Das Gespenst der Inflation ist zurück. Die Jahre 2022 und 2023 sahen die höchsten Inflationsraten der bundesrepublikanischen Geschichte. Ich muss ehrlich sagen, dass ich von diesem plötzlichen zweistelligen Einbruch überrascht worden bin. Nach fast zwei Jahrzehnten permanent niedrigster Inflationsraten trotz massiver zentralbanklicher Interventionen schien die alte Theorie, nach der die Erhöhung der Geldmenge durch die Zentralbank automatisch in höherer Inflation resultieren müsse, tot zu sein. Und doch denke ich nicht, dass ich bezüglich der Thematik komplett falsch gelegen habe. Ich will versuchen, das Phänomen und meine eigene Position dazu neu einzuordnen.
Meine Position bezüglich der Politik der EZB war stets gewesen, dass die einseitige Fixierung auf das Niedrighalten der Inflationsrate und ignorieren der realwirtschaftlichen Situation ein Fehler war. an dieser Position halte ich auch weiterhin fest. Die Inflationsrate in der Eurozone war lange Jahre schlichtweg zu niedrig und wachstumshemmend. Wenn ich früher für eine Aufgabe dieser strikten Politik plädiert habe, so hatte ich Inflationsraten von 2% bis 3%, vielleicht 4% im Sinn. Ich möchte das zu Anfang klarmachen, damit mir nicht jemand vorwirft, 10-15% Inflation gewollt oder verharmlost zu haben.
Das ist deswegen wichtig, weil der massive Einbruch hohe Inflationsraten ab 2022 ungeheuer schädlich war. Die Auswirkungen der Inflation selbst sind potentiell zerstörerischer als die der Arbeitslosigkeit. Das habe ich früher definitiv nicht so gesehen und in geradezu leichtfertiger Weise als Möglichkeit verworfen. Inflation in der Höhe, wie wir sie nun erlebt haben, bedroht viele Menschen im Land existenziell und ist auch eine gigantische Gefahr für den Erhalt der Demokratie.
Meine vorsichtige Formulierung hier dürfte bereits deutlich machen, dass ich nicht der Überzeugung bin, dass alle meine früheren Positionen falsch waren. denn die entscheidende Frage bei der Bewertung scheint mir zu sein, welche Ursachen die Inflation hat. Und ich bleibe nicht überzeugt davon, dass die EZB der Haupttreiber ist, wenngleich ich ihre Politik mittlerweile (aus anderen Gründen) wesentlich kritischer sehe als früher. Um es vereinfachend darzustellen, sehe ich zwei große Lager in dieser Debatte. Einerseits das Lager, dass die Inflation vorrangig auf ein Überangebot von Geld zurückführt, das weitgehend politisch gewollt von den Zentralbanken bereitgestellt wurde, und andererseits das Lager, dass die Inflation vor allem auf exogene Schocks zurückführt.
Regelmäßige Lesende dieses Blogs werden nicht überrascht sein, dass ich mich dem zweiten Lager zuordne. Die Frage, woher die Inflation stammt, was ist von mehr als nur akademischer Wichtigkeit, weil die Konsequenzen, die ergriffen werden müssen, direkt von dieser Ursprungsanalyse abhängen. Entstammt die Inflation einem Überangebot an Geld, das zu einer Überhitzung der Wirtschaft geführt hat, so muss die Zentralbank die Zinsen erhöhen und zu einer Kontraktion der Wirtschaft führen. Eine solche Forderung erhebt etwa Martin Wolf in der Financial Times; kritisiert wird sie hier von Stephan Schulmeister. Tut sie das allerdings nicht, so wäre diese Reaktion in höchstem Maße verheerend, weil sie dann zu den furchtbaren wirtschaftlichen Folgen einer hohen Inflation noch zusätzlich eine künstliche Rezession hinzufügen würde.
Wenn allerdings nicht die freigiebigere Geldpolitik der EZB die Ursache für die Inflation ist, was ist es dann? Die Antwort ist in Teilen ziemlich offensichtlich: der Beginn der Inflation korreliert einerseits mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und ist andererseits hauptsächlich durch eine Inflation der Energiepreise getrieben. Und Energie ist genau das Gut, das durch die russische Invasion schlagartig deutlich teurer wurde. Allein, diese Erklärung funktioniert zwar sehr gut für Deutschland, wo die Abhängigkeit von russischem Gas den Ukraine-Schock besonders harsch ausfallen ließ. sie erklärt praktisch nicht, wie ein von russischem Gas komplett unabhängiges Land wie die USA ebenfalls in eine hohe Inflation geriet. Ein monokausaler Erklärungsansatz taugt also offensichtlich nicht.
