Teil 1 hier. , Teil 2 hier.
In diesem Spannungsfeld finden nun reale Policies statt. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Seenotrettung staatlicherseits komplett eingestellt worden ist. Selbst das ist eigentlich noch eine Beschönigung, weil durch illegale Pushbacks, unterlassene Hilfeleistung und gezielte Versenkungen sogar aktiv Migranten*innen getötet werden. Andererseits sind die Aufnahmelager inzwischen Gefängnisse, die jedem menschenrechtlichen Anspruch spotten. Da die Lebenslügen beide Seiten eine ernsthafte Bewegung in der Migrationspolitik unmöglich machen, greifen institutionelle Logiken und Pfadabhängigkeiten. Das bedeutet eine Stärkung der Exekutive, im Rahmen der Europäischen Union also der Minister*innenkonferenzen, der Kommission und natürlich in der Agenturen wie Frontex. Was sie nicht erlauben ist das konstruktive Schaffen neuer Regelungen und Systeme.
Da eine konstruktive Regelung innerhalb dieser Pfadabhängigkeiten nicht möglich ist - das würde die Zustimmung nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments erfordern - kann nur im bestehenden Rahmen operiert werden. Dieser aber erlaubt nur eine Verschärfung bestehender Politiken. Diese ist zwar, da sind sich Rechte und Linke einig, nicht zureichend, erlaubt aber immerhin Aktivität.
Dies ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Der wichtigste davon ist die schleichende Erosion des Rechts. Auf der einen Seite wird die illegale Seenotrettung heroisiert und normalisiert (was zu der politisch selbstmörderischen Entscheidung der LINKEn, Carola Rackete zur Spitzenkandidatin der EP-Wahlen zu machen, führte), die man zwar durchaus moralisch begrüßen mag, die dadurch aber nicht weniger illegal wird. Auf der anderen und institutionell bedeutenderen Seite haben wir den beständigen Rechtsbruch durch die Mitgliedstaaten und besonders durch Frontex, die sowohl die international gültigen Menschenrechte als auch die Gesetze der Europäischen Union und meistens der Mitgliedstaaten selbst unter Billigung derselben Europäischen Union und Mitgliedstaaten verletzen. Dadurch entsteht eine Kultur des permanenten Rechtsbruchs, die jederzeit von der Peripherie ins Zentrum getragen werden kann. Wer sich für diese Argumentation tiefergehend interessiert, sei auf diesen Artikel verwiesen.
Genauso kann das Desiderat einer modernen Einwanderungspolitik nie verfolgt werden. Einerseits müsste das gesamteuropäische abgestimmt sein (ein Ausschlusskriterium von praktisch allem), andererseits fehlt dafür in Deutschland jegliche Akzeptanz. Dasselbe gilt auch für die Idee eines europäischen Verteilungsschlüssels. Würde ein solcher, wie von Deutschland offiziell gewünscht und unter anderem von Polen und Ungarn blockiert, tatsächlich kommen, würde dies zu einer Zunahme statt zu einer Abnahme von Aufnahmen führen. Die Ernsthaftigkeit der Verhandlungen seitens der Regierung, gleich welcher parteipolitischer Färbung, darf daher bezweifelt werden.
Entsprechend ist die aktuelle Politik ein Mix aus dem schlechtesten aus beiden Welten. Auf der einen Seite werden hohe Standards beschworen, die auf der anderen Seite permanent unterlaufen werden. Die Politiken sind nicht geeignet, die Zahlen der Geflüchteten signifikant zu reduzieren, erhöhen aber das Leid der Betroffenen außerordentlich.
Ob dieser Gordische Knoten jemals durchschlagen werden kann, ist offen. Grundsätzlich nehme ich an, dass das Thema mit der Zeit an Prävalenz verlieren und anderen Aufregerthemen Platz machen wird. Dafür spricht, dass dies in der Vergangenheit noch immer so gelaufen ist: die massenhafte Zuwanderung vom Balkan in den 1990er Jahren bewegt die Gemüter heute nicht mehr. Die Ruhrpolen, einst nicht zu integrierende Minderheit mit fremder Kultur und hohen Geburtenraten, sind mittlerweile allenfalls an einem Nachnamen erkennbar. Die Deutschtürken, lange Zeit das Aushängeschild jeglichen Diskurses über nicht integrierte Minderheiten, werden inzwischen als Mustermigrant*innen mit Einwandernden aus Syrien oder Afghanistan verglichen.
