Die Serie „Vermischtes“ stellt eine Ansammlung von Fundstücken aus dem Netz dar, die ich subjektiv für interessant befunden habe. Sie werden mit einem Zitat aus dem Text angeteasert, das ich für meine folgenden Bemerkungen dazu für repräsentativ halte. Um meine Kommentare nachvollziehen zu können, ist meist die vorherige Lektüre des verlinkten Artikels erforderlich; ich fasse die Quelltexte nicht noch einmal zusammen. Für den Bezug in den Kommentaren sind die einzelnen Teile durchnummeriert; bitte zwecks der Übersichtlichkeit daran halten.

1) Fiscal austerity intensifies the increase in inequality after pandemics

The key finding is that austerity intensifies the extent of the rise in inequality in the aftermath of pandemics. As shown in the middle panel, episodes of high austerity lead to an increase in the Gini by about 0.55 points, considerably larger than the average impact shown in the left-hand panel. By contrast, expansionary fiscal policy considerably dampens the rise in inequality, as shown in the right-hand panel: The increase in the Gini is under 0.2 points and is not statistically significant. Early evidence points to adverse distributional impacts from COVID-19 (Blundell et al. 2020, Hacioglu et al. 2020, IMF 2021) occurring through a number of channels. The poor have been more prone to getting infected – in part because they are less likely to have the option of working from home – and to die if infected due to lack of access to quality healthcare. For instance, Brown and Ravallion (2020) found that infection rates were higher in US counties with a higher share of African Americans and Hispanics. There are also indirect and longer-lasting effects from job loss and other shocks to income, particularly for workers in informal employment with limited access to health services and social protection. However, our results suggest that a long-lasting increase in inequality need not be a foregone conclusion and is contingent on the fiscal policies adopted by governments. (Davide Furceri/Prakash Loungani/Jonathan D. Ostry/Pietro Pizzuto, voxeu)

Dieses Ergebnis kommt für mich jetzt wenig überraschend. Selbst Verteidiger*innen der Austeritätspolitik dürften nicht ernsthaft bezweifeln, dass sie die Ungleichheit erhöht. Gerade in Deutschland ist der Zusammenhang ziemlich offensichtlich: der Gini-Koeffizient, der Ungleichheit misst, ist in Deutschland vor Berechnung der Abgaben und staatlichen Transferprogramme sehr hoch; Abgaben und staatliche Transfers wirken dann quasi im Nachgang nivellierend. Wenn ich also dort streiche, bleibt das Ungleichheitsniveau höher.

Dazu kommt natürlich, dass bei Austeritätsmaßnahmen die Kürzungen von Transfers häufig die ärmeren Bevölkerungsschichten treffen, weil die sich schlechter wehren können. Während die Mittelschicht bei der Abschaffung der Pendlerpauschale oder der Absetzbarkeit des Firmenwagens ordentlich Krach macht und Stimmen gefährdet, ist das weniger der Fall wenn die Mittel für das Förderprogramm für Kinder aus Hartz-IV-Familien gestrichen wird. Gerade in den USA kann man ja auch eine schier endlose Kreativität bei Kürzungen des ohnehin schon nicht eben großzügigen Food-Stamp-Programms sehen, während umgekehrt die Subventionierung der Mittelschichten-Hypotheken nicht angetastet wird.

2) Literarischer Trumpismus – Constantin Schreibers “Die Kandidatin”

Hauptsächlich ist der Roman, wie zuvor Schreibers Sachbücher, ein Kommentar zur deutschen Einwanderungspolitik der letzten Jahre und diesmal insbesondere auch ein Angriff auf eine linke Identitätspolitik, die Deutschland und die Welt bis kurz vor den Kollaps herabgewirtschaftet und gespalten haben. Die literarisierte Sozialprognose muss man als Diagnose der Gegenwartsgesellschaft verstehen. Sie ist kultureller Bestandteil einer gesellschaftlichen Affektpolitik, die aktuelle Sehnsüchte und Ängste reproduziert. [...] So begrüßt gleich der erste Satz des ersten Kapitels (den auch Brussig zitiert) im Goebbels-Sprech mit “Wollt ihr absolute Diversität?”, den der Text einem jungen linken Aktivisten “mit Vielfaltsmerkmal” (S. 5) in den Mund legt. [...] Als arabische Frau funktioniert sie auf der orientalistischen Erzählebene des Romans eben auch als sexuelle Projektionsfläche. [...] Sabahs Bruder gehört zu einer kriminellen Gang und hat bei einem illegalen Autorennen in Berlin Menschen verletzt. Sabah Hussein selbst ist Teil der korrupten Finanzelite mit geheimer Wohnung und Sportwagen in Monaco, kanzelt regelmäßig Kinder, Arbeiterfamilien und Unternehmer mit Belehrungen ab und unterhält seit ihrer eigenen Kindheit Kontakte zu islamistischen Fundamentalisten. [...] In Deutschland hat der Mietendeckel dazu geführt, dass Menschen nun in Containern leben, weil normale Wohnungen für Vermieter unrentabel geworden sind, während gesetzlich Krankenversicherte auf Intensivstationen unter Umständen nur noch Schmerzmittel erhalten. Per Gesetz werden Menschen unter anderem auf weiße “Hautpigmentierung” (S. 34) und Heterosexualität untersucht und können dafür ihre Arbeit verlieren [...] Die “progressiven Frauen” tragen einen “einfarbigen Genderkaftan, der jegliche Körperformen neutral verhüllt” (S. 22) und das Tragen von Schleiern wird bei Frauen staatlich gefördert. (Peter Hintz, 54books)

