Migration ist ein Dauerthema in der deutschen Debatte. Das ist nicht erst seit 2015 der Fall; mindestens seit Beginn der 1990er Jahre treibt die Furcht vor Zuwanderung Zyklen oft rassistisch konnotierter Hetze, die die allzu oft von realen Gewaltausbrüchen begleitet werden. Die dazugehörigen Debatten wirken zirkulär: von linker und progressiver Seite werden die Menschenrechte, die Leistungsfähigkeit und Aufnahmefähigkeit Deutschlands allgemein und der deutschen Sozialsysteme im Besonderen sowie das Leiden der Betroffenen betont, während von rechter und konservativer Seite die Belastung eben dieser Sozialsysteme, die Befürchtung von „Überfremdung“ und die mangelnde Integrationsfähigkeit der Betroffenen betont werden. Innenpolitisch sind diese Debatten in einen Aufstieg des Rechtsradikalismus eingebunden, für den sich Rechts und Links gegenseitig die Schuld zuschieben. Der aktuelle Zyklus dieser Debatte macht darin keine Ausnahme. Die einzige Hoffnung, die man aus dem Blick zurück auch vorherige Zyklen schöpfen kann, ist, dass das Thema üblicherweise irgendwann von alleine wieder verschwindet. Angesichts der Flurschäden ist das allerdings ein geringer Trost.
Ich selbst bin bei diesem Thema wie bei so vielen Themen auf einer Reise. Beginnen 2015 und für viele Jahre war ich klar in der „Refugees Welcome“-Ecke. In der letzten Zeit allerdings habe ich mich darauf Stück für Stück wegbewegt und kann mit der entsprechenden Rhetorik immer weniger anfangen. Ich merke das auf Twitter, wo ich entsprechende Tweets häufiger in die Timeline gespült bekomme. Der erklären Linke aller Schattierungen, dass die Geflüchteten zahlen ja gar nicht so hoch seien, dass Deutschland ein reiches Land sei, das grundsätzlich alle ins Land kommenden Menschen versorgen könnte, und so weiter.
Doch bevor wir in die politische Auseinandersetzung über die Migrationsfrage gehen, sollten wir zuerst einmal die Rahmenbedingungen abklären. Die moderne Migrationsdebatte hat ihren Ursprung in den frühen 1990er Jahren, als die Zahlen der Asylsuchenden im Kontext des Zerfalls Jugoslawiens massiv anstiegen. Diese Entwicklung fiel zeitlich zufällig mit der Wiedervereinigung zusammen. Dies ist insofern relevant, als dass der deutsche Ansatz traditionell darin besteht, die Asylsuchenden dezentral unterzubringen. Diese Prämisse der deutschen Asylpolitik wird uns später noch einmal begegnen, besorgte aber in dem Fall für einen plötzlichen Influx von Migrant*innen in ländliche Regionen in Ostdeutschland, die bisher dank der Ghettoisierungspolitik der SED für ihre eigenen „ausländischen Vertragsarbeiter“ (und deren relativ geringe Zahl) keine Berührungen mit migrantischen Menschen hatten.
Die Zunahme von Asylanträgen fiel zudem in eine Zeit, die von wirtschaftlicher Krise und hohen Kosten des Einheitsprozesses gekennzeichnet war und damit anders als die Zeit der Ankunft der Gastarbeitenden nicht mit einer wirtschaftlichen Boomphase zusammenfiel. Der Diskurs war daher ein krisenhafter. Die gesellschaftliche Dimension dieser Krise fand ihren offensichtlichsten Ausdruck in dem berüchtigten Spiegeltitel „Das Boot ist voll“, der auf ein verbreitetes Gefühl der Überforderung hindeutete. Weniger bekannt aber für das Verständnis der politischen Auseinandersetzung elementar ist die politische Dimension der Krise (politisch im Sinne der Polity), deren Dimension bis heute ungelöst ist und auch in den Jahren 2015ff. für dauerhafte Konflikte sorgte: da die Geflüchteten und/oder asylsuchenden Menschen auf die Kommunen verteilt wurden, trugen diese die Last der Versorgung und Integration. Da allerdings die Kommunen durch die andauernde Krise des föderalen Systems zu großen Teilen überschuldet und wenig handlungsfähig waren, war auf dieser Ebene die Rede von einer Flüchtlingskrise tatsächlich mehr als zutreffend, bin gleich die Gesamtbelastung relativ zum Bruttoinlandsprodukt überschaubar war.
