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Foto von Harry Dona / Unsplash

Lasst uns heute über Sex sprechen, genauer gesagt Sexarbeit. Die Pandemie lehrt uns derzeit ein Dasein ohne Körperkontakt, sodass Umarmungen und Händeschütteln teils wie aus einer längst vergangenen Zeit erscheinen. Umso wichtiger ist es, sich mit der Nähe auseinanderzusetzen – und da liegt das Thema Sexarbeit doch nahe. Besondere Brisanz gewinnt das Thema, weil einige Abgeordnete im Bundestag danach streben, ein Sexkaufverbot umzusetzen. Bisher gibt es ein temporäres Verbot, um Infektionsherde einzudämmen, jedoch argumentieren einige Mitglieder des Parlaments, dass es an der Zeit ist, Sexarbeit zu verbieten und „Aussteigerprogramme“ zu gestalten.

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/113000/Bundestagsabgeordnete-fuer-generelles-Sexkaufverbot

Grundlegend sehe ich das problematisch, weil es allein schon gegen Artikel 12 des Grundgesetzes verstößt. Freie Berufswahl bedeutet, dass man freie Berufswahl hat – klingt eigentlich einleuchtend. Ähnlich wie es Politiker gerne betonen, wenn sie von der Legislative/Exekutive in die Wirtschaft wechseln. Mit etwas mehr Pathos kann ich auf das Recht auf Selbstbestimmung verweisen, ein anerkanntes Menschenrecht. Es würde mir demnach sehr schwerfallen, ein Verbot käuflicher Sexdienstleistungen zu unterstützen.

Es ist auch gar nicht so, dass ich einige Argumente nicht verstehen könnte, denn das kann ich. Aus gesundheitlicher Perspektive akzeptiere ich auch, dass während der Pandemie strenge Vorgaben notwendig sind. Stutzig werde ich erst, wenn wir über andere Bereiche der Sexarbeit sprechen. Ich muss an dieser Stelle jedoch gestehen, dass ich gar nicht so viel Ahnung davon habe, falls wir davon absehen wollen, dass ich in jungen Jahren solche Dienste auch mal in Anspruch genommen habe. Für mich war das Anlass genug, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Schnell wurde klar, dass das Sexkaufverbot u.a. auf Twitter intensiv diskutiert wurde – und es dauerte gar nicht lang, bis ich auf Menschen aus diesem Arbeitsfeld traf. Um weiterhin ehrlich zu bleiben, wurde mir erst dabei klar, wie reflektiert und empathisch viele Betroffene mit der Thematik umgehen. Unterschiedlichste User berichteten von Erfahrungen und drückten ihre fundierte Meinung lautstark aus. Mein Interesse wuchs, ich hatte Lust auf mehr: mehr Details, mehr Erfahrungen und mehr Informationen.

So stieß ich auf den Blog der Edel-Prostituierten Salomé Balthus. Sie schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“ ein Online-Tagebuch, in welchem sie dargelegt, wie die Krise ihr Leben und ihre Arbeit beeinflusst. Scharfzüngig und reflektiert schreibt die Frau ihre Gedanken nieder, verknüpft dabei einen Hauch Verruchtheit mit empathisch-gesellschaftlichen Komponenten, indem sie viele Gedanken offenlegt und Spielraum für Fantasie und Anregungen lässt.

Sinnbildlich dafür steht der Eintrag über die Notwendigkeit des Telefonsexes, obwohl sie nachvollziehbar dargelegt, dass der Körper ihre Sprache sei und ohne Sprache kaum intime Interaktion gelinge. In ihrer eigenen Art beschreibt sie den Vorgang, aus ihrer Stimme heraus eine erotische Suggestion zu entwickeln, um dem Gegenüber echte Nähe zu zeigen und eine mentale Verbindung zu gestalten. Erotische Andeutungen verschwimmen mit Gedanken zur menschlichen Interaktion, sodass es Salomé Balthus kontinuierlich gelingt, den Leser anzuregen und Einblicke in ihr Leben zu gewähren.