Das Erschreckende ist, dass jemand, der solche Grütze zusammenfantasiert, einer der profiliertesten Nachrichtensprecher der Nation ist - und das beim angeblich so linksschlägigem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Warum genau das Veröffentlichen eines von rechtsradikalen Verschwörungstheorien getränkten Bestsellers keine Gefährdung der Neutralität der Öffentlich-Rechtlichen ist, aber ein Tweet mit Glückwünschen zur Wahl zur Grünen-Vorsitzenden schon, bleibt das Geheimnis mancher Leute.

Im Übrigen: Natürlich darf Schreiber dieses Buch veröffentlichen und beim ÖR Nachrichten verlesen. Ich halte den Mann für einen ziemlichen Spinner. Aber solange er seine Meinung auf den privaten Bereich beschränkt - und auch sein Buch ist ein Bestseller, weil es von einem der bekanntesten Gesichter Deutschlands geschrieben wurde, selbstverständlich, aber das ist trotzdem Privatbereich - und aus den ÖR heraushält, kann er das machen.

Bemerkenswert finde ich noch einen letzten Aspekt. Schreiber ist mit Sicherheit ein hoch intelligenter und hoch qualifizierter Mann, das sollte außer Frage stehen. Trotzdem steckt er bis zum Kinn in einer Welt abstruser Verschwörungstheorien. Falls noch jemand einen Beleg dafür gebraucht hat, dass man nicht doof sein muss, um Verschwörungstheorien anzuhängen, hat man den hier. Man hört das ja leider immer wieder; nichts könnte falscher sein.

3) Gay marriage is the left's biggest culture war victory

As journalist Matthew Yglesias notes in a tweet, Republicans should be grateful that Supreme Court justice Anthony Kennedy (author of the landmark decision Obergefell v. Hodges) took the issue out of the political arena, since the GOP otherwise would have found itself on the wrong side of a potent wedge issue for a long time to come. (Though one wonders how long, given that the new poll also shows that a solid majority of Republican voters — 55 percent — support gay marriage as well.) [...] But gay marriage is different. I suspect that's because it built on the way people had already learned to think about marriage — as a personal choice based on a subjective experience of love for another person. If that's the case, then the left can certainly celebrate its victory on the issue. But it shouldn't treat that success as a broader sign of conservative weakness across the culture war's many other fronts. (Damon Linker, The Week)

Dasselbe Phänomen haben wir in Deutschland ja auch. In der gesamten Welt ändert sich die Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe ("Ehe für Alle"); letztlich sind fast alle Länder auf dem gleichen Weg. Einzig die Geschwindigkeit dieses Wandels ist unterschiedlich. In Europa sind Länder wie Polen oder Ungarn wesentlich "früher" in dieser Entwicklung als etwa Deutschland oder Dänemark, aber die Richtung, in die diese Gesellschaften laufen, ist dieselbe - homophobischen, dem Rechtsstaat hohnlachenden Politiken eines Orban zum Trotz.

Man sollte daraus, wie Linker zurecht warnt, keinen großen Siegestrend des Progressivismus machen. Aber: die Tendenz, dass die Progressiven auf gesellschaftspolitischem Gebiet Siege einfahren, ist unleugbar. Ein guter Teil des AfD-Erfolgs erklärt sich ja aus dem Backlash derjenigen dagegen, die diese Entwicklungen ablehnen. Sie sind nur eben eine Minderheit, und sie werden immer kleiner. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich niemand mehr daran erinnern will, dass in Deutschland überhaupt einmal jemand gegen die Ehe für Alle war, genauso wie sich heute ein Friedrich Merz sehr ungern daran erinnert, dass er gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe war (und immer noch ist, aber er sagt das nicht mehr laut).

4) Für immer dein Feind?

Parteiausschlüsse sind nicht nur ein rechtliches, sondern auch ein politisches Mittel und müssen dies auch bleiben. Mit diesem Verhältnis ist nun der neuralgische Punkt der Debatte um die WerteUnion, aber auch um Boris Palmer, getroffen. Es drängt sich die Frage auf, inwiefern die ordnungsrechtliche Untätigkeit der Parteispitzen mit diesen Abweichlern maßstabsbildend wirkt. Wenn sich andere Mitglieder in Bezug auf gegen sie gemachte Vorwürfe auf Präzedenzfälle wie Otte und Palmer berufen können, dann schwindet politischer Spielraum für Ordnungsmaßnahmen, dann ist Handlungsbedarf angezeigt, um nicht langfristig fruchtbaren Boden für programmatische Schismen zu bieten. Tatsächlich führte das Berliner Kammergericht diesen Gedanken in einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahr 2014 an und befand den Ausschluss des Hamburger Mitglieds der SPD und des Abgeordnetenhauses Bülent Çifltik als unverhältnismäßig, weil sich die SPD gegenüber Abweichlern wie Thilo Sarrazin bislang so milde gezeigt habe. [...] Das lange Zögern der Grünen gegenüber Palmer könnte damit für den Parteivorstand der Grünen noch unliebsame Folgen haben. Unabhängig vom Ausgang eröffneter Parteiausschlussverfahren nämlich dann, wenn die Schiedsgerichte vergleichbare Fälle entscheiden müssen. Und auch in Bezug auf Max Otte und seine WerteUnion schafft der Vorstand der CDU Fakten in Bezug darauf, wie sich ihre Mitglieder inhaltlich und organisatorisch zur AfD verhalten dürfen, auch wenn er das vielleicht nicht möchte. Die Verfassung knüpft demokratische Einflussmöglichkeiten an Verantwortlichkeiten. Innerparteilich folgt aus der mangelnden Verantwortungsübernahme in Bezug auf die Umgrenzung und Einhaltung der Grundwerte einer Partei weniger Macht für den Vorstand im Umgang mit inhaltlichen Abweichlern. Wenn das stimmt, sollten Armin Laschet und die CDU sich dringend überlegen, ob es nicht Zeit ist, sich ihrem Gespenst zu stellen. (Sven Jürgensen, Verfassungsblog)

Parteiausschlüsse sind echt ein schwieriges Feld. Einerseits macht es keinen Sinn, wenn Parteien Mitglieder nicht ausschließen dürfen, die nach Ansicht der Partei deren Werte nicht teilen. Auf der anderen Seite ist es natürlich gefährlich für die innerparteiliche Demokratie, wenn Abweichende immer sofort ausgestoßen werden könnten. Die auch verfassungsrechtlich hervorgehobene Stellung der Parteien macht das noch einmal schwieriger.

Spannend finde ich den im Ausschnitt von Jürgensens Artikel hier aufgeworfenen Problembereich des Präzedenzfalls. Wenn nämlich zu lange gezögert wird, in Fällen wie Sarrazin, Palmer oder Maaßen den Stecker zu ziehen, wird das Handeln beim nächsten Mal deutlich schwieriger. Da greifen einfach rechtsstaatliche Prinzipien. Feigheit wird hier hart bestraft, aber bedauerlicherweise waren die Parteien in allen drei genannten Fällen nicht gerade mutig.

5) „Die Löhne müssen steigen“ (Interview mit Clemens Fuest)

Löst das schon alle Probleme am Arbeitsmarkt?

Nein. Wenn Fachkräfte knapp sind, müssen die Löhne steigen. Als Ökonom würde man ja sagen: Fachkräftemangel gibt es nicht, sondern nur Knappheit. Es ist wie bei Diamanten: Sie sind knapp und teuer, trotzdem reden wir nicht von einem Diamantenmangel. Wer sich über Fachkräftemangel beschwert, sollte die Löhne erhöhen.

Jetzt noch die Löhne erhöhen? Nach der Pandemie? Da werden sich einige Betriebe nicht freuen.

So funktioniert aber die Marktwirtschaft. Das ist wie bei den Diamanten: Die hohen Preise haben auch den Sinn, dass Leute aus dem Markt ausgeschlossen werden. Viele Leute hätten gerne einen Diamantring, aber sie entscheiden sich dagegen, weil es zu teuer ist. So haben Lohnerhöhungen auch die Funktion, dass Fachkräfte an den Stellen nicht eingesetzt werden, wo sie weniger dringend gebraucht werden. Insofern sind Lohnerhöhungen selbst dann richtig, wenn deswegen keine einzige Fachkraft zuwandert. (Patrick Bernau/Maja Brankovic, FAZ)

Es ist das Dauerthema, dass Liberale zwar gerne den ArbeitsMARKT beschwören, wenn es darum geht, Schutz für Arbeitnehmende abzubauen, aber gerne gegen Marktmechanismen wettern, wenn diese mal in die umgekehrte Richtung wirken. Der Arbeitsmarkt ist eben kein normaler Markt, war es nie und wird es nie sein, und deswegen greifen die Regeln von Angebot und Nachfrage auch nur bedingt. Weder können die Löhne in Branchen unter Druck beliebig fallen, noch können sie in Branchen im Aufwind beliebig steigen.

Von diesen grundsätzlichen Mechanismen abgesehen aber stimme ich Fuest durchaus zu, dass die Löhne steigen müssen. Und zwar nicht nur für Fachkräfte in einigen wenigen Branchen; das Lohnniveau ist allgemein zu niedrig. Das gilt einerseits innerhalb von Deutschland; unser Binnenkonsum schwächelt schon seit Langem. Auch die Unterfinanzierung der Sozialsysteme hängt da ja mit dran, Stichwort Rente. Das gilt aber auch für Europa, wo das deutsche Lohndumping für gefährliche Unwuchten sorgt, die zwar einerseits den deutschen Exportboom befördern, aber den Keim für die nächste Wirtschaftskrise bereits in sich tragen - die dann auch Deutschland teuer kommt.

6) Brian Stelter on How the 2020 Election “Radicalized” Fox News (Interview mit Brian Stelter)

You write about people inside Fox who are committed to reporting the real news—how many of them are there? And how have the changes the network has undergone over the last year affected them?

I had a staffer who said, “It’s really emotionally taxing to do this job. We denied the pandemic, and now we’re denying the election outcome.” Those people who were in on it, so to speak, who saw the denialism for what it was, who were uncomfortable with being a part of it—they exist. But they’re not on the air very often. And they’re drowned out by the overriding agenda of the network. The people who are getting booked are true believers. The true believers tell themselves a story that a lot of Republicans tell themselves: “Our cause is just. Our cause is right. Trump is an imperfect vessel, but the real threats are from China and antifa and socialists.” They tell themselves they are part of a cause that is much bigger than on their hour of Fox. The Fox of 2021 is different even than the Fox of 2019. That’s where Foxologists—either people who appreciate the network or who want to vanquish it—need to recognize how it’s changed and how it’s different. The number of news hours has gone down. The number of liberal guests has gone down. I had a commentator say to me, “Fox is a really different place than it was preelection.” This person has seen changes even in the last six months, in terms of how radical, how extreme the content is.

Along those lines, you write in Hoax about the decline of Fox’s news division and the angst of the few remaining journalists at the network.

The opinion side is this ever-expanding blob that’s swallowing up the news division. That’s what it is. If you view Fox News as two things [operating] as one—a giant opinion operation and a relatively small news operation, opinion is a blog that is swallowing up the news side. I know it’s archaic to even talk about these two sides because obviously the news side reflects GOP priorities and covers conservatives’ concerns more than anything else. If you go down the list of what makes a news division, Fox has a news division. However, they don’t have a single bureau in Asia. They don’t have a single bureau in Africa. They basically only have two overseas outposts: London and Jerusalem. This is such a bare-bones news division that they were covering the spread of Covid in China from London! There are clear, undeniable data points that show the weakness of the Fox news division. Also, there are all the people who left who have not been replaced. What’s happened in the last couple of years is that Fox correspondents have quit and joined CNN or CBS or other networks or have left the business altogether in some cases, which is very revealing. That hurts morale. It means there are even fewer reporters to cover the news. And it means that Fox isn’t setting the news agenda, only the culture-war conservative agenda. It’s fun to play the game of “What’s the last big story Fox broke?” You get silence.

And as all this has happened, Fox’s news side seems more and more invested in covering culture-war stories that drive its opinion programming.

The anti-wokeness stuff has been led by the news side; it’s been led by daytime [programming]. We say “culture war,” but there are specific narratives that Fox advances. One is about threats to white Christian-conservative culture. That’s about fear of losing status in an increasingly multicultural America: What others perceive as progress, Fox viewers perceive as loss. Another version of the culture-war story on Fox is, “Democrats are evil or stupid or silly or foreign or ignorant or illiterate.” There’s an anti-Democrat push. Slate comes out with a sex column where one woman says her husband won’t take off his mask during sex, which I thought was hilarious. And Fox’s take is, “Terrified Liberals Keep Their Masks On During Sex.” There’s this effort to demonize and otherize Democrats that just has no equivalent on the left. I think everyone has to be really conscious of that. I had a Fox staffer, as I was writing the last page of the paperback, say, “The Biden team has no idea what they’re up against.” Maybe in three years, we’ll say that Fox was immaterial to the Biden presidency. Maybe we’ll say that Fox barely made a dent. But it won’t be for lack of trying. (Alex Shepard, tmz)

Die Rolle von FOX für die Polarisierung der Politik in den USA und die einseitige Radikalisierung der GOP wird immer noch deutlich unterschätzt. Es ist spannend zu sehen, dass der Sender sich immer weniger Mühe gibt, noch als ernsthafter Nachrichtenkanal zu posieren. Aber Geld verdient wird eben mit dem Erzeugen eines Dauer-Hasses, und da schlägt niemand Murdochs Leute. Erregung und "engagement" zu erzeugen ist natürlich das Geschäftsmodell aller Kanäle, aber FOX treibt das Ganze in eine toxische, zerstörerische Richtung.

7) Milliarden gegen den Klimaschutz

Bis heute gewährt der Staat nämlich hohe Steuervorteile, die den Verbrauch klimaschädlicher fossiler Brennstoffe anheizen. Würden diese gestrichen, wäre dem Klima gedient und dem Finanzminister erst recht. Vor allem im Verkehrssektor häufen sich die Subventionen: von der Entfernungspauschale für Berufspendler über den Rabatt für Dieselkraftstoff und die Steuervorteile für Dienstwagennutzer bis zum steuerfreien Kerosin im Luftverkehr und der Befreiung von der Mehrwertsteuer für internationale Flüge. [...] Aber wäre eine Beschneidung der Steuervergünstigung nicht sozial ungerecht, weil sie etwa die Supermarktkassiererin, die täglich lange Strecken pendeln muss, weil sie sich keine Wohnung in der teuren Großstadt leisten kann, besonders hart treffen würde? „Die sozialen Härten werden überzeichnet“, antwortet Christian Hochfeld von Agora Verkehrswende. Empirische Studien zeigten klar, dass von der Pendlerpauschale wie vom Dienstwagenprivileg Besserverdiener am meisten profitierten. Der Geringverdiener, der täglich viele Kilometer zur Arbeit pendelt, ist eine Rarität: Dies trifft auf nur gut zwei Prozent der deutschen Haushalte zu. Beim Dienstwagen- und Dieselprivileg sieht dagegen die Wirtschaftsweise Veronika Grimm keinen Grund zur Nachsicht. Beide sollten abgeschafft werden, fordert die Wirtschaftsprofessorin an der Universität Erlangen-Nürnberg. „Nicht zielführend“ seien diese steuerlichen Vergünstigungen, sagt Grimm. Das Dienstwagenprivileg steigere zwar die Verkaufszahlen hochmotorisierter und teurer Autos und helfe damit der Industrie. „Aber gesamtwirtschaftlich ist das kein überzeugendes Argument“, sagt Grimm. [...] Bleiben noch die Steuervergünstigungen für den Luftverkehr. Die Airline-Branche verweist zwar gerne darauf, dass sie als einziger Verkehrsträger dem europäischen CO2-Emissionshandel unterliege. Aber in den vergangenen Jahren haben die europäischen Fluggesellschaften rund 80 Prozent ihrer Emissionszertifikate kostenlos erhalten, waren von dem Klimaschutz-Obolus also faktisch weitgehend befreit. Auch die Luftverkehrsteuer, welche die Branche in der Debatte als nachteilige Sonderbelastung anführt, werde durch den Steuervorteil des steuerfreien Kerosins mehr als wettgemacht, sagt der Finanzwissenschaftler Thöne: „Unterm Strich wird der Luftverkehr gegenüber anderen Verkehrsträgern klar bevorzugt.“ (Matthias Theurer, FAZ)

Falls übrigens jemand bezweifelt, dass das aktive Politik ist - im CDU-Wahlprogramm wird gefordert, die "positiven Aspekte des Fliegens" stärker zu betonen. Auch die letzte Angriffslinie gegen die Grünen fand unter diesen Auspizien statt, als Laschet mit Krokodilstränen in den Augen erklärte, dass nicht jede Familie sich steigende Flugticketpreise leisten könne. Dabei ist Fliegen bereits jetzt ein Luxusgut, über 60% der Deutschen saßen noch nie in ihrem Leben in einem Flugzeug. Dass Reisen per Bahn absurd teuer sind, interessiert die CDU dagegen gar nicht. Aber die Bahn schiebt eben auch keine so gewaltigen Summen in die Parteikassen.