Es ist wie immer ohnehin auffallend, dass ein Großteil der Menschen überhaupt keinen Kontakt und keine Erfahrungen mit Geflüchteten hat. Auch das war schon immer so: da Zugewanderte eine Neigung haben, sich in eher städtischen Regionen zu konzentrieren, ist gerade auf dem Land, wo das ausländerfeindliche Ressentiment am größten ist, der Berührungspunkt mit den Menschen auch am geringsten. Der deutsche Ansatz der dezentralen Unterbringung und Verteilung auf die Kommunen ist daher grundsätzlich tatsächlich am besten geeignet, dem Problem innenpolitisch langfristig die Zähne zu ziehen, weil er für mehr Berührungspunkte sorgt und Gettoisierung vorbeugt. Wir machen also nicht alles falsch. Die Kommunen müssen nur die Möglichkeiten haben, diese Aufgaben auch auszuführen. Und die Politik muss in irgendeiner Weise dafür sorgen, dass der knappe Wohnraum vernünftig verteilt ist: auch hier gilt schließlich, dass das Problem mit Sicherheit durch Zuwanderung nicht kleiner wird.
Das führt auch zu dem Punkt, dass jegliche Migrationspolitik auch gleichzeitig erfolgreiche Sozialpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik sein muss. Das Gefühl, benachteiligt und vergessen zu sein, darf keine reale Grundlage haben. Nur dann kann man tatsächlich versuchen, Zahlen und Fakten auszupacken. Anders ausgedrückt: nur, wenn ich tatsächlich einen Zahnarzttermin bekomme und mich die Reparatur des Gebisses nicht ruiniert, habe ich kein Problem damit, wenn auch Asylbewerber*innen im Wartezimmer sitzen.
Eine ungeklärte Grundsatzfrage bleibt, inwieweit man damit rechnet, dass diese Menschen zeitnah wieder in ihre Ursprungsländer zurückkehren beziehungsweise ob man sie als Ressource begreifen möchte oder nicht. Hiermit haben ironischerweise sowohl Linke wie auch Rechte ein Problem. Linke, weil es so furchtbar kapitalistisch ist, Rechte, weil es bedeutet, dass Menschen permanent einwandern. In diesem Spannungsfeld zerreibt sich bislang noch jeder deutsche Versuch der Reform des Einwanderungsrechts.
Das Gute ist, dass sich auf diesem Feld beide Seiten bewegen und geliebte Positionen räumen müssten. Das hat das Potential für einen neuen überparteilichen Konsens, der sich tatsächlich auch von den Positionen der AfD abhebt und somit eine politische Auseinandersetzung der demokratischen Kräfte mit den Rechtsradikalen erlaubt, der in den aktuellen Schienen der Debatte nicht möglich ist.
Zudem ist es eine Forderung, die auf weitgehende Zustimmung in der Industrie stößt. Das ist wenig verwunderlich, da diese bekanntlich unter Fachkräftemangel leidet. Der andere Punkt, der in diesem Konsens zwingend adressiert und politisch flankiert werden müsste, ist das zu erwartende Lohndumping durch solche neuen Fachkräfte. Jegliche Migrationspolitik, die dies ignoriert - und das tun die liberalen Ansätze, die am ehesten in diese Richtung gehen, leider - wird das gleiche Zustimmungsproblem haben wie das Heizungsgesetz von Robert Habeck. Wo wir es gerade von den Grünen haben: zumindest bei ihnen würde die FDP hier bereits offene Türen einrennen.
Letztlich bedeutet dies einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik. Die unfruchtbare ständige Diskussion, ob es sich nun um Geflüchtete, Asylsuchende, „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder ganz normale Migranten*innen handelt, führt ohnehin zu überhaupt nichts und ist mangels rechtlicher Trennschärfe ohnehin wenig zielführend. Stattdessen macht es Sinn, die Menschen konkreter als Ressource zu begreifen, die wir schon alleine aus demografischen Gründen benötigen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, darauf zu verzichten, und können es uns genauso wenig leisten, so zu tun, als würden wir hier schlüsselfertige Fachkräfte erhalten, die wir all diese Tätigkeiten übernehmen lassen können, die wir selbst nicht ausüben wollen (Stichwort: Pflege).