Diese Gemengelage führte zum Asylkompromiss von 1993. Die damit einhergehende Grundgesetzänderung verschärfte die Kriterien für das Asyl in Deutschland stark, verteilte aber auch die Last zwischen Bund, Ländern und Kommunen um (wie sich in der Folgezeit herausstellen sollte: nicht nachhaltig). Diese strukturelle Reform war das Anliegen der SPD gewesen, deren Zustimmung im Bundesrat und für die Grundgesetzänderung zwingend notwendig gewesen war. Soweit zur politischen Übersicht. Diese generellen Konfliktlinien haben sich bis heute wenig geändert. Sie konnten in der Krise von 2015 erneut begutachtet werden, als Bayern die Hauptlast der Ankommenden tragen musste und die Verteilung auf die Kommunen diese danach erneut belastete, erneut - oder immer noch - in einer Zeit, in der die kommunalen Kassen weitgehend leer waren. Diese Verteilungsfrage ist bis heute ungelöst und ein wenig diskutierter Grund für Lokalpolitische Erfolge der Rechtsradikalen.
Sowohl in den frühen 1990er Jahren als auch heute ging die ganze Debatte mit einem Aufstieg des Rechtsradikalismus einher. Damals waren es die Republikaner, die in Landesparlamente einzogen (besonders viel diskutiert Baden-Württemberg 1994) und vereinzelt Achtungserfolge erzielten. Stärker im Gedächtnis geblieben ist die rechtsradikale Gewalt, die sich in Lichtenhagen und Hoyerswerda pars pro toto Bahn brach. Auffällig war damals der Tenor besonders der Bürgerlichen, aber auch der Sozialdemokraten, der diese rechtsradikalen Gewaltausbrüche als legitime Anzeichen des Volkszorns betrachtete, eine Sichtweise, die Bundespräsident Steinmeier jüngst in einer Rede reproduzierte.
Die aktuelle Krise beruht auch auf einer außenpolitischen Systemkrise: nicht nur ist der Föderalismus weiterhin nicht in der Lage, die Zuständigkeiten Verantwortlichkeiten zu regeln; dieses Problem reproduziert sich auch auf Ebene der Europäischen Union. Das ist nichts grundlegend Neues: seit deutlich über einem Jahrzehnt befindet sich das sogenannte Dublin-System unter Druck. In der Theorie sind unter diesem System die Länder an der europäischen Peripherie für die Abwehr, Aufnahme und Versorgung von Asylsuchenden und Geflüchteten zuständig, ohne dass dem ein europäischer Ausgleichsmechanismus zur Seite gestellt worden wäre. Ein solcher wird von den Ländern an der Peripherie seit mittlerweile sicher 15 Jahren gefordert und von den nicht betroffenen Ländern ebenso lange abgelehnt.
Dies führte zu verschiedenen Iterationen europäischer Flüchtlingspolitik: So rettete etwa die italienische Küstenwache um 2013 herum im Rahmen der Operation „Mare Nostrum“ noch zahlreiche Geflüchtete, eine Praxis, die sie auch auf deutschen Druck (vor allem seitens Thomas de Maizières) hin aufgab. Seither wurde die Grenzschutz Organisation Frontex deutlich gestärkt und erhielt zusätzliche Kompetenzen, während sie gleichzeitig ihre Zusammenarbeit mit den Küstenwachen und Grenzschutzorganisationen der peripheren EU-Mitglieder verstärkte, etwa die italienischen Carabinieri. Interessierten sei hier der Podcast "Zehn Jahre Lampedusa" empfohlen, der diese Änderungen nachzeichnet.
Deutschland, das sich dem Ruf dieser peripheren EU-Mitgliedsländer nach einer europäischen Lösung lange widersetzt hatte, ich spürte den Druck dieser Entwicklungen bis 2015 praktisch überhaupt nicht. Seither versucht es, einen europäischen Verteilungsmechanismus zu finden, der sämtliche Mitgliedstaaten einschließt, was angesichts der Verweigerungshaltung vor allem Polens und Ungarns ein völliges Luftschloss ist. Auch der Kompromissvorschlag, dass Mitgliedsländer sich von ihren Aufnahmeverpflichtungen durch monetäre Ersatzleistungen freikaufen können, hat bisher wenig Erfolg. Einigen konnte sich die EU lediglich auf weitere Mittel für Frontex, Versuche der Abwehr von Geflüchteten vor allem durch Zusammenarbeit mit den Staaten an Europas Grenzen und Verschärfungen der rechtlichen Lage, die die Rechte von Asylsuchenden empfindlich beschnitten. Dies allerdings ist, was wohl niemand bezweifeln wird, Symptombekämpfung. Die viel beschworene Bekämpfung von Fluchtursachen bleibt weiterhin ein Desiderat, für das nicht einmal ansatzweise Konzepte zur Verfügung stehen und das vom Gehalt der Ernsthaftigkeit ungefähr auf demselben Niveau rangiert wie Bekenntnisse zur Wichtigkeit von Bildung im innenpolitischen Diskurs.