Dass allerdings der russische Angriffskrieg ein Treiber der Inflation war, wird von niemandem bezweifelt. Dieser Teil der Inflation allerdings war stets ein Übergangsphänomen. Die Sicherung alternativer Energiequellen und die Einstellung auf einen neuen Status quo brachten perspektivisch eine deutliche Absenkung der Energiepreisinflation wenn nicht auf das Vorkriegsniveau, so doch wenigstens auf ein deutlich niedrigeres als im Winter 2022. Damit bleibt die Frage, ob die restliche Inflation ebenfalls ein Übergangsphänomen ist oder strukturelle Ursachen hat. Es wäre unsinnig, strukturelle Ursachen völlig in Abrede zu stellen. Ich bin allerdings der Überzeugung, dass ein anderes exogenes Phänomen der hauptsächliche Treiber der Inflation und, und das ist die gute Nachricht, ein Übergangsphänomen ist: die Corona-Pandemie.
Es wird in meinen Augen immer noch unterschätzt, in welchem Ausmaß die Corona-Pandemie mittelfristig die weltweiten Wertschöpfungsketten durcheinandergebracht hat. Genauso wie Zinsänderungen der Zentralbanken wirkten diese Wertschöpfungskettenstörungen nicht sofort, sondern mit Verzögerung. Erst 2021 wurden die Effekte langsam sichtbar, die hierzulande durch eine insgesamt vergleichsweise gut gelungene Folgenabschwächung etwa durch das Kurzarbeitergeld Abgedämpft und weiter verzögert wurden. Bis all diese Änderungen sich durch das volkswirtschaftliche System hindurch gearbeitet hatten, war es letztlich 2022 - wo die Auswirkungen dann mit dem Ukrainekrieg zusammenfielen und den perfekten Sturm ergaben. Da die Pandemie allerdings 2022 de facto für beendet erklärt und sämtliche Störungsmaßnahmen mit einer entscheidenden Ausnahme – China - herausgenommen wurden, ist damit zu rechnen, dass die Inflationseffekte, die durch sie hervorgerufen wurden, mit derselben Verzögerung auch wieder aufhören werden. Das zumindest wäre die Hoffnung.
Dafür gibt es auch Anzeichen. Betrachtet man nämlich die Inflation in den USA, die ohne einen Russland-Schock auskommt und wesentlich von der Coronapandemie was getrieben war (und sicherlich auch von den beherzten und hochvernünftigen Stützmaßnahmen sowohl der Trump- als auch der Biden-Regierung, die bereits komplett ausgelaufen sind), so fällt auf, dass die Inflation bereits wieder absank, bevor die ähnlich wie in Europa durchgeführten Zinserhöhungen der Zentralbank Zeit zugreifen hatten. Mittlerweile ist die US-Inflation auf dem offiziell angestrebten 2%-Ziel.
Ein letzter Inflationstreiber wird in Deutschland praktisch überhaupt nicht diskutiert - die Gewinninflation. Während es besonders 2022 eine ganze Menge Hände Wringen und Bedenkenträgerei über eine mögliche Lohnpreisspirale gab, die von Anfang an nur den Fiebertraum neoliberaler Ordnungspolitiker*innen entspringen konnte, die geistig einfach nicht aus den 1970er Jahren herauskommen, ich fand in der Zwischenzeit eine sehr reale Inflation der Unternehmensgewinne statt. In den USA hat dieses Phänomen den treffenden Namen der Greedflation erhalten (das Gegenstück wäre die Wageflation). Auch das ist weitgehend unkontrovers (selbst die ifo bestätigt es): zu den gefährlichen Aspekten von Inflation gehört ja auch, dass es den Verbraucher*innen schwerer fällt als sonst schon, Preiserhöhungen wahrzunehmen und einzuordnen.
Davon machten sehr viele Unternehmen weidlich Gebrauch. Das gelingt besonders gut, weil die Menschen keine Ahnung haben, wie hoch die Inflation tatsächlich ist. Sie wissen zwar, DASS es Inflation gibt, sind aber furchtbar schlecht darin abzuschätzen, wie hoch sie konkret ist. Das ist auf der einen Seite natürlich politisch gefährlich, weil es einerseits zu einer Unterschätzung des Falls der Inflationsraten Wunsch zu einer Überschätzung der übriggebliebenen Gefahr führen kann. Auf der anderen Seite ist es wirtschaftlich gefährlich, weil die ohnehin nicht besonders hoch ausgeprägte Rationalität ökonomischer Entscheidungen dadurch überhaupt nicht mehr möglich ist. Wenig überraschend steigen zwar die Preise und Gewinne weiterhin, verharren die Löhne allerdings immer noch unter dem Niveau, das sie vor der Pandemie hatten.