https://sz-magazin.sueddeutsche.de/coronatagebuch/corona-telefonsex-prostitution-88677

Fasziniert von der intimen Atmosphäre und der Darstellung ihrer Berufsauffassung habe ich überlegt, inwiefern man sich noch besser in diesen Bereich einfühlen kann. So bin ich sehr dankbar, dass Lady Velvet Steel sich bereit erklärte, sich mit mir auszutauschen. Nach kurzen Absprachen verabredeten wir uns für ein Gespräch via Skype. Die im weiteren Verlauf folgenden Zitate entstammen einem Mitschnitt, den ich mit der Erlaubnis der Interviewpartnerin aufgenommen habe und der als Quellenangabe aufbewahrt wird.

Gut eine Stunde lang unterhielten wir uns über die verschiedensten Bereiche, so erfuhr ich, wie sie dazu kam, den Beruf einer selbstständigen Domina auszuüben und wie man sich auf ein Treffen mit einem Kunden vorbereitet. Das war durchaus erhellend, weil ich – wie oben eigenstanden – bisher nur wenig Gedanken bezüglich der Sexarbeit hatte. So kamen wir natürlich auch auf Argumente zu sprechen, die angeführt werden, um Sexarbeit zu stigmatisieren und regelrecht zu verdammen.

Es geht dabei unter anderem um das Image einer „billigen Nutte“, die die sonst nichts kann. Warum das so ist, wird schnell klar. Lady Velvet Steel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Niedrigschwelligkeit“ für den Beruf, indem sie darauf verweist, dass keine oder kaum Sprachkenntnisse notwendig seien, keine Zusatzqualifikationen erfüllt werden müssten und man sich gegebenenfalls an die nächste Ecke stellen könne, um Geld zu verdienen. Daraus schlussfolgert sie, dass unzufriedene Menschen in dieser Branche das oft mangels Alternativen wahrnehmen. Wenn das aber die Realität ist, muss klar sein, dass ein Sexkaufverbot dafür keine Abhilfe schafft. Der Akt stünde zwar unter Strafe, doch die Illegalität würde gerade dort wenig verhindern, da zur Niedrigschwelligkeit auch eine Anonymität kommen kann, bei der eine Überprüfung äußerst schwerfällt.

Sie zeigt zugleich eine pragmatische Haltung, mit welcher sie verdeutlicht, dass es nicht um eine Glorifizierung der Arbeit gehe, da es, wie in jeder Branche, positive und negative Beispiele gebe. Die passende Analogie dazu wäre, dass ich begeistert im Sternerestaurant speise, dabei dürfe man aber nicht vergessen, dass auch Currywurstbuden existierten. Ich empfinde diese Darstellung als sehr treffend, um zu zeigen, dass Sexarbeit vielen Branchen ähnlich ist und insofern auch nicht gesondert behandelt werden muss.

Bereits vor dem Gespräch hatte ich realisiert, dass es mir längst nicht mehr um eine bloße Argumentation gegen das geplante Sexkaufverbot geht, sondern es eine Möglichkeit war, etwas zu lernen und eine ganz andere Sicht auf die Gesellschaft und den Umgang miteinander zu entdecken. Deshalb sprachen wir auch ausführlich über die Offenheit unserer Gesellschaft. Schon als „Fifty Shades of Grey“ (2011) erschien, zeigte sich, dass eine Generation von Menschen sich befreit fühlte, endlich über sexuelle Gedanken und Fantasien zu sprechen, wenngleich es stellvertretend im Zuge des Romans ablief. Sie resümierte auch, dass die Gesellschaft nicht so offen sei, wie wir es uns wünschen würden. Natürlich haben wir viel erreicht und sind einen weiten Weg gegangen, sodass wir echte Erfolge erzielen konnten, aber der Weg ist eben noch nicht zu Ende.