Gleiches gilt für Altmaier - der ohnehin nur noch unbezahlter Praktikant der Energiewirtschaft zu sein scheint - und seine Pläne, die Industrie mit Milliarden zu subventionieren, damit sie klimafreundlicher wird. Grundsätzlich gute Idee, aber vielleicht würde es Sinn machen, die Milliarden an irgendwelche Benchmarks zu hängen oder Bedingungen zu formulieren? Der Mann wirft Steuermilliarden mit der Gießkanne raus, als ob er das Geld im Keller des Ministeriums drucken würde.

Die CDU hat erkannt, dass sie ohne Klimarhetorik keinen Wahlkampf mehr machen kann. Und mit dem ihr eigenen Geschick für Wahlkämpfe nutzt sie die entsprechende Rhetorik, um das, was sie ohnehin machen will, in opportune Sprachregelungen zu verpacken. Hut ab, da könnten gewisse andere Parteien sich eine Scheibe abschneiden.

8) All the Glory to Prevention - Jetzt gegen künftige Krisen wappnen

„There is no glory in prevention“ lautet der Satz, der dieses Phänomen beschreibt. Niemandem wäre vor zehn Jahren in den Sinn gekommen, einer Politikerin auf die Schulter zu klopfen, die zur Vorbereitung auf den größtmöglichen Schadensfall ermahnt hätte; die auf die Ausarbeitung von Plänen, regelmäßige Übungen und die ausreichende Ausstattung mit Mitteln gedrängt hätte. [...] Das Zauberwort lautet: Resilienz. Wer sich in Krisenreaktionen zu behaupten weiß, der lebt auch in guten Momenten besser. Dabei sind die Resilienzeigenschaften in Menschen durchaus vergleichbar zu denen in Gesellschaften. Resiliente Menschen sind ausgeglichen, anpassungsfähig und kreativ. Das Gegenteil von Resilienz ist die Verwundbarkeit, die Vulnerabilität. Wer darunter leidet, sucht häufig die Verantwortung für eigene Fehler bei anderen und verläuft sich unter Stress in Selbstzweifeln. Kommt uns das nicht aus der öffentlichen Debatte in Deutschland im Jahre 2021 bekannt vor? (Claudia Schmidtke, The European)

Ich stimme völlig zu, dass Resilienz gegen Krisen wohl eines der wichtigsten Felder für die Zukunft ist - gerade angesichts des Klimawandels - aber dass es gleichzeitig sehr schwer ist, dagegen überhaupt, geschweige denn adäquat, vorzusorgen. Man denke nur an den Kalten Krieg. Damals wurden noch Vorräte und Schlafplätze für die Bevölkerung vorgehalten, es gab Bunker und Luftschutzsysteme, aber trotzdem gab sich niemand der Illusion hin, dass das mehr als ein Placebo war.

Gerade im Fall von Naturkatastrophen aber sind Schlafmöglichkeiten, Ersatzgeneratoren, Vorräte aller Art aber von essenzieller Notwendigkeit, und wir müssen mit mehr Naturkatastrophen in Zukunft rechnen. Ich denke aber der größte Bedarf in Deutschland besteht im Gesundheitssystem. Wir haben Covid unter anderem deswegen glimpflicher überstanden als der angelsächsische Raum, weil unser Gesundheitssystem nicht so auf Kante genäht war wie deren. Aber egal um welche Katastrophe es geht - eine neue Pandemie, eine Hitzewelle, wer weiß was - wird es Menschen geben, die medizinische Hilfe brauchen. Hier stärktere Vorsorge zu treffen ist mit Sicherheit nicht falsch.

Das hat übrigens auch industriepolitische Auswirkungen, wenn es etwa darum geht, dass wir Schutzmaterial wie Masken künftig selbst herstellen können, oder genügend Kapazitäten für die Herstellung von Impfstoffen und Medikamenten besitzen. Die Covid-Pandemie sollte ziemlich deutlich gezeigt haben, wie unglaublich verwundbar die weltweiten Lieferketten sind.

9) "Quellenlage ist besser geworden“ (Interview mit Ulrich Herbert)

Hat Sie in der Forschungs­arbeit etwas überrascht?

Ja, wie unfassbar viele Zeugnisse aller Art dieser Massenmord hinterlassen hat. Dokumente der Täter und der Zuschauer vor allem, aber eben auch der Opfer. Die Vorstellung, das sei im Wesentlichen ein geheimer Vorgang gewesen, erweist sich so als abwegig. [...]

Ist die Erforschung der Judenvernichtung im Jahr 2021 – und symbolisch mit dieser Edition – abgeschlossen?

Nein. Die Frage, ob nicht endlich alles erforscht ist, wurde uns auch schon 2003 gestellt, als wir das Konzept für die Edition vorstellten. Die gleiche Frage hatte mir auch ein FAZ-Redakteur gestellt, der meinte, das Thema NS-Zeit sei mit der Wiedervereinigung jetzt doch erledigt. Das war 1990. Und in den 1960er Jahren, bei den Debatten um die Verjährung der Mord­taten der Nazis, ging es vor allem um diese Frage. Die Antwort ist immer: Nein. Diese Edition gibt wie alle historische Forschung ein Zwischenresultat, allerdings auf sehr breiter Grundlage. Und natürlich wird sich das durch neue Quellen und neue Fragen auch verändern. [...]

Ihre Mitherausgeberin Susanne Heim hat gesagt: Diese Bände sind der Versuch, sich von der Metadiskussion über den Holocaust zu entfernen und sich wieder dem Geschehen selbst zuzuwenden. Warum ist das wichtig?

Als Helmut Kohl einmal eine neue Ausstellung in Yad Vashem in Jerusalem besuchte, sagte er dort: Das weiß ich doch alles. Das ist eine verbreitete Haltung. Raul Hilberg hat vermutet, dass sein Buch, das Standardwerk über den Holocaust, zwar oft gekauft, aber fast nie gelesen wurde. Das ist dem Thema inhärent. Es existiert eine verständliche Scheu gegenüber der Empirie des Holocaust. Jeder hat eine Meinung und eine moralische Haltung gegenüber dem Judenmord. Ob er oder sie nun viel darüber weiß – oder nichts. Viel Meinung, wenig Kenntnis: Das ist zunehmend problematisch. (Stefan Reinecke, taz)

Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Leute versuchen mir zu erzählen, dass der Holocaust ausgeforscht ist und dass man da ja eigentlich nicht mehr groß aktiv werden muss, deswegen ist Reineckes Interview hier sehr willkommen. Doch nicht nur gibt es in der Forschung noch weiße Flecken, die der Bearbeitung harren; trotz der scheinbaren Allgegenwärtigkeit des Themas Holocaust im öffentlichen Diskurs ist der Wissensstand der Allgemeinheit zum Thema erbärmlich niedrig. Mittlerweile ist die gute deutsche Aufarbeitung des Holocaust zu einer Selbstbeweihräucherung ohne große Basis verkommen. Da gibt es genug zu arbeiten.

10) Schule ohne Noten – ein umstrittenes Thema, das am System der Selektion scheitert

Aus der Wissenschaft wisse man, dass Noten den Lernprozess negativ beeinflussen. «Noten bewirken, dass Kinder und Jugendliche das Interesse am Thema verlieren, sich einfachere Aufgaben aussuchen und in ihren Lernaktivitäten oberflächlich werden», sagt Wampfler. Dabei sei Lernen eigentlich etwas Menschliches und Einfaches. «Lernen hat eine integrierte Belohnungsfunktion. Weil ich danach etwas besser kann oder weil ich mein Verhalten ändern kann, bin ich motiviert, dazuzulernen.» Doch in der Schule sei Lernen mit Stress, Angst und Druck verbunden. Die Kinder würden Lernen, weil sie lernen müssen, um gute Noten zu bekommen. [...] Längst gibt es Beispiele von privaten Schulen, die ohne Noten oder Zeugnisse funktionieren. Zu den bekanntesten gehören die Montessori- oder die Rudolf-Steiner-Schulen. Lernfortschritte werden nicht mit Zahlen gemessen, sondern in Gesprächen diskutiert und Wortzeugnissen dokumentiert. Auch einige Volksschulen experimentieren mit neuen Formen der Bewertung. In der Sekundarschule Seehalde legen Schüler ihre persönliche Notenziele selber fest. In eigenem Lerntempo und mit so viel Unterstützung durch die Lehrpersonen, wie sie brauchen, versuchen sie diese zu erreichen. Das Modell nennt sich SOL und stellt das selbstorganisierte Lernen ins Zentrum. (Sarah Serafini, Watson)

Ich bin in den letzten Jahren immer mehr auf diese Sichtweise umgeschwenkt und teile sie mittlerweile praktisch vollumfänglich. Die oben genannten Argumente decken sich mit meinen Erfahrungen. Schüler*innen werden durch die Konzentration auf Noten weitgehend von ihrem natürlichen Lerndrang entwöhnt. Gleichzeitig, und das sind weitere negative Effekte, sorgt die Konzentration auf Noten für einen "Lernen für die Prüfung"-Effekt, der extrem künstlich ist und einem echten, nachhaltigen Lernen massiv im Weg steht. Und zuletzt erzeugen Noten ohnehin nur eine Schein-Objektivität, denn zwar bekommt man Zahlen, anhand derer man vergleichen kann, aber der gesamtgesellschaftliche Konsens, dass die Noten präzise Unterscheidungsmerkmale wären, ist ohnehin Illusion. Nirgendwo wurde dieses kollektive Beharren auf der Notenfiktion das so deutlich wie bei der Debatte um die "Corona-Abiturprüfungen".

11) Seehofers Haus diktierte Definition

Es ist nur ein Satz, aber der Streit über ihn sagt viel aus über die politische Gegenwart in der Bundesrepublik und die Geisteshaltung in manch ihrer Institutionen: „Im Unterschied zum Rechtsextremismus teilen sozialistische und kommunistische Bewegungen die liberalen Ideen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – interpretieren sie aber auf ihre Weise um.“ Im Januar hatte die taz darüber berichtet, wie sich über diesen Satz, der aus der ehemaligen Einleitung des Linksextremismus-Onlinedossiers der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) stammt, zuerst ein konservativer und rechter Shitstorm bildete; und wie dieser Satz, der von einem renommierten Wissenschaftler verfasst worden war, zuerst aus dem Netz genommen und dann durch eine unwissenschaftliche Linksextremismusdefinition des Verfassungsschutzes ersetzt worden ist. Schon damals war bekannt, dass die bpb diese Änderung auf Anweisung des Bundesinnenministeriums (BMI) vorgenommen hatte, denn die Bildungsbehörde ist dem Ministerium nachgeordnet, das BMI hat die Fachaufsicht über die bpb inne. Konkret heißt das, dass die bpb dem zuständigen BMI-Referat berichten muss und das Referat zugleich die Möglichkeit hat, in die Arbeit der bpb einzugreifen, wenn es einen Anlass dazu sieht. [...] Aus dieser Kommunikation geht einerseits hervor, welch zentrale Rolle die Bild-Zeitung und der Bundestagsabgeordnete Thorsten Frei, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Vorsitzender des bpb-Kuratoriums, beim Eingriff des BMI gespielt haben. Andererseits ist der behördeninternen Kommunikation zu entnehmen, dass die Hausleitung, anders als zunächst behauptet, doch entscheidend in den Vorgang eingebunden gewesen ist – das BMI hatte im Februar gegenüber der taz die Frage verneint, ob Bundesinnenminister Horst Seehofer oder zuständige Staatssekretäre in die Überarbeitung des Einleitungstextes eingebunden gewesen seien. Das Ministerium hat also gelogen, um das Ausmaß dieses Vorgangs zu verschleiern, der sich nun mit Blick auf die interne Kommunikation des Ministeriums weiter vervollständigt. Aktiv beteiligt an dem Vorgang war, das geht aus dem Schriftverkehr hervor, das Ministerbüro von Horst Seehofer, eingebunden waren zudem Staatssekretäre. (Volkan Agar)

Mal abgesehen davon, dass das Innenministerium sich hier anschickt die Bundeszentrale für politische Bildung zu canceln (was machen die überhaupt beim BMI, die gehören zum Bildungsministerium, der Kalte Krieg ist seit dreißig Jahren rum) - was um Gottes Willen glauben die BILD-Propagandisten und die konservativen Kulturkrieger, dass sie hier erreichen? Wir reden von der Bundeszentrale für politische Bildung! Da sind bis in die höchste Ebene ein Ministerium mit Minister, Staatssekretären und so weiter damit betraut, die durch eine massive Lobbykampagne der BILD dazu angestoßen werden, die Definition von Linksextremismus zu ändern. Bin das nur ich, oder ist das kein sonderlich sinnvoller Einsatz von Ressourcen? Also mir ist einfach nicht klar, warum man so demokratiezersetzenden Blödsinn auf einer so lächerlich belanglos-unwichtigen Ebene mit solchem Aufwand unternimmt.

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