Es bleibt allerdings für mich kein Zweifel daran, dass die Pandemie der mit Abstand größte Inflationstreiber bleibt. Der Grund dafür ist einfach: die Inflationsraten bewegen sich weltweit praktisch in Tandem. Die Geldpolitik der EZB betrifft aber nur den Euroraum, der Stimulus betrifft nur die USA, und so weiter. Jede Inflationstheorie muss daher zwingend weltweit gültig sein, solange die Inflationsraten so synchron sind.
Doch damit genug der Ursachenforschung. Die viel relevantere Frage ist ja, wie mit der Inflation umzugehen ist. Hier in Deutschland haben wir uns für eine Reihe ziemlich teurer Dämpfungsmaßnahmen entschieden. Diese zeigen auch, dass die Bundesregierung ein insgesamt relativ gutes Bild der Ursachen hatte, das sich mit meiner Analyse durchaus deckt. Was nämlich waren die beiden größten Maßnahmen? Einerseits der sogenannte Tankrabatt, eine Preisobergrenze auf Benzin und das brainchild der FDP, andererseits die sogenannte Gaspreisbremse, die aus Habecks Ministerium stammte.
Da die Energiekosten durch den kurzfristigen Schock des Ukrainekriegs die größten Inflationstreiber waren, machte die Konzentration auf diese beiden Teilbereiche am meisten Sinn. Der Tankrabatt befriedigte dabei vor allem die politische Lage der Konsumierenden im Land, während die Gaspreisbremse zwar einen ähnlichen Effekt verfolgte, aber in der Wahrnehmung weitgehend verpuffte (auch dank der völlig fehlgeschlagene Kommunikation um das Heizungsgesetz) und ihre größte Wirkung eher in der Industrie entfaltete, wo ja auch der Großteil der Mittel eingesetzt wurde. Beide Effekte zusammen reduzierten die Inflation in Deutschland spürbar und über dem Niveau von Nachbarstaaten, die auf solche Maßnahmen verzichtet hatten.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass der schlimmste Teil der Inflation hinter uns liegt und die Herausforderungen strukturbedingter Wachstumshemmnisse und des Klimawandels nun wieder erste Geige spielen werden. Wenn die Kritiker*innen der geldpolitischen Falken Recht behalten, rauschen wir nun allerdings in eine durch die Zentralbanken hervorgerufene Rezession. Die hohe Arbeitslosigkeit jedenfalls ist ein besorgniserregender Indikator in diese Richtung.
Ich befürchte, dass aus den Erfahrungen der vergangenen beiden Jahre die falschen Schlüsse gezogen werden werden. Die politische Debatte kapriziert sich zu sehr auf den Versuch einer Rückkehr zu einer Normalität, die letztlich nur als der Status quo ante definiert wird. Diese Fixierung auf die Vergangenheit, die sich etwa bei den Ordnungspolitikern*innen in besonderer Art und Weise feststellen lässt, ist allerdings angesichts der großen Herausforderungen, vor denen wir in Zukunft stehen, nicht sonderlich zeitgemäß. Genauso wie bei anderen liebgewonnenen Glaubenssätzen ist deswegen zu fragen, wie sinnvoll eine Rückkehr zum 2%-Ziel überhaupt sein kann und ob es nicht Sinn macht, neue wirtschaftspolitische Paradigmen zu entwickeln.
Weitere Links:
- Quantian: Der Zusammenhang von Inflation und Einschätzung der wirtschaftlichen Lage
- Marco Herack: Transportkosten aus China sind wieder auf Vorpandemie-Niveau
- Oliver Picek: Der fehlende Zusammenhang von Inflation und Lohnsteigerungen
- Jabberwocky: Why is inflation down?
- Jabberwocky: Food prices have dropped since the start of the year
- Jabberwocky: I wouldn’t count on a soft landing, folks
- Jabberwocky: Conventional wisdom finally agrees we’re going to have a soft landing. That’s why you should remain doubtful.
- Jabberwocky: Another look at interest rates and recession
- The Atlantic: With inflation on the mend, what will the Fed do next?
- Maurice Höfgen: Erzeugerpreise weiter gesunken, Richtung klar
- Chartbook: Now is a time of tough choices — including on the 2% inflation target
- Deliberation Daily: Der kommende Paradigmenwechsel – keine Angst mehr vor der Inflation
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