Die Frage nach einem „Ende“ des Weges habe ich auch gestellt, wie sie sich also eine Zukunft der Sexarbeit vorstellt. Generell solle unterschieden werden, da es eine utopische Lösung gebe, in der die Menschen frei von allen Zwängen seien und SexarbeiterInnen Profis für „Intimität, Beziehungen und Sexualität“ und demnach „elementär“ für die Gesellschaft wären.

Anschließend kamen wir auf die realpolitischen Möglichkeiten zu sprechen und diese sind es, die eine Alternative zum Sexkaufverbot darstellen, da sie eben nicht eine freie Handlungsmöglichkeit kriminalisieren, sondern darauf abzielen, den Beruf abzusichern, anzuerkennen und vor allem Personen eine Chance zu geben, die den Beruf aus Alternativlosigkeit heraus ausüben. So erweitert sie das Verständnis der Menschenrechte, indem sie eben nicht nur auf Selbstbestimmung verweist, sondern fordert, dass Sexualität ein Menschenrecht werde. Es ginge nicht um „Nutten für alle“, sondern vielmehr darum, den Zugang zu einer ausgewogenen, konsensuellen Sexualität zu finden, indem Wissen, Informationen und Aufklärung für alle verfügbar gemacht werden sollen. Als ein Beispiel nennt sie die Sexualassistenz, die es Menschen mit besonderen Bedürfnissen ermöglicht, ihre Sexualität wahrzunehmen und auszuleben.

Für mich ist das ein unglaublich spannender Bereich, da ich bisher keinen Kontakt zu diesen Themen hatte, aber mir wurden dadurch ein Stück weit die Augen geöffnet, inwiefern dort Probleme vorhanden sein können, die Menschen in ihrer Würde einschränken.

Des Weiteren wird sinnvollerweise darauf verwiesen, dass Menschen aus der Sexarbeit vorurteilsfrei Schutz suchen können sollen, sollten sie sich in Gefahr- oder Gewaltsituationen befinden und vor allem auch Zugang zu den sozialen Netzen haben müssen. Wenn man dieses Recht auf Schutz vor Gewalt und Armut ausweitet, kamen wir schnell überein, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen eine echte Chance wäre, Menschen, die nicht in der Sexarbeit sein wollen, aber finanziell abhängig sind, eine Alternative zu ermöglichen, denn dann würde ich es tatsächlich aus meiner intrinsischen Motivation heraus betreiben und nicht, weil es leicht zugänglich ist. So finden wir reale Antworten auf die zweifellos vorhandenen Probleme in der Branche, indem wir sie als solche anerkennen und gemeinsam daran arbeiten, anstatt zu tabuisieren und zu verbieten. Wie können wir uns aber als Gesellschaft weiterentwickeln?

Ich empfehle dringend, das Corona-Tagebuch der Salomé Balthus zu lesen, um einen spannenden Einblick zu erhalten. Dennoch müssen wir uns natürlich mit allen Aspekten auseinandersetzen, so kann es hilfreich sein, die folgende Doku zur Sexindustrie zu sehen (https://crossingsmovie.org/). Neben Dokumentationen und literarischen Inhalten sollte man sich auch mit den rechtlichen Grundlagen beschäftigen. So gilt seit 2002 ein Prostitutionsschutzgesetz (https://www.prostituiertenschutzgesetz.info/), doch dieses ist weit davon entfernt, perfekt zu sein. Genau deswegen müssen wir uns mit der Thematik auseinandersetzen und vor allem uns selbst reflektieren. Sexualität und Sexualisierung umgibt uns täglich, öffentliche Debatten finden dazu jedoch nicht in dem Maße statt, wie es effektiv und konstruktiv wäre. Jeder von uns ist gefragt, seinen Kenntnisstand und seine Wahrnehmung zu hinterfragen und sich zu informieren, damit wir Menschen, die ehrliche Arbeit leisten, stärken und schützen können.

Ich bin aufrichtig dankbar für das spannende Gespräch mit Lady Velvet Steel und möchte zum Abschluss appellieren, dass ein Sexkaufverbot nicht die wahren Probleme behebt und damit sinnfrei ist.

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