„Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben.“ Der Mann, der solches schrieb, wusste nur allzu gut, wovon er sprach. Denn Viktor Frankl hatte ihn am eigenen Leib erprobt. Zwei Jahre seines Lebens verbrachte der Wiener Arzt und Psychologe in Theresienstadt, Auschwitz und Dachau. Als Einziger aus seiner Familie überlebt er den Terror der Nazis – und schrieb im Jahre 1946 ein bewegendes und lesenswertes Buch, in dem er diese dunklen Jahre seines Lebens reflektiert: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ ist der Titel. Und die These, die er darin ausarbeitet, lautet: „Es war allein der Wille zum Sinn, was die Lagerüberlebenden letzten Endes am Leben gehalten hatte.“
In einer der berührendsten Stellen seines Buches berichtet Frankl von einem Erlebnis, das ihm selbst die Kraft zum Überleben schenkte: „In einem letzten Aufbäumen gegen die Trostlosigkeit eines Todes, der vor dir ist, fühlst du deinen Geist das Grau, das dich umgibt, durchstoßen, und in diesem letzten Aufbäumen fühlst du, wie dein Geist über diese ganze trostlose und sinnlose Welt hinausdringt und auf deine letzten Fragen um einen letzten Sinn zuletzt von irgendwoher dir ein sieghaftes ,Ja!‘ entgegenjubelt.“ – Sinn, trotz allem. Ja, trotz allem.
Nicht nur Viktor Frankl berichtet von solchen Erfahrungen. Erschütternd ähnliche Bemerkungen findet man im Tagebuch der jungen niederländischen Jüdin Etty Hillesum, der nicht das Glück vergönnt war, das KZ zu überleben. Einen Monat vor ihrem gewaltsamen Tod notierte sie darin: „Leben und Sterben, Leid und Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, Verfolgungen, die zahllose Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin….Ich finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll.“
Das Ereignis des Sinns ist auch hier die Kraftquelle fürs Überleben; ein Ereignis, dessen Ausbleiben jedoch der Anfang vom Ende ist. „Sobald menschliches Dasein nicht mehr über sich selbst hinausweist, wird Am-Leben-Bleiben sinnlos, ja unmöglich“, stellt Frankl in seinem Buch fest. Weil dann das „sieghafte ,Ja!‘“ ausbleibt und die große Leere der Sinnlosigkeit den Menschen erdrückt. Leuchtet uns von nirgends mehr ein „Ja!“ entgegen, dann breitet sich Sinnfinsternis über das Land. Dann keimen Resignation und Depression in den Herzen der Menschen. Warum ist das so?
Will man auf diese Frage eine Antwort geben, kommt man nicht umhin, eine weitere, noch ungleich schwierigere Frage aufzuwerfen: Was ist Sinn? Was ist Sinn, dass ihm die Kraft eignet, ein Leben zu bewahren und – wie wir noch sehen werden – ein Leben zu erfüllen? Diese Frage ist deshalb schwierig zu beantworten, weil schon zahllose Antworten auf sie gegeben worden sind: Antworten, die teilweise dazu geführt haben, dass die Welt der Gegenwart durchaus von einer Sinnfinsternis heimgesucht wird – oder von einem „existenziellen Vakuum“ des Menschen, um nochmals Frankl zu bemühen. Anders jedenfalls lässt sich kaum erklären, wie es sein kann, dass heute jeder dritte Deutsche über psychische Probleme klagt. Das könnte daran liegen, dass wir den Sinn für den Sinn verloren haben.
Doch wie kann das sein? Wie kann das sein, wenn Frankl Recht hat und der „Wille zum Sinn“ tatsächlich unser Leben bestimmt? Ist dieser Wille womöglich erloschen? Das nicht. Das Problem liegt eher da, dass dieser Wille sich selbst nicht mehr versteht – dass er nicht mehr weiß, worauf er eigentlich gerichtet ist. Denn es herrscht in unserer Welt ein großes Missverständnis darüber, was es mit dem Sinn eigentlich auf sich hat. Der Grund dafür ist schnell benannt: Der Fisch stinkt vom Kopf her. Das heißt: Der Grund für die Sinnfinsternis der Gegenwart ist die Weise, wie wir heute denken: wie wir uns und unsere Welt interpretieren. Wir haben eine irrige Idee davon, was Sinn bedeutet.
Gemeinhin nämlich identifizieren wir Menschen der Moderne Sinnmit Zweck oder mit Nutzen. Wir meinen, sinnvoll sei nur das, was nützlich, zweckmäßig und profitabel ist. „Was mir nichts bringt“, so glauben wir, „ist auch nicht sinnvoll.“ So zu denken, liegt uns heute nahe, weil wir ganz unter dem Einfluss eines wirtschaftlichen Denkens stehen. Denn die Ökonomen lehren uns durchaus, sinnvoll sei nur das, was Vorteile in Aussicht stellt. Was mir keinen Nutzen bringt und nicht meinen Interessen dient oder meine Bedürfnisse befriedigt, erscheint aus dieser Perspektive völlig sinnlos.
Dieses Denken ist verhängnisvoll. Denn wo es waltet, wird es nachgerade unmöglich, den Sinn zu erfahren, von dem Viktor Frankl und Etty Hillesum sprechen. Deren Sinn hat nämlich nichts mit Nützlichkeit, Interessendienlichkeit oder Bedürfnisbefriedigung zu tun. Im Gegenteil: Die Sinnerfahrung, von der beide unisono aus dem KZ berichten, ereignet sich angesichts der totalen Absurdität. Kein Bedürfnis wird im KZ befriedigt, keinem eigenen Interesse gedient, auch kein Nutzen erbracht. Und dennoch ist da dieses Ja, das beide in der tiefsten Tiefe ihrer Seele anrührt. Wo nur kommt es her, wenn nicht aus Nützlichkeit oder Profit?
Dieses Ja ist die Frucht einer Begegnung. Wie ein Funke leuchtet es im Dunkeln auf, ohne dass diejenigen, die ihn gewahren, ihn gerufen oder gar entzündet hätten. Sinn, betonte Viktor Frankl unermüdlich, kann niemals erfunden, sondern immer nur gefunden werden. Oder in seinen Worten: „Sinn muss gefunden, kann aber nicht erzeugt werden.“ Wenn die englische Sprache die Wendung „to make sense“ anbietet, führt das auf die falsche Fährte. Wir können Zwecke setzen und Bedürfnisse erzeugen, wir können definieren, was uns nutzt oder „was bringt“. Aber all das lässt uns keinen Sinn erfahren. Sinn ist dadurch definiert, dass er dem Menschen widerfährt und nicht vom Menschen selbst gemacht ist. Sinn ist immer ein Geschenk. Unsere frommen Vorfahren hätten gesagt: eine Gnade.
Der Grund dafür ist folgender: Wann immer Sinn in unserem Leben aufpoppt, geht damit ein unbedingtes Ja einher: das Ja, das Hillesum und Frankl im KZ begegnete. Sinnvoll ist alles, was wir ohne Wenn und Aber bejahen können: vielleicht weil wir es schön finden, vielleicht weil wir es gut finden, vielleicht weil wir darin das Wahre oder Echte spüren. Dieses Ja ist aber nur tief und kraftvoll, wenn es dem anderen gilt und nicht dem, was wir selbst geschaffen oder uns gewünscht haben. Es ist wie bei jedem anderen Geschenk: Es dringt dann am tiefsten in unser Herz, wenn es vollkommen ungewünscht und ungerufen war. Wenn wir nur das bekommen, was wir wollten, und es deshalb dann bejahen, ist das Ja nicht unbedingt, sondern bloß relativ auf unseren Willen oder unser Wünschen. Das Ja aus Bedürfnisbefriedigung oder Wunscherfüllung – das Ja aus Nützlichkeit und Profitabilität – ist ein flaches Ja, das einen bestenfalls befriedigt, niemals jedoch in der Tiefe der Seele erfüllt.
Dafür braucht es ein anderes Ja: das Ja des Sinns, der auf uns zukommt oder uns „entgegenjubelt“. Dieses Ja wird nicht „gemacht“ und nicht „gestiftet“, sondern wahrgenommen. Es kommt nicht aus uns, sondern es wird uns zugesprochen aus der Welt, die uns begegnet. Alles, worauf es ankommt, ist, uns für diesen Zuspruch und Anspruch offenzuhalten – anspruchsvoll zu leben. Wer nichts an sich ranlässt und stattdessen immer nur seinen Wünschen, Interessen und Bedürfnissen nachgeht, wird früher oder später taub und blind für das Geschenk des Sinns.
Sinn ist eine Offenbarung, die sich dann ereignet, wenn wir etwas verstehen. Was aber heißt „verstehen“? Verstehen bedeutet, etwas in seinem Wesen zu erfahren. Das ist nicht zwangsläufig ein kognitiver Akt. Oft erschließt sich Sinn den Sinnen – oder auch dem Herzen. Antoine de Saint-Exupéry hatte schon Recht, als er im Kleinen Prinzden Fuchs sagen ließ: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Das Wesentliche aber ist der Sinn, den man verstehen kann – den zu verstehen bedeutet, das, woran er sich zeigt, zu bejahen: weil es gut ist, weil es wahr ist, weil es schön ist. Noch einmal: All das hat nichts mit subjektivem Empfinden zu tun, sondern es spricht aus der Tiefe dessen, was uns begegnet. Es geht uns etwas an, es nährt die Seele in uns, lässt uns wachsen, gibt uns Kraft zu überleben. Nicht weil es nützlich ist, sondern weil an ihm etwas Zeitloses und bleibend Gültiges sichtbar wird – etwas, das uns die Gewissheit gibt: So wie es ist, ist es gut. Sinn, so könnte man auch sagen, stellt sich immer dann in unserem Leben ein, wenn wir einverstanden sind: mit uns und mit der Welt im Ganzen. Warum? Weil etwas stimmt, weil etwas passt, weil etwas mit sich und der Welt im Einklang ist.
So hatten schon die alten Griechen die Erfahrung des Sinns gedeutet: als die Erfahrung der stimmigen Ordnung der Welt. Denn eines hatten sie begriffen: Nichts in dieser Welt besteht für sich allein. Sein ist In-Beziehung-Sein, Leben eine Symphonie. Gut ist diese Symphonie – und gut ist alles Seiende – immer und genau dann, wenn das Arrangement stimmt: wenn sich die vielen Einzelnen zu einem stimmigen Ganzen fügen.
Dieser Zustand, den die alten Griechen Harmonie nannten, ist das Geheimnis des Sinns: der Zustand, in dem das Ganze zu seinen Teilen und jeder Teil zum Ganzen vorbehaltlos „Ja“ sagen kann. Genau das war es, was Etty Hillesum und Viktor Frankl im KZ erlebten: Sie waren vereinzelt, doch sie wussten sich so ins Ganze dieses Lebens eingebunden und ans Ganze dieser Welt rückgebunden, dass zwischen ihnen und der Welt das große Ja erstrahlen konnte. Es stimmte – trotzdem. Es war gut – trotz allem. Das Leben hatte einen Sinn – wenngleich es völlig nutzlos, unrentabel und absurd war.
Sinn geschieht, wo etwas stimmt. Sinn ereignet sich, wo wir im Einklang mit uns selbst und mit dem Kosmos sind. Sinn strahlt auf, wo wir uns rückgebunden an das Ganze wissen. Haben wir uns dessen vergewissert, dann wird auch verständlich, inwiefern Viktor Frankls Satz die volle Wahrheit sagt: „Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben.“ Und wir können uns nun anschicken, eine weitere Frage aufzuwerfen: Wer oder was ist dieser Wille zum Sinn?
Eines müsste deutlich sein: Es ist der Wille zum Einklang, der Wille zur Stimmigkeit, der Wille zur Ein- und Rückbindung ins bzw. ans Ganze. Dieser Wille aber ist in Wahrheit gar kein Wille. Denn er ist nicht willentlich von uns gemacht oder erzeugt. Dieser Wille ist vielmehr die Grunddynamik unseres Lebens: die Dynamik, die – ob wir es wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht – in unserer Seele wirksam ist und uns dazu bewegt, das Leben, das wir sind, zu seiner vollen Blüte oder Schönheit zu entfalten. Diese Grunddynamik nannten einst die alten Griechen Eros – Liebesleidenschaft, Begeisterung. Eros, so lehrte laut Platon die weise Priesterin Diotima von Mantineia, ist eine verbindende Kraft. Eros strebt nach Einheit und Verbundenheit – nicht nach mystischer Nondualität, sondern nach einer stimmigen Harmonie, in der die vielen Einzelnen ganz sie selbst sein können und gerade darin das Ganze erblühen lassen.
Eros strebt nach Sinn. Eros – die Liebe zu leben – ist das, was Viktor Frankl den „Willen zum Sinn“ nannte. Und in der Tat ist er es, der unser Leben bestimmt. Denn wenn wir ehrlich sind, geht es uns in der Tiefe unserer Seele nur um eines: um das große Ja zum Leben – um das Ja, das alles Leben gutheißt und begrüßt; selbst noch im KZ, selbst noch angesichts des Todes, selbst noch, wenn das Leben schwer und tragisch ist. Sinn ist immer da und geht uns immer an. Es liegt an unserer permanenten Egozentrik, dass der Sinn für den Sinn in uns erloschen ist: der Eros, der nie nur bei sich, aber immer auch beim anderen ist.
Der Wille zum Sinn bestimmt unser Leben. Nicht der Wille zum Profit, wie es die Ökonomen lehren; nicht der Wille zur Macht, wie Nietzsche meinte; nicht der Wille zum Glück, wie der Dalai-Lama, Aristoteles und tausend andere auf ihren Spuren predigen. Der Wille, dem es um das Eigene geht – sei es Glück, Profit oder Macht –, wird uns niemals Sinn erschließen; selbst – oder gerade – dann nicht, wenn wir unseren Willen bekommen. Denn mit ihm bekommen wir immer nur uns selbst, nie aber das Große, Ganze: nie die blühende Lebendigkeit im Einklang mit dem Sein der Welt.
Sicher lässt sich auch mit jenem flachen Nutzen leben, den uns Macht, Glück oder Geld in Aussicht stellen. Ob man damit in den Stürmen eines Lebens überleben kann, bleibt aber fraglich. Und dass man das tiefe Glück einer erfüllten Seele ohne jenen tiefen Sinn des Einklangs mit der Welt jemals erleben wird, ist mehr als unwahrscheinlich.
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