waren die Schmerzen unglaublich. Er wollte an diesen Abenden gar nicht mehr schlafen. Er wollte sich mit Kaffee vor den Alpträumen wachhalten ...

Doch nicht so wie er hoffte, verstärkte sich der Kopfschmerz so sehr, dass er sich gegen die drohende Müdigkeit nicht mehr wehren wollte.

Nach circa einer Stunde schlief er ein. Alles nahm in ihm seinen ungewollten Verlauf.

Er war damals 3 Jahre alt, als seine Eltern tödlich verunglückten, Mel erlebte seine Kindheit im Traum wieder. Seine ersten Erinnerungen führten ihn in das Heim, in dem er aufgezogen wurde. Mit elf adoptierten ihn ein alkoholkranker Schläger und eine missratene Adoptivmutter. Er war mutig und lief mit 14 in seine Freiheit davon.

Genau an dieser Stelle endete sein Traum ... Mel saß aufrecht in seinem Bett. Schweiß rann ihm vom Schädel, die Bettlaken klamm und verschwitzt. Er hatte eine Ekel und fror. Frustriert wie er war, drehte er sich eine Zigarette und lehnte sich fluchend zurück. Warum war er nicht wach geblieben ... hätte er sich an sein Versprechen gebunden! Er ärgerte sich und stieß fluchende Phrasen von sich. Mel stand auf und versuchte sich zu beruhigen, „Scheiße“ stieß er von sich. Er lief ruhelos durch sein Haus und warf immer noch Schimpfworte um sich.

Das Ganze dauerte etwa eine halbe Stunde. Als Erstes nach seinem psychotischen Selbstgespräch nahm er erst mal eine Kopfschmerztablette. Sein Wutanfall ließ seine Schläfen pulsieren.

Die Einsamkeit machte ihm schon seit langer Zeit zu schaffen. Er hatte die angezündete Kippe vergessen. Sie war längst im Ascher verglimmt. Bisher war es ihm nie gelungen, seine Vergangenheit zu verdrängen! Er erhob sich wieder aus seinem Bett und wollte sich eine zweite Zigarette drehen. Er ging auf den ledernen Sessel mit dem Glastisch daneben zu. Dort lagen sein Tabaksbeutel und sein Drehpapier, neben den Zeitschriften und Büchern, die sich dort stapelten. Während er sich die Kippe drehte, dachte Mel immer wieder an den Grund des Alptraums. Sein Leben verlief wie schwarzes Pech. Der Grund lag 35 Jahre zurück – warum heilte die Zeit diese Wunde nicht?

Es war die Sehnsucht nach Familienglück und einer behüteten Kindheit – Mel wusste, dass er nicht mehr schlafen würde. Für gewöhnlich las Mel Zeitschriften oder Bücher, doch heute konnte er nicht.

Uwe Kraus  1996/2020

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