An dieser Stelle dreht sich der Diskurs permanent um sich selbst. Von links wird der Rassismus kritisiert, auf das Grundrecht auf Asyl verwiesen, die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft betont und eine Wiederauflage von „Wir schaffen das“ gefordert, die sämtliche demokratischen Parteien einschließen und das Thema auf diese Art und Weise befrieden soll. Von rechts der Rechtsbruch der Seenotretter*innen betont, auf die wirtschaftlichen Motive von Geflüchteten verwiesen, die Sicherung der Grenzen eingefordert Cortana und die Gefahr einer Überforderung von Volkswirtschaft und Sozialsystemen beschworen. Dummerweise sind beide Seiten dabei nicht in der Lage, eine Lösung dieser Situation anzubieten.
Stattdessen sind sich beide darin einig, dass der zunehmende Rechtsradikalismus auf die jeweils andere Seite zurückzuführen sei.
Aus linker Sicht würde die AfD schon dann verschwinden, wenn CDU und FDP sich bei SPD, LINKEn und Grünen einhakten und erklären würden, dass wir sämtliche Geflüchteten versorgen können, weil unsere Volkswirtschaft dazu die Mittel habe, was aber nicht einer Forderung nach Open Borders gleichkomme, ohne dass der genaue Unterschied je erklärbar wäre. Der Rechtsradikalismus ist in dieser Erzählung deswegen so stark, weil von bürgerlicher Seite kein Bekenntnis zu progressiven Werten erfolge.
Aus rechter Sicht lässt sich die AfD dadurch am besten bekämpfen, dass man die Grenzen weitgehend dicht macht, das Recht auf Asyl zurückschneidet, die Leistungen für im Land befindliche Menschen drastisch zurückschneidet und somit die „Anreize“ für eine Flucht nach Deutschland reduziert, ohne dass je klar wäre, worin hier eigentlich der Kategoriale Unterschied zu der AfD genau bestehen soll. Der Rechtsradikalismus ist in dieser Erzählung deswegen so stark, weil die Progressiven unbegrenzt Menschen ins Land lassen wollen.
Diese Erzählungen enthalten beide mehr als nur einen Korn Wahrheit, was das Bittere an der gesamten Angelegenheit ist. Gleichzeitig bilden sie eine Sackgasse für einen selbstreferentiellen Diskurs, der außer Rituellem anschreien der jeweiligen Gegenseite und dem Erheben drastische Vorwürfe wenig zu bieten hat. Ich will im Folgenden näher untersuchen, woher die jeweiligen Eindrücke stammen, welche Politiken tatsächlich verfolgt werden und welche Konsequenzen diese haben. Ich bin der Überzeugung, dass ein tatsächlicher Kompromiss ein Neudenken der Migrationspolitik generell erforderlich macht, das aktuell in keiner Partei zu finden ist, dessen Grundlagen allerdings in verschiedenen Formen bereits existieren. Gleichzeitig muss leider auch festgestellt werden, dass der Diskurs von Lebenslügen durchzogen wird, die sich seit vielen Jahren verfestigt haben und schwer aufzugeben sind. Einigen davon bin ich selbst lang genug angehangen. Ich will nicht behaupten, irgendeine Art von Muster Lösung für das Problem zu haben, sondern will eher mögliche Wege diskutieren, in der Hoffnung, dass ein solcher Weg tatsächlich einen Ausweg darstellt - schon allein, weil es einen Unterschied zur festgefahrenen aktuellen Situation wäre, die offensichtlich nicht wünschenswert ist.
Noch ein letztes Wort zur politischen Debatte an sich: ich bin durchaus der Überzeugung, dass ein großer Teil der Attraktivität der AfD der Prävalenz des Migrationsthemas geschuldet ist. Wenn es durch ein anderes Thema aus den Schlagzeilen verdrängt würde und die Republik nicht ständig darüber reden würde, verlöre die AfD mit Sicherheit an Zustimmung. Nur lässt sich dieses Verschwinden des Themas ja nicht mandatieren. Ich gehe davon aus, das ist durch andere Ereignisse so oder so irgendwann abgelöst werden wird, dass dies allerdings vermutlich zu spät und nur mit großen Flurschäden eintreffen wird.
Weiter geht es in Teil 2.
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