Stattdessen werden wir nicht umhin kommen, diesen Menschen einerseits einen rechtlichen Weg zu einer dauerhaften Bleibeperspektive (ich verweise auf meinen Grundsatzartikel zum Pfad zur Staatsbürgerschaft) zu eröffnen, sie dafür zu ertüchtigen und auszubilden - was große Investitionen erfordert und angesichts des Lehrkräftemangels ein völlig ungeklärtes Problem darstellt - und dann auch die entsprechenden Forderungen an sie zu stellen, den in sie gesetzten Erwartungen gerecht zu werden. Cortana
Ein anderes wichtiges Feld ist die Migrationsdiplomatie. Auch hier ist die Europäische Union bereits seit vielen Jahren mit einem Flickenteppich von Maßnahmen dabei, ob es nun die Ertüchtigung der libyschen Küstenwache, das Abkommen mit der Türkei oder das Errichten von Lagern in Tunesien ist. Diese Politik und Diplomatie funktionieren natürlich im Rahmen der beschriebenen Pfadabhängigkeiten und Funktionslogiken und sind daher nur eingeschränkt geeignet, dem Problem Herr zu werden. Sie weisen allerdings bereits in die richtige Richtung. Ohne die Mitarbeit der Staaten an der europäischen Peripherie wird jegliche Lösung unmöglich sein.
In einem darüberhinausgehenden Schritt ist Migrationsdiplomatie auch in den Ursprungsländern der Geflüchteten erforderlich. Das Bekämpfen von Fluchtursachen muss von einer Sonntagsrede zu real existierender Politik werden. Anders ist es nicht vorstellbar, das Problem jemals in den Griff zu bekommen, wenn man nicht offen bereit ist, mit tödlicher Gewalt jeglichen Grenzübertritt zu verhindern - was mit einem liberalen und demokratischen Rechtsstaat vollkommen unvereinbar ist. Wer sich mehr für dieses Thema interessiert, sei auf meinen Podcast mit dem Experten Alexander Clarkson verwiesen.
Die Parteien müssen hier auch der Versuchung widerstehen, die Fehldeutungen von 1993 zu wiederholen. Der damalige Kompromiss löste ein bürokratisches und organisatorisches Problem, kein gesellschaftliches. Dies zu verwechseln öffnet Tür und Tor für die sogenannten Baseballschlägerjahre und normalisierte und legitimierte Gewalt gegen Zugewanderte. Dies darf nicht noch einmal passieren. Leider sind die Anzeichen hierfür nicht besonders günstig. Bereits jetzt hat sich die Rhetorik so weit nach rechts bewegt, das Gewalt gegen fremd aussehende Menschen als ein Indikator für Probleme und nicht als Problem selbst begriffen wird. Dem ist zwingend ein Riegel vorzuschieben. Plakativ ausgedrückt: Wenn Franz-Josef Wagner deine Rhetorik als zu rechtsradikal verurteilt, ist sie es vermutlich.
Das alles ist natürlich nicht überragend realistisch. Ich weiß auch nicht, ob es eine wünschenswerte Lösung darstellt. Ich möchte noch einmal betonen, kein Experte für diese Themen zu sein und keinesfalls Musterlösungen bereitstellen zu wollen oder können. Nach meinem Dafürhalten ist nur offenkundig, dass sich die Migrationspolitik aktuell in einer Sackgasse befindet. Die Ansätze, die wir debattieren und verfolgen, lösen das Problem nicht und geben den Feinden der Demokratie und des liberalen Rechtsstaates Zeit, Raum und Munition für ihr zerstörerisches Tun:
Die Migrationspolitik ist aber, egal ob es uns gefällt oder nicht, ein zentrales Thema unserer Zeit, das Wahlentscheidungen maßgeblich beeinflusst, Identitäten bildet und gesellschaftliche Diskurse prägt. Zudem ist es für die Lebensrealität von Millionen Menschen ausschlaggebend, auch wenn diese keine formellen Mitwirkungsrechte am politischen Prozess haben. Wir ignorieren dieses Problem daher auf eigene Gefahr.
Dir gefällt, was Stefan Sasse schreibt?
Dann unterstütze Stefan Sasse jetzt